Читать книгу Zehn Sekunden vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 9
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Ich warte fünf Minuten in dem Zimmer, bis ich mir sicher sein kann, dass die Dame verschwunden ist. Dann wandere ich durch die Korridore ohne ein ersichtliches Ziel. Ich müsste einen Dialog mit meinen Beratern suchen. Bedauerlicherweise behalten meine Eltern sie bei sich. Jeder Tag, den ich von den Geschäften abgeschnitten bin, treibt mich ein Stück mehr in den Wahnsinn.
„Chrona, allein unterwegs?“
Es braucht nur seine Stimme und ich bleibe wie erstarrt stehen. Er ist eine der Personen, denen ich nicht begegnen wollte. Der einzige Mann, der mir ausreichend Angst macht, damit ich mich in meinem Zimmer verbarrikadieren und es nie wieder verlassen möchte. Der junge Schulleiter.
Sein Lächeln wirkt aufrichtig und mindestens ebenso einschüchternd. Er lehnt neben einem Bildnis von Nero, der triumphal die Faust in die Höhe reckt. Unter ihm tobt die Menge. Ein mächtiger Mann, der seiner Macht zum Opfer gefallen ist.
„Sir.“ Wie beim letzten Mal bricht meine Stimme.
Das Lächeln rutscht ihm von dem durchaus attraktiven Gesicht. „Du hattest einen angespannten Tag?“, fragt der Rektor mich. Er besitzt den Anstand, nicht auf mich zuzukommen. Würde er nur einen Schritt auf mich zukommen, ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde. Rennen? Schreien? Versuchen die professionelle Fassade aufrecht zu erhalten?
„Bis vor wenigen Minuten war er angenehm“, lüge ich glatt und falte die Hände. Suche die innere Mitte. „Danke der Nachfrage. Ich bin auf der Suche nach meiner Mitbewohnerin.“
„Adriana ist momentan nicht im Haus.“ Seine Stimme hat etwas Schauderhaftes an sich. Er muss nur flüstern und schon scheint die ganze Welt ihn zu hören. Die Autorität geht in Strahlen von ihm ab. Er, an einem Konferenztisch, wäre mein Untergang.
„Dann werde ich wohl den Garten aufsuchen.“ Mit steifen Schritten schiebe ich mich an ihm vorbei.
„Es ist sehr stürmisch. Es wäre besser, wenn du drinnen bliebest.“
„Wollen Sie mir verbieten, das Gebäude zu verlassen?“
Entspannt lehnt der Rektor sich neben den triumphierenden Nero, ein undurchsichtiges Lächeln auf den Lippen. „Nein, natürlich nicht. Ich sorge mich lediglich um das Wohl meiner Studenten. Insbesondere um das dieser, die sich nicht helfen lassen wollen.“ Mit einer erschreckenden Sanftheit berührt er das Ölgemälde. Nicht eine Sekunde bricht er den Blickkontakt. „Die, die ihre Ehre über alles stellen …“ Seine Finger gleiten zu Neros Kopf und überdecken ihn. Ein enthaupteter Mann, dem die Menge zujubelt. „… und dabei nicht bemerken, dass genau diese Ehre sie ins Grab tragen wird.“ Lautlos fällt seine Hand hinab. Das Herz schlägt mir bis zur Kehle. Ist das eine Drohung?
„Könnten Sie das bitte spezifizieren?“
„Muss ich das?“ Ich beiße mir auf die Zunge und versuche krampfhaft, nicht dem unsichtbaren Druck seiner bloßen Präsenz nachzugeben. In meinem Leben bin ich vielen beeindruckenden Persönlichkeiten begegnet. Menschen, von denen es ein einziges Nicken braucht, damit man sich ihnen zu Füßen werfen will, oder die Worte geschickt genug instrumentalisieren können, dass ein einziger Satz genügt, um ganze Familien und Städte von einer offensichtlichen Lüge zu überzeugen.
Sie alle scheinen ein Nichts zu sein gegen ihn. Dieser Mann steht nur da, tut nichts, lächelt durchaus freundlich, und es stellt mir alle Nackenhaare auf. Beim besten Willen, ich kann nicht nachvollziehen, warum er sich von den Börsen fernhält. Er würde sie in seine Hand zwingen, ehe irgendwer begreift, was vor sich geht.
„Ich danke Ihnen für Ihre Sorge. Es erfüllt mich mit Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass sie unbegründet ist. Ich bin durchaus in der Lage, auf mich achtzugeben“
Der Rektor nickt. „Das ist wohl wahr. Ebenso wie deine Fähigkeit, deine Hausarbeiten von Adriana verfassen zu lassen.“
„Bitte?“ Um ein Haar wäre mir alles entglitten. Mit einem kontrollierten Atemzug bewahre ich meinen Stolz. Über uns flackert leise eine Lampe. Sie scheint sich über meine Fassungslosigkeit zu amüsieren.
Die Mundwinkel des Mannes vor mir zucken leicht. „Adrianas Hilfsbereitschaft wird sich vorerst nicht auf deine Noten niederschlagen. Ich habe mit den jeweiligen Professoren gesprochen und es wäre ein leichtes, es dabei zu halten, dass Adriana deine Aufgaben übernimmt.“ Das Aber hängt greifbar in der Luft.
„Versuchen Sie, mich zu erpressen?“ Irgendwie gelingt es mir, ihm ins Gesicht zu lachen.
Seine Augen beginnen amüsiert zu glitzern. „Nein. Solche Methoden liegen mir fern.“ Sagte der Mann, der neben Nero steht und ähnlich triumphierend wirkt wie der gestürzte Kaiser.
„Passen Sie auf, dass Ihnen Ihr Hochmut nicht auf die Füße fällt.“ Woher ich den Mut nehme ihm zu widersprechen? Ich weiß es nicht.
Der Rektor, zeitlos jung, lacht schallend auf. Dieses Geräusch erinnert mich an rasselnde Ketten und verzweifelte Schreie. An tollende Kinder und singende Vögel. An das süße Plätschern des Baches und an das tosende Grölen einer enttäuschten Menge.
Ich kämpfe gegen das Zusammenzucken an.
„Das sagst du mir?“
„Ich weiß, wovon ich spreche“, sage ich.
„Tust du das?“ Sein Lächeln wird gönnerhaft.
„Ja, das tue ich.“ Meine Selbstbeherrschung wird spindeldürr. „Wenn Sie mich entschuldigen würden.“ Entschlossen drehe ich dem Rektor den Rücken zu. Die Glühbirne über mir flackert stärker. Gespenstisch pfeift der Wind um die Winkel des Gebäudes. Ich bilde mir ein, dass er noch lauter, noch heftiger geworden ist.
„Geh nicht darauf ein.“ Seine ruhige Stimme lässt mich zusammenfahren, autoritär genug, damit er sie nicht erheben muss, obwohl ich inzwischen vier, fünf Meter zwischen uns gebracht habe. Alles in mir schreit danach, ihn zu ignorieren. Es … es gelingt mir einfach nicht.
„Was meinen Sie?“ Der Rektor übt eine ähnlich düstere Faszination auf mich aus. Wie der Schwarze Mann in der Vergangenheit.
Der Rektor schenkt mir ein bedauerndes Lächeln. „Wenn du nicht auf die Forderung des Grauen Mannes eingehst, werde ich durchsetzen, dass Adriana weiter für dich die hervorragenden Leistungen absolviert. Niemand wird es erfahren.“ Er hat sich von der Wand abgestoßen, die dunkelblauen Augen wirken in dem flackernden Licht tiefschwarz. Seelenlos, unergründlich. Flehend. Mein Kopf dreht sich. „Geh nicht darauf ein“, wiederholt er. „Du glaubst, mit ihm umgehen zu können, aber dazu ist niemand befähigt. Diesen Mann hat niemand unter seiner Kontrolle und wenn du einmal mit ihm ins Geschäft kommst, kann weder Luzifer noch Gott dich retten.“ Er redet wirr. Er weiß überhaupt nicht, worum es hier geht. Wovon er spricht.
„Sie sollten sich lediglich in Angelegen einmischen, die Sie verstehen“, sage ich glatt. Die Schatten um mich herum scheinen zum Leben zu erwachen. Sie hasten über die Wände, ohne dass die Lampe weiter hektisch flackert. Das Licht ist stetig und die Schatten bewegen sich. Es braucht eine Berührung des Rektors und sie erstarren, die Regung festgefroren. Als tanzten sie und er hat die Musik ausgeschaltet. Als wenn ein Kurs auf den Tafeln erscheint, mit dem niemand gerechnet hat.
„Er hat dir Antons Leben angeboten, nicht wahr?“, fährt der Rektor unbeirrt fort. „Nachdem Anton gestorben ist. Er hat dir versprochen, er würde ihn zurückholen.“ Mein rasendes Herz übertönt seine Worte beinahe. „Ich will dich nicht belügen, Chrona. Es liegt in seiner Macht. Er kann die Toten zurückbringen. Genauso wie er die Seele stehlen kann und den Verstand kontrolliert, wenn ihm danach ist.“
Ich will dem Rektor ins Gesicht lachen. Dem jungen Mann, der viel zu wenig Erfahrung hat, als dass er ein ganzes College führen könnte. Aber hier steht er, nennt sich mein Rektor und spricht von Konversationen, bei denen er nicht anwesend war. Jedes Glucksen bleibt mir im Halse stecken.
Er macht zwei rasche Schritte auf mich zu. Ich weiche hastig zurück. Vor ihm werde ich zur Gejagten. Woher weiß er von Anton? Von seinem Tod? Warum besitzt er Informationen, die niemand außer mir kennen dürfte?
Langsam, fast entschuldigend hebt der Rektor die Hände. Sieh her, ich bin keine Gefahr für dich. Das scheint er zu flüstern und belügt mich stumm. „Tu mir einen Gefallen, Kind. Bevor du um seine Hilfe bittest, frag mich. Meine Dienste kosten weniger als seine. Sie fordern nicht alles, was du bist.“
„Sie sind wahnsinnig“, stoße ich hervor.
„Ich kann dir dabei helfen, Anton zu retten, sobald eure Zeit um ist.“
„Sie sind ein verrückter Rektor.“ Stolpernd gehe ich rückwärts. Die Schatten scheinen ihm zu folgen wie ein dunkler Umhang. Sie kriechen zäh wie Ölschlieren über die hellen Wände, ducken sich hinter die Gemälde und umschmeicheln die Lampe dort, wo sie gar keine Schatten werfen dürfte. Mein Handgelenk beginnt zu pochen. Ist es möglich, dass er mir den Unterarm aufgeschlitzt hat? Könnte er, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, auch in die Vergangenheit reisen? Wie sonst sollte der Rektor von all dem wissen und von Anton sprechen, als wäre er ein alter Freund.
„Chrona, eure Zeit läuft ab. Und du weißt es“, sagt er eindringlich. Seine pechschwarzen Augen durchbohren mich. „Die Flüchtigkeit des Moments macht dir Angst, weil er dir mehr bedeutet, als du dir eingestehen möchtest. Du rufst Psychotherapeuten in dein Zimmer, um dir erklären zu lassen, dass er dir gleichgültig ist. Ein Hirngespinst. Aber es gibt Dinge, die kann dir keine Statistik der Welt erklären. Stell es dir vor wie…“
„Dieses Gespräch ist beendet“, unterbreche ich den Rektor unwirsch. Meine Hände zittern unkontrolliert. Sie fühlen sich seltsam taub an. Der Wind jault auf, greift in die Winkel, faucht unter den Türspalten hindurch. Meine Kehle schnürt sich zu. Atmen? Fast unmöglich. Tränen steigen mir in die Augen. Ich blinzle sie fort. Diesem Mann gegenüber werde ich keine Schwäche zeigen.
„Chrona, bei Luzifer, du kannst nicht einfach …“
„Ich werde nicht mit Ihnen sprechen! Ich rede nicht mit Menschen, die mir die Unterarme aufschneiden. Oder den Hals. Oder was Sie mir sonst noch antun werden. Und es ist mir gleichgültig, ob Sie Adrianas Arbeiten für meine anerkennen. Mein Anwalt wird …“
„Ich bin unantastbar“, unterbricht der Rektor mich. Ich lache hysterisch auf. Bloß weg hier. Nur weg. Der nächste kreischende Luftzug. Die Schatten scheinen sich vor Lachen an den Wänden zu kugeln.
„Niemand ist das. Nicht für meine Anwälte. Sehen Sie sich vor, binnen von ein paar Tagen werden Sie sich vor den Geschworenen befinden und Ihr Urteil hören. Sie werden schon sehen.“ Er ist der Schwarze Mann. Er hat mich verletzt. Er gehört weggesperrt.
„Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst, Mädchen.“
„Oh nein, nein!“ Ich lache heiser auf. „Sie wissen nicht, wen Sie vor sich haben.“
Der Mann rollt die Augen. „Ich plädiere für ein gesittetes Gespräch in meinem Büro.“ Damit er mich in Ruhe aufschlitzen kann wie einen Fisch? Himmel, wenn ich das nächste Mal in die Vergangenheit reise, wird er vor Antons Tür stehen und auf mich warten?
„Ich plädiere für Ruhe. Ihre Anklage wird Sie in wenigen Tagen auf dem Postweg erreichen.“ Und meine Eltern müssen mich hier rausholen, bevor sie mit dem größten Skandal von allen konfrontiert werden: meinem Tod.
„Das war keine Bitte.“ Seine Worte fegen durch mich hindurch und legen meine Muskeln lahm. Jede Faser ist mit Eis überzogen. Zuckt leicht. Ich kämpfe gegen meine zitternden Knie an. Der Rektor kommt auf mich zu. Er soll bleiben wo er ist! Ich werde ihn verklagen, hinter Gitter bringen. Und seine Frau gleich mit. Jeden in diesem verfluchten Gebäude. Wenn er auch nur noch einen Schritt macht …
Wenn er mich berührt, ich schwöre, ich mache ihm das Leben zur Hölle. Ich … Seine Finger umfassen mein Handgelenk. Ich fahre zusammen, als hätte er mich geschlagen. Mein Mund öffnet sich. Ich will dem Rektor sagen, dass er mich loslassen soll. Meine Stimme versagt. Wortlos zieht er mich mit sich. Wie eine Stoffpuppe taumle ich neben ihm her. Er kümmert sich nicht darum. Seine Haut ist erschreckend kalt, die Berührung könnte nicht bestimmter sein. Dieser Mann lässt mir keine Wahl, als ihm zu folgen. Mich demütigen zu lassen, als er mich durch das Gebäude führt und neugierige Blicke von allen Seiten auf uns liegen.
Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark wird wie ein kleines Kind durch ein ganzes Gebäude gezerrt. Und sie unternimmt nichts dagegen.
Die Situation könnte nicht absurder sein und bestärkt mich nur in meinem Verdacht. Als ich den Schwarzen Mann sah, ich konnte mich nicht mehr rühren. Ich war überrumpelt, völlig von der Rolle. Genau wie jetzt. Nur dass er auf das Messer verzichtet hat und einen einfachen Befehl ausgesprochen hat, der mir durch Mark und Bein geht.
Als er endlich die Tür zu seinem Büro öffnet, kribbelt meine Hand. Sein Griff war zu unnachgiebig fest.
„Setze dich.“ Wieder dieser Tonfall, der keinen Widerspruch duldet. Er ist anders als der meines Vaters. Wenn Vater etwas verlangt, dann folgen die Menschen aus Respekt. Eine menschliche, ruhige Härte liegt stets in seiner Stimme, vermischt mit genug Kälte, die jeden gefügig machen soll.
Aber bei dem jungen Rektor vor mir … Nichts an ihm wirkt nahbar oder menschlich, wenn er einen Befehl ausspricht. Was er sagt, scheint unumstößlich und wer sich dagegen wehrt, hat sein Todesurteil bereits gesprochen.
Ich zittere wie Espenlaub, als ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber sinken lasse. Die Schatten sind uns gefolgt. Ich weiß, dass das Unsinn ist. Schatten bewegen sich nicht. Nicht wirklich. Sie sind lediglich Erscheinungen, bedingt durch Licht und Widerstand. Aber warum liegt dann neben der Hand des Rektors ein schattiger Zipfel, obwohl die Lampe mit aller Kraft auf diesen Punkt scheint?
Als er meinen Blick bemerkt, zucken die Finger des jungen Mannes vor mir leicht. Der Schatten verschwindet. Ich klammere mich an meinen Stuhl. Im nächsten Moment besinne ich mich meiner. Was ich tue, ist absolut inakzeptabel. Er ist nur … nur ein Verhandlungspartner. Solange ich unantastbar bin, wird mir nichts geschehen.
„Wollen Sie, dass ich die Klage auf Körperverletzung ausweite?“, frage ich ihn lieblich. Einer der Schatten rutscht zu meinen Füßen, ohne dass ich mich gerührt habe. Oder der Lichtkegel gezuckt wäre.
„Du machst es einem nicht leicht, mit dir zu arbeiten. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass du noch immer den Gesprächen deiner Eltern beiwohnst.“
„Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen.“
Der junge Mann vor mir faltet gedankenversunken die langen, schneeweißen Finger. Sie sind noch blasser als Antons. Alles an ihm ist erschreckend hell, das Haar, die Lippen, die Haut. Nur seine Augen strahlen in diesem durchdringenden, dunklen Blau, das gerade jetzt viel näher an einem erstickenden Schwarz ist. Als wolle er mein Selbstvertrauen mit einem einzigen Blick untergraben. Und, ich muss gestehen, fast gelingt es ihm.
„Oder vielleicht weiß ich es besser, als wir uns beide wünschen.“ Der Raum scheint zu klein für den Rektor. Seine Stimme fängt sich in den Teppichen, in den dunklen Vorhängen, und wird trotzdem zurückgeworfen.
„Was verlangen Sie von mir? Geld? Ruhm? Ich kann Ihnen beides beschaffen.“
„Ich möchte immer nur das, was man mir nicht geben will. Oder kann.“ Er greift nach einem Gegenstand hinter seinem Schreibtisch. Ich versteife mich. Anstatt eines Schweizer Taschenmessers zieht er zuerst zwei Gläser, dann einen Scotch hervor. „Dein Vertrauen.“
Meine Mundwinkel zucken. Leise lachend schüttelt der Rektor den Kopf und schenkt uns beiden etwas ein. Er schiebt mir eines der Gläser zu. Ich weigere mich, es anzurühren. „Keine Sorge, ich bin kein Fantast. Ich weiß, dass du es mir selbst dann nicht geben würdest, wenn Anton in deinem Zimmer säße, wenn du dorthin zurückgehst.“ Süffisant grinsend nimmt der Rektor einen Schluck aus seinem Glas. „Weißt du, warum du hier bist, Chrona? Hast du darüber nachgedacht?“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und schlage die Füße übereinander. Der Schatten bewegt sich nicht. Liegt da wie festgenagelt. „Ich lasse mir alles durch den Kopf gehen. Zu jeder Zeit.“
„Dann freue ich mich zu hören, zu welchem Ergebnis du gekommen bist“, sagt der Rektor genüsslich.
„Es ist ein schrecklicher Irrtum. Ich sollte an der Harvard-University angenommen worden sein. Oder in Oxford, um näher bei Achim sein zu können.“
Der Rektor lacht leise und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Lächelnd schwenkt er den Scotch um. „Und wie fast immer, wenn die Zahlen dich im Stich lassen, irrst du dich. Du bist genau dort, wo du hingehörst. Es ist Zeit, dass du unsere Hilfe annimmst.“
„Hilfe“, spotte ich. „Verstehen Sie das darunter, mir den Unterarm aufzuschneiden?“
Sein Lächeln wird breiter. „Du wirst es mir nicht glauben, aber das war ich nicht. Ich beziehe meine Informationen nicht, indem ich Blut ablasse. Das habe ich in meinem Leben bereits zur Genüge fließen sehen.“ Das macht ihn nicht vertrauenswürdiger.
„Zum Beispiel im dreißigjährigen Krieg?“
Meine Frage lässt ihn das Glas abstellen. „Ich bin kaum dreißig Jahre alt, Chrona. Da kämpft man nicht im siebzehnten Jahrhundert.“
„Ich bin einundzwanzig Jahre alt und besuche genau dieses Jahrhundert jede Nacht. Und Sie wissen das“, sage ich. Die Ruhe sinkt tief in meinen Bauch und ich versuche sie dort festzuhalten und wachsen zu lassen. Ich brauche mehr als nur ein wenig Entspannung, um dieses Gespräch zu überstehen.
„Ja, darüber bin ich informiert worden. Cayl echauffiert sich zur Genüge.“ Wer ist Cayl? „Ich solle dem ein Ende bereiten, du würdest das Gleichgewicht aus den Fugen bringen. Was würde wohl geschehen, wenn du dort dein IPhone verlierst oder einen künstlichen Nagel?“
„Meine Fingernägel sind echt.“
„Auch deine burgunderroten Lippen?“
„Ich trage keinen Lippenstift bei mir.“
„Und trotzdem könntest du alles ins Chaos stürzen und es gibt niemanden, der dir dabei lieber zur Seite steht als der Graue Mann. Er kann tun, was er liebt, und verdient daran.“
„Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen“, wiederhole ich.
Der Rektor lacht leise und leert seinen Scotch. „Selbstverständlich. Ich bin ein kleiner, unwissender Schuljunge.“
„Sie sind weniger als das“, sage ich entschlossen.
Seine unberechenbaren Augen werden schmal. „Das ist interessant. Was siehst du in mir? Als gute Menschenkennerin.“ Was er für mich ist? Ich versuche den Schatten zu ignorieren, der sich in meine Richtung streckt, als würde er neugierig den Kopf recken.
„Ich sehe einen jungen Mann“, setze ich an, „der in einem intakten Elternhaus aufgewachsen ist. Irgendwann wurde ihm die Zeit zwischen heilen Mauern zu öde und er beschloss, seine Eltern in den Schatten zu stellen. Als ersten Schritt nahm er die Leitung eines Colleges an“, zähle ich auf.
Wieder faltet er die Finger. „Bist du dir sicher, dass du nicht von dir selbst sprichst?“ Seine ruhige Frage bringt mich aus dem Konzept.
„Pardon?“
„Ich würde gern ruhig und sachlich mit dir sprechen, Chrona. Auf gleicher Ebene. Wenn wir uns hier treffen, bin ich nicht dein Schulleiter und du nicht die Prinzessin Amerikas.“
„Ich bin die reichste …“
„Du bist eine Fantasie“, unterbricht der Rektor mich. „Du bist genau das, was alle Mädchen sein wollen. Wunderhübsch, klug, erfolgreich, wohlhabend. Die Welt sieht auf zu dir und davon lebst du. Ihre Bewunderung ist dein täglich Brot.“
Ich rolle die Augen. „Das ist lächerlich. Ich bin eine verdiente Aktionärin und werde die Fußstapfen meiner Eltern mehr als nur ausfüllen.“
Er beugt sich über den Schreibtisch und bietet mir seine Hand an. Ich weigere mich, einzuschlagen. An diesem Tisch wird kein Geschäft zu Stande kommen, nicht ein einziges.
„Raysiel“, sagt er leise. „So darfst du mich nennen. Ich bin im Herzen ebenso wenig ein Rektor wie du eine oberflächliche Idee, wenn man meiner Frau Glauben schenken darf. Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten. Du verbringst die restliche Zeit mit Anton in der Vergangenheit, ignorierst die Vorschläge, die der Graue Mann dir unterbreitet, gibst der Verlockung nicht eine Sekunde nach“, sein Blick ist stechend, viel intensiver noch als der der Psychotherapeutin, „und ich werde Anton herholen, sobald es möglich ist.“
„Das liegt nicht in Ihrer Macht“, spreche ich das Offensichtliche aus.
Er seufzt leise.
Das Knallen der Tür nimmt ihm die Gelegenheit, zu antworten. Innerlich fahre ich zusammen. Nach außen hin gelingt es mir endlich, die Fassung zu wahren und mich gelangweilt umzudrehen.
Casper steht hinter uns mit aufgeregt leuchtenden Augen, zwischen seinen Fingern kann man das blaue und gelbe Gefieder des Vogels erahnen, den der Wind hätte zerreißen müssen.
„Rate mal, was ich gefunden habe. Eine waschechte Meise. Einfach aus dem bescheuerten Sturm gefis… Oh, Chrona.“ Er strahlt mich an und lässt den Vogel los. Zwitschernd kämpft er sich frei und flattert durch das Büro.
Der Rektor verschränkt die Arme vor der Brust. „Was soll der Vogel, Casper?“
„Gute Laune bringen? Also sobald ich ihn wieder eingefangen habe.“ Flatternd lässt das kleine Wesen sich neben meinen Händen nieder und sieht mich aus den kleinen Knopfaugen an. Zwitschert und pfeift. Wäre es ein intelligentes Wesen, ich würde sagen, er erkennt mich wieder von dem Moment, als ich zu dem Fenster gegangen bin, um es zu öffnen, bevor er dagegen schlägt. So schimpft das Tier nur über seine lange Gefangenschaft zwischen zehn Fingern. „Ich führe ein entscheidendes Gespräch“, sagt der Rektor zu Casper. Dessen Augen leuchten begeistert auf.
„Echt? Worüber?“ Ungefragt lässt Casper sich neben mich auf den Stuhl fallen und beugt sich vor. Die Meise piept laut und flattert auf das Regal. Der Rektor verfolgt die Bewegung mit Desinteresse.
„Über Echnaton Ralowskowitsch“, antworte ich.
„Den Grauen Mann“, verbessert der Rektor.
„Ach, Capatio Smorico!“ Wie ein kleines Kind klatscht Casper in die Hände. „Hat sie einen seiner Deals angenommen oder weswegen ist dein Glas schon leer?“ Er nickt auf das des Rektors.
„Starrköpfigkeit“ murmelt der nur.
Mir klappt der Mund auf. „Pardon?“
„Pas de cause“, sagt Casper fröhlich.
„Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“
„Dein ständiges Pardon auch nicht“, entgegnet Casper zufrieden und verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. „Redet ruhig weiter. Ich störe euch nicht.“
„Tust du nicht?“ Der Rektor spricht so leise, es jagt mir einen unwohlen Schauder über den Rücken. Casper nickt bestimmt. „Tue ich nicht. Ihr wollt über den Grauen Mann reden? Ich halte mich raus.“
„Dieses Gespräch wird nicht zustande kommen“, setze ich beide in Kenntnis und stehe auf.
„Das bezweifle ich“, sagt der Rektor. „Setz dich bitte wieder, Chrona.“
„Will jemand den Scotch?“ Casper sieht mich erwartungsvoll an. Ich ignoriere ihn geflissentlich.
„Die Anklage wird in wenigen Tagen ausformuliert auf Ihrem Schreibtisch liegen“, halte ich an dem einzigen Text fest, den ich noch sicher über die Lippen bringen kann. „Spätestens dann werden Sie mich auf diesen Fluren nicht mehr vorfinden.“ Ich werfe Casper einen abfälligen Blick zu und stehe auf. „Au revoir.“ Mit bestimmten Schritten gehe ich auf die Tür zu und betätige die Klinke.
Nichts rührt sich. Ich ziehe daran, rüttle. Nichts. Nicht einmal ein Knarzen. Hinter mir klirrt es leise. Als ich mich umdrehe, stellt der Rektor die Flasche gerade wieder ab.
„Wenn du möchtest, können wir im Stehen konversieren. Du solltest dich lediglich mit einem Detail abfinden.“ Er nimmt einen kleinen Schluck. „Erst wenn dieses Gespräch beendet ist, wirst du diesen Raum verlassen dürfen.“