Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 7
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Als wir aus den schmalen Gassen heraustreten, erstarre ich mitten in der Bewegung. Die Terrasse. Das Bild, das für mich nur vier Tage zurückliegt, für Anton noch in die Zukunft geschrieben steht, brennt sich in meinen Geist. Ich starre hinunter auf das von Heide überzogene Tal, als wäre es der offene Schlund einer Schlange. Violette und grüne Gewächse ziehen sich in einem dichten Teppich über die sich leicht wellende Ebene, zittern im Wind und ahmen die sich kräuselnde See nach. Nichts davon hat etwas Grausames, Erschreckendes an sich.
Aber wie schön die Aussicht auch sein mag, ich komm nicht umhin ein tobendes, blutendes Meer zu sehen, matt schimmernd und stinkend im Sonnenschein. Auch dort zitterte die Oberfläche, als hielte man ein scharlachrotes Tuch in den Wind. Ich erinnere mich an die Perfektion dieser grausigen Bemalung. In dunklen Bächen griff das klebrige Rot nach den Hügeln und besetzte sie. Das Blut erstreckte sich, soweit das Auge reicht. Fast bis in den Himmel, um dort die Sonne zu Boden zu zwingen, in ihrem üblichen Niedergang.
Unwillkürlich stütze ich mich an einem Steinpfeiler ab. An ihm rankt sich eine Kletterpflanze mit gelben Blüten hinauf, die ich nicht benennen kann. Neugierig reckt sie den zarten Kopf zur warmen Sonne und strahlt mit ihr um die Wette. Vor vier Tagen war die Blume gestorben. Ein totes Skelett, kalt und verloren, lehnte an dem Pfeiler und deutete anklagend ins Nichts, die Knochen und Glieder für immer erstarrt. Ich sah auf leere Höhlen, nicht auf tanzende Blüten, und bleiche, menschliche Überreste, anstatt auf wippende Blätter.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, während ich versuche, dieses lachhafte Bild zu verdrängen. Es wird noch lange dauern, bis die Kletterpflanze verblüht und der Tod Einzug hält, Seite an Seite mit Pest und Niedergang.
Anton lehnt sich entspannt gegen das strahlende Geländer. Die Helligkeit entlockt dem Sandstein einen besonderen Glanz und nimmt diesem Ort – eigentlich ein eigenes, kleines Paradies – seine Bedrohlichkeit. Der Duft von Blumen liegt in der warmen Sommerluft. Die winzigen Blüten scheinen einfach überall zu sein, schlängeln sich um die Pfeiler und schmiegen sich gegen das Geländer, das Anton davon bewahrt in die Tiefe zu stürzen.
„Du hättest es mir damals nicht zeigen dürfen“, platzt es aus mir heraus. Stirnrunzelnd sieht Anton mich an. „Du meinst was?“
„Was der Krieg aus dieser Stadt gemacht hat. Es ist schlichtweg …“ Ich verstumme. Sich über die Vergangenheit zu echauffieren, ist pure Zeitverschwendung. Für Anton ist noch nichts davon geschehen.
Seine Brauen rücken dicht zusammen. „Kampf bleibt Toren vor. Wir sind sicher.“
Ungläubig sehe ich Anton an. Das kann er doch nicht wirklich glauben!
Aber Anton wirkt so sicher und zuversichtlich, wie er sich so gegen eine der Säulen lehnt und auf die bunte Heide hinabschaut, dass ich einfach schweige. Der Krieg ist eine Gefahr, aber nicht unmittelbar. Ich kann mir kaum vorstellen, wie desillusionierend es für Anton gewesen sein muss, dass sein unzerstörbares Reich gefallen ist und die Männer hinter die Mauer kamen.
Die Sonnenstrahlen fangen sich in seinen braunen Haaren und geben ihnen einen honigfarbenen Glanz, während Anton mir ein kleines Lächeln zuwirft.
„Schön?“
Die Umgebung? Sie ist … überwältigend. Ich hebe die Schultern. „Es ist ganz passabel.“ Schön wird dieser Ort erst, wenn ich die grausigen Bilder vergesse. Und das kann ich nicht. „Ist das der hübscheste Ort der Stadt?“
Anton legt den Kopf leicht schief und zieht die Augenbrauen zusammen. Ich weiß nicht, was geschehen ist, bevor ich ihm das erste Mal begegnet bin, aber was auch immer es war, hat eine unbeschreibliche Ernsthaftigkeit auf sein Gesicht getrieben. Der Junge hier hat kaum etwas mit Anton gemein. Er ist nur das: ein Junge. Ein Junge ohne Erfahrung, Ernsthaftigkeit oder tieferem Charme. Wenn ich mir versuche auszumalen, wie er mich hier zusammenstutzt, komme ich nicht umhin, leise zu lachen. Was Anton wiederum mit einem unendlich lachhaften Heben der Augenbrauen quittiert.
Es ist schwer, den Tatsachen ins Auge zu blicken, aber ich habe Anton verloren in dieser Nacht vor drei, vier Tagen. Er kann hier vor mir stehen, aber ihm fehlt das, was ihn ausgemacht hat. Sein Charisma. Sein offensichtlicher Intellekt. Dieser Junge, dieser Anton, kann mir nicht das Wasser reichen. Nicht, dass Anton als mitteloser Alchemist dazu in der Lage gewesen wäre. Aber er war immerhin nützlich. Der Junge neben mir? Er kann kaum meine Sprache sprechen und ist mehr von Schmetterlingen als von mir fasziniert.
Ich habe das Gefühl, dass Anton versucht, vernünftig mit mir zu sprechen. Will er mir etwas über diesen Ort hier sagen? Sich über den sonnigen Nachmittag unterhalten? Mich fragen, warum ich ihm gegenüber von Tag zu Tag reservierter werde?
Die Sprachbarriere hält ihn davon ab. Vermutlich ist es besser so. Ich kann auf ins Nichts führende Gespräche verzichten, bei denen ich nicht einmal sicher weiß, ob mein Gegenüber mich wirklich versteht.
Mit einem sonnigen Lächeln auf den Lippen schwingt Anton sich auf die kleine Mauer und lässt die Beine nach unten baumeln. Wie alt mag er sein? Zwanzig? Einundzwanzig? Seine Gestik erinnert an einen Zehnjährigen. Dieses begeisterte Strahlen, die Leichtigkeit seiner Bewegungen.
Anton sagte mir, er wäre durch einen kleinen Trick vom Schlachtfeld geflohen. Durch einen Schnitt quer über den Oberkörper, der es Anton unmöglich machte, weiter zu kämpfen, aber nichts als einen Blutzoll von ihm forderte.
Je länger ich Anton betrachte, desto mehr bezweifle ich, dass er bereits um sein Leben gekämpft hat. Dieser zähe Schatten ist verschwunden, der stets unter seiner Gelassenheit ruhte. Diese Gewissenhaftigkeit, seine Wortgewandtheit, mit der er sich ohne tiefere Probleme in meiner Zeit hätte artikulieren können.
Es ist absurd, mehr als das, geradezu krankhaft. Aber ich vermisse Anton, während ich neben ihm stehe. Ich vermisse seine bissige Art, sein kleines Lachen, das er mir wie zur Belohnung geschenkt hat. Wie er sich an die Wand eines jeden Gebäudes lehnte. Diese Lässigkeit, die ihn so sehr von Achim unterscheidet. Unterschieden hat. Nein, falsch. Unterscheiden wird.
Noch etwas, das absurd ist. Ich kenne Anton, aber er mich nicht. Verrückte Welt. Ich sehne mich zurück in die trügerische Sicherheit der Zahlen und Statistiken. Von mir aus auch zu dem ein oder anderen Juristen. Wenn es sein muss, diskutiere ich noch einmal mit Achim über unseren Ehevertrag.
Ich würde alles tun, um mich davon abzulenken, dass ich Anton ebenso sehr habe, wie ich ihn verloren habe.
„Prinzessin“, stößt er hervor und verdreht die Augen. Es klingt abfällig. Der Tonfall passt nicht zu Anton.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe in den Himmel. Er ist erschreckend blau. Wie das Eis, das die einfachen Menschen essen. Himmelblau, Schlumpfeis. Es gehört nicht zu dem, womit man jemanden wie mich verköstigt. Egal in welchem Alter. Nach diesem himmelblauen Eis hatten die Kinder auf den Straßen blaue Lippen, manchmal war die Farbe bis zu der Nasenspitze verschmiert. Sie haben gelacht, obwohl sie vollkommen lächerlich aussahen. Und meine Kindermädchen fanden diesen unschuldigen Anblick zu nahezu jeder Zeit „herzallerliebst“. Jedem das, was ihm gefällt.
„Mir würde auch einiges in den Sinn kommen, wie ich dich nennen könnte, und nichts davon wäre schmeichelhaft“, seufze ich. „Du solltest deine Vokabeln lernen, damit wir uns eines Tages angemessen unterhalten können.“ Ein Schmetterling lässt sich neben mir auf einer der Kletterpflanzen nieder und faltet die blütenweißen Flügel wie zum Gebet. Mein Herz zieht sich zusammen, während ich Anton beobachte. Das hier ist nicht mehr Anton. Und ich werde nie wieder den Luxus genießen können, mich in seiner Gegenwart aufzuhalten „Es ist kaum auszuhalten mit dir!“, platzt es aus mir heraus. „Ich kann nicht einmal anständig mit dir sprechen.“
Anton schenkt mir ein Lächeln. „Schlimmer als Prinzessin“, stellt er nüchtern fest. Augenrollend bringe ich Abstand zwischen uns. Er kann nichts dafür, dass wir in dieser Situation stecken. Er hat nur an einer Sache Schuld: und zwar daran, dass er gestorben sein wird. Anstatt zu laufen und weiter zu hoffen. Nein, er hat sich einfach ergeben. So wie es jeder Feigling getan hätte.
Wie konnte ich sein Verhalten in diesem Moment nur verstehen? Ich hätte Anton anschreien müssen, damit er verschwindet. Ich hätte ihn mit mir zerren sollen. Wenn ich Anton einfach nicht losgelassen hätte, hätte ich ihn mit in meine Zeit nehmen können?
Wenn ich es ihn jetzt aus dieser Situation reißen könnte, was würde mit der Zeit geschehen, die wir bereits miteinander verbracht haben? Ich brauche jemanden, der mich mental unterstützt in dem Irrsinn zwischen meiner selbstverliebten Zimmerkameradin und dem engmaschigen Ehevertrag.
„Ich bin mächtiger als jede Prinzessin, die du dir ausmalen kannst“, berichtige ich ihn.
Anton zuckt die Achseln. Mit dieser einen Geste ist sein unbesorgtes Lächeln der ernsten Miene gewichen. Fast verbissen ernst, aber mit Sicherheit nicht tiefgründig seriös wie ich ihn kannte. Bevor er sich den Kopf hat abschlagen oder auf andere Weise meucheln lassen.
Anton rollt die Augen und stützt sich auf der kleinen Mauer ab, schwingt die langen Beine über den Stein und lässt sich zurück auf die Terrasse fallen. Katzenhaft elegant. Wenigstens das hat er behalten.
Seine Schritte haben sich verändert. Sie sind schwingender als ich sie kannte, er nimmt die Arme mehr mit. Wenn er mal lacht, dann lacht er lauter.
Ich weiß nicht, was ich dafür geben würde, damit Anton wieder bei mir ist. Würde ich auf einen Handel mit dem Grauen Mann eingehen? Könnte ich ihm meine Entscheidungsgewalt für eine Situation überlassen, die jetzt noch in den Sternen steht?
Was wenn mich die Folgen dieses Pakts ruinieren? Wenn der Graue Mann meinen Ruf in Anspruch nimmt bei einer Verhandlung, von der ich mir nicht nur Geld und Macht verspreche, sondern mindestens positive Schlagzeilen? Die ich dringend nötig habe. Allein der Gedanke an die endgültigen Ausmaße meines Fehlens bei diesem Ball… Mir wird einfach nur schlecht.
Kann ein einfacher, lächerlicher Alchemist es wert sein, dass ich für ihn viel aufs Spiel setze? Meinen Ruf, mein Vermögen, meine Verhandlungspartner?
Anton hat die Hand an eine der rauen Steinsäulen gelegt. Der blütenweiße Schmetterling flattert auf. Nicht um zu verschwinden. Er lässt sich auf Antons schmalen, feingliedrigen Fingern nieder, breitet die Flügel aus, als hauchte er einen zarten Kuss auf Antons Haut. Ein leises Lächeln umspielt seine Lippen. Anton wirkt fast schon naiv glücklich. Und das nur, weil ein Schmetterling sich auf seiner Hand niedergelassen hat.
Sein feines Gespür hat Anton nicht verloren. Fragend dreht er sich zu mir um, muss meine Blicke gespürt haben, und hebt ganz langsam den Arm. Als würde eine sanfte Brise durch die zarten Flügel gleiten, beben sie. Dünne Federn im Wind. Wie der hauchzarte Stoff meines Nachthemdes. Nach und nach beruhigt sich das Flattern. Mit dem schmalen Rüssel tastet der Schmetterling über Antons Finger, lässt zu, dass ich ihn näher betrachte.
Menschen wie ich sehen Schmetterlinge oft. Sie werden bei Festivals fliegen gelassen, dienen als schmückendes Beiwerk in Galerien, sind hübsche Details auf Festtafeln – selbstverständlich im toten Zustand – und gehören in jedes Tropenhaus, das man aus Wohltätigkeitsgründen besucht. Oder um sich wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.
Ich habe zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten von blauen Wundern über winzige orange Tupfen, die taumelnd durch die Lüfte wankten. Nie wirkte eines dieser Insekten so sanft, so nahbar und zart wie das, das sich auf Antons Handrücken der Sonne entgegenstreckt, abwechselnd Küsse verteilt und die Flügel zum Gebet faltet.
„Schön?“, fragt Anton mich. Möchte er wissen, ob der Schmetterling mir gefällt? Ratlos lehne ich mich neben Anton und strecke die Finger nach dem Insekt aus.
Ein Ruck fährt durch dieses winzige Wesen. Es ist, als würde Wind in die Segel fahren. Er richtet die Flügel auf und lässt sich davontragen. Resigniert senke ich die Hand. Anton verzieht leicht den Mund. Wenn er richtig mit mir sprechen könnte, ich bin mir sicher, er könnte einen Kommentar nicht unterdrücken.
Schweigend sieht Anton dem kobaltblauen Himmel entgegen. „Wann dein nach Hause?“
„Wann ich nach Hause muss?“, vergewissere ich mich. Anton zuckt wegwerfend die Schultern. Was ist zwischen uns geschehen, was wird geschehen, damit er mich mit einem überschwänglichen Kuss begrüßt und mich wehmütig verabschiedet? Ich habe das unumstößliche Gefühl, dieser Anton hier könnte problemlos ohne mich leben. Ja, manchmal kommt es mir fast vor, als wäre ich seine ganz eigene Fußfessel. Dabei kann ich es mir nicht aussuchen. Ich wollte nicht in der Zeit springen können und noch weniger liegt es in meinem Interesse, immer wieder in dieses stinkende Zeitalter zurückzukehren. Zu dem immer gleichen Jungen, der nicht mehr er selbst ist.
„Bald. Du kannst dich freuen. Bald bist du mich los.“ Was sagte Anton? Elf, zwölf Besuche? Drei davon sind vorbei. Mir läuft die Zeit davon. Wenn ich Anton retten möchte, brauche ich einen möglichen Weg. Schnell. Ohne die Hilfe meiner Assistenten. Sollte ich meine Berater mit dieser Zeitreiseproblematik konfrontieren, sie würden mich in eine geschlossene Klinik einweisen. Zeitreisen sind nicht förderlich für einen tadellosen Ruf. Zeitreisen existieren nicht.
Wieder ein Schulterzucken. In einem Anflug seiner späteren Gedankenversunkenheit, sieht Anton hinab von der Terrasse, beobachtet die Heide, als könnte er ebenso wie ich das Blut darüber schimmern sehen. Wie viele Menschen müssen ihr Leben in einem aussichtslosen Kampf gelassen haben, damit das Blut in Strömen fließen konnte?
„Warum bist böse? Ich nichts gemacht!“ Er richtet die Worte nicht an mich, er spricht mit den Hügeln unter uns.
Ich antworte ihm trotzdem. „Ich bin nicht erbost. Lediglich frustriert. Du magst es dir nicht vorstellen können, aber wir werden gute Freunde sein.“ Freunde. Ich habe ihm das schon so oft erklärt. Wir sind Freunde. Wir sind Bekannte. Wir sind Geschäftspartner, Verbündete, Diskussionspartner, Dulder. In den meisten Fällen schweigt er stoisch. Jetzt seufzt Anton tief und bietet mir seine Hand an.
Ratlos ergreife ich sie. „Und was jetzt?“
„Freunde“, sagt er fest und schenkt mir ein einnehmendes Lächeln. „Tolle Freunde.“ Er… er ist einfach unmöglich.
Ich versuche mein Lachen zu unterdrücken, es blubbert trotzdem kribbelnd in mir hinauf, fängt sich in meiner Brust und wärmt das Herz.
„Genau. Wir sind tolle Freunde.“
Er drückt meine Hand. Es wäre Zeit, sie wieder loszulassen. Anton schert sich nicht darum. Die Anspannung zwischen uns ist noch immer da, sein Gesicht noch immer so weich und letzten Endes unbekümmert, dass es schon wehtut. Die Welten, in denen wir leben, könnten nicht verschiedener sein. Nicht nur, weil wir in verschiedenen Jahrhunderten geboren wurden.
Als wäre er um gute Laune bemüht, deutet Anton hinab auf die blühende Heide. Ganz so, als könnte ich irgendwo anders hinsehen.
„Ja, es ist wunderschön. Auf jeden Fall eine willkommene Abwechslung zu den Bürokomplexen, die ich kenne.“ Anton rümpft die Nase. Ich bin fest davon überzeugt, dass er nicht weiß, was ein Bürokomplex ist. „Wenn ich das nächste Mal komme, wirst du meine Sprache beherrschen, oder?“
„Suche Lehrer“, grinst er. Ich seufze leise auf. So jemanden wird er in seinem Jahrhundert nicht finden.
„Viel Glück dabei.“ Mein Blick schweift in die Ferne. Zart wie eine Nadel ragt die Kirchturmuhr zwischen den mittelalterlichen Gemäuern auf. Fast drei. Ich bin schon viel zu lange hier.
Beinah schüchtern berührt Anton die Phiole, die er mir selbst geschenkt hat, eingefasst in feinstes Gold, das sie umrankt wie Efeu. „Bis nächstes Mal.“
Ich kann ihn nur ansehen. Ja, wenn alles gut geht, dann sehe ich Anton noch acht Mal. Und dann? Dann werde ich eine Entscheidung fällen müssen, die mir nicht gefallen wird.
„Bis zum nächsten Mal.“ Es fühlt sich nicht an, als würde ich demnächst springen, trotzdem hebe ich zum Abschied die Hand. Ich kann Antons Anwesenheit keine Sekunde länger ertragen. Das hier ist nicht Anton. Dabei sieht er aus wie Anton. Dabei ist er wie Anton. Aber er ist nicht Anton.
Die Sonne fängt sich in seinem braunen Haar. Seine braunen Augen strahlen in ihrem eigenen Feuer. Das ist gleichgeblieben.
Anders als der Anton, in den ich mich … für den ich tiefe Sympathien hegte, steht dieser Anton leicht gebeugt, hat die Schultern minimal nach oben gezogen. Ihm fehlt die Gelassenheit.
Der Duft von Blumen und Heide wird mit jedem Schritt zurück in die mittelalterliche Stadt mehr überlagert. Nicht von angenehmen Gerüchen. Der Gestank von Fäkalien und Fäulnis steigt mir in die Nase.
Den Blick zum Himmel vermeidend aus Angst vor Käfigen, die noch lange nicht angebracht wurden, eile ich durch die Straßen. Hier ist keiner meiner Bodyguards an meiner Seite, keiner der Securitymänner. Nicht einmal ein lausiger Chauffeur, der sein Leben für meines geben könnte. Mein hässlichstes Nachtzeug ist in diesem Jahrhundert ein verboten hübscher Aufzug.
Die Augen aller Passanten ruhen auf mir. Ich liebe es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Solange man mich mit Bewunderung betrachtet, mit Neid, Ehrfurcht, nicht mit Gier. So wie jeder einzelne in dieser Epoche.
Leise knarzt das Holz einer nahestehenden Tür. Die betagte Lady sieht mich aus fast schwarzen Augen an, die Falten dunkle Nähte in ihrem Gesicht. Sie schenkt mir ein zahnloses Lächeln, den Blick auf meinen Hals geheftet. Die Phiole fängt das Sonnenlicht und bricht es in sich selbst. Es wirkt, als hätte ich einen Regenbogen in dem dünnen Gefäß gefangen.
Das erste Mal in meinem Leben lege ich eine Hand über ein Schmuckstück, um es zu verbergen. Hier bringt es mir keine Bewunderung ein, höchstens Probleme. Und Anwälte kennen sie zu dieser Zeit nicht. Ganz zu schweigen davon, dass niemand sich mit einem Fall befasst, der sich im tiefsten Mittelalter abspielte.
Ziellos wandere ich über die grob gepflasterten Straßen und durch die Matschwege, die meine Schuhe ruinieren. Ich will nicht wissen, was neben der Erde die „Straße“ ausmacht. Zügig biege ich um die nächste Ecke und verharre mitten in der Bewegung.
Eine Hand schießt in mein Sichtfeld. Erschrocken zucke ich zusammen. Hitze, Brennen frisst sich durch meinen Unterarm. Fassungslos starre ich auf den Schnitt, der sich über meine Haut zieht. Vom Handballen bis vier Finger breit unter der Ellenbeuge. Mein Herz rast. Ich muss den Verstand verlieren. Dieser Schnitt, er erinnert mich an die Wunde, die plötzlich auftauchte. Aus dem Nichts. Als ich mit Achim durch den Rosengarten spazierte.
Die Gestalt vor mir räuspert sich. Doch anstatt zu fliehen, bietet der Mann mir ein Taschentuch an. Eine dunkle Kapuze verbirgt sein Gesicht, der Stoff des langen Mantels fließt bis zum Boden. Seine Finger werden von schwarzen Lederhandschuhen verdeckt.
Ein seltsamer Anblick. Noch absurder in Anbetracht dessen, dass auf dem Daumen des Handschuhs ein verschnörkeltes, aufgesticktes S prangt. Meine Brauen rücken dichter zusammen. Ein Markenprodukt. Mitten im Mittelalter.
Mein Blick zuckt nach oben. Der Schwarze Mann schüttelt kaum merklich den Kopf. Ich sollte mich fürchten. Ich sollte schreien und davonlaufen. Selten fühlte ich mich sicherer. Blut tropft zu Boden. Ich fühle mich geborgen. Blut tropft zu Boden. Ich sollte verschwinden.
Mit raschen, routinierten Griffen bindet der Fremde mir das Taschentuch um den Unterarm. In seiner freien Hand hält er ein Schweizer Taschenmesser. Eine zarte, rote Spur zieht sich über die kurze Klinge. Mir bleibt das Herz stehen.
Ich bin nicht die Einzige, die in einer Zeit festsitzt, in die sie nicht gehört.