Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 12
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„Darf ich erfahren, wo ihr beiden euch die letzten Minuten aufgehalten habt?“ Vater hat sich zu mir hinübergebeugt, während ihm Weißwein zu dem dargebotenen Fisch eingeschenkt wird. „Wir haben uns lediglich unterhalten.“ Kurz zögere ich. „Achim wird die kommende Woche mit mir verbringen. Es gilt einiges vorzubereiten, bevor wir allein auf Monsieur Depót treffen.“ Vater rollt leicht den Kopf, ehe er noch ein Stück näher zu mir rückt. Achim wirft ihm einen pikierten Blick zu. „Mister Jamesons Meeting ist von außerordentlicher Bedeutung.“ „Das Wohlbefinden meiner Verlobten ebenfalls“, antwortet Achim für mich. Ein winziges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Selbstverständlich, Achims Nähe dient in erster Linie dem Zweck, dass er in Erfahrung bringt, was die letzte Nacht mit mir passiert ist. Ich nehme jede Unannehmlichkeit hin, wenn das bedeutet, dass man mich nicht zu Einsamkeit verdammt. Mein Vater lehnt sich in seinem Stuhl zurück und schwenkt den Wein im Glas herum. Das sanfte Aroma steigt mir in die Nase. Sollte ich gar nichts trinken, wird man vermuten, ich wäre schwanger oder hätte einen Kater von der letzten Nacht. Ich winke den Kellner heran, damit er mir einen Schluck einschenkt. Er folgt mir aufs Wort.
„Dieses Thema werde ich gemeinsam mit Achim diskutieren”, sagt Vater. „Auf dich wartet ein Gespräch mit dem jungen Gioseppe Riva. Mit Sicherheit wird er erfreut sein.“ Nach unserem gestrigen Aufeinandertreffen kaum. „Wir hatten bereits das Vergnügen.“ Der Wein erblüht mir auf der Zunge und läuft angenehm kühl den Rachen hinab. Ein wundervoll süßliches Geschmackserlebnis.
„Ich erwarte es dennoch von dir. So gebietet es der Anstand.“ Mein Vater wirft mir einen der häufigen Blicke zu, die keinen Widerspruch dulden. Ich presse die Lippen fest aufeinander und bedeute dem Kellner, meinen Stuhl zurückzuziehen, ehe ich den Tisch umrunde und mich zu demjenigen geselle, der womöglich für meine schaurige Nacht verantwortlich war. „Gioseppe Riva, was für eine angenehme Überraschung Sie am heutigen Morgen begrüßen zu dürfen“, sage ich glatt. Ich trage den Kopf hoch und bin mir bewusst, dass ich Gioseppe Dank meiner Absätze um einige Zentimeter überrage. Verbindlich lächelnd blicke ich auf ihn hinab. Kurz scheint Gioseppe hin und her gerissen zwischen meiner herzlichen Begrüßung und meinem kühlen Auftreten, dann erhebt er sich und widmet mir eine knappe Verbeugung. Knapp zehn Zentimeter. Es sind knapp zehn Zentimeter, die er kleiner ist als ich. „Es ist mir eine Ehre, Miss Clark.“ Kurz schweigen wir und ginge es nach mir, würde die Höflichkeit an dieser Stelle ihr Ende finden. Gioseppe würde mit Sack und Pack diesen Raum verlassen und mir nie wieder unter die Augen treten.
Vater wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich habe das Gespräch in Gang zu halten. Vermutlich erhofft er sich Gioseppe als Verhandlungspartner, ich allerdings kann nicht genug Potenzial in Gioseppe finden, das meine Zeit rechtfertigen würde.
„Wollen Sie mich auf den Balkon begleiten?”, frage ich. „Hier drin ist es recht warm.“ Ein rascher Blick seinerseits über mein kurzes Kleid, zeigt mir, dass Gioseppe mir kein Wort glaubt und nur der Höflichkeit halber zustimmt.
Vater und Achim sind in eine leise Diskussion versunken, während meine Mutter sich mit dem Spanier über Oberflächlichkeiten zu unterhalten scheint, als einer der Angestellten uns die Türen zu dem weitläufigen Balkon öffnet. Eine kühle Brise weht uns entgegen, die mich erschaudern lässt und in die gestrige Nacht zurückkatapultiert. Immerhin regnet es nicht.
„Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Miss Clark?“, fragt Gioseppe, sobald man die Tür hinter uns geschlossen hat. Die helle Jacke seines Jacketts zaubert seine schmalen Schultern breiter. Die dicke Goldkette um seinen Hals wirkt protzig. Im Gegensatz zur vergangenen Nacht scheint Gioseppe angespannt, wie er die Hände in den Taschen vergräbt und die Miene verkrampft. Die Haare stehen Gioseppe ab. Das Weiß der Schuhe harmoniert nicht mit dem der Hose. „Geschäftliches”, erwidere ich schlicht. „Sie sollten wissen, dass eine Frau wie ich nichts anderes im Sinn hat als den stetigen Gewinn.“
Gioseppe stützt sich auf dem schmiedeeisernen Geländer ab und blickt hinab in die plärrende Tiefe. Nicht einer der Passanten beachtet uns. Eine unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen und uns zu verlaufen. „Ich dachte, wir beide wären uns so weit im Klaren, dass es da nicht allzu viel zu bereden gibt”, sagt er. Die Kränkung steht ihm in das gewöhnliche Gesicht geschrieben. „Ich erfülle nicht Ihre Ansprüche und Sie bei Weitem nicht meine.“
Pikiert hebe ich eine Braue. Die Prinzessin der Börse genügt den Ansprüchen des feinen Herrn nicht? Worauf hoffte er? Ein naives Mädchen, das ihm die Karten zuspielt? Eine ordinäre Lady, die nur für den Ruhm und den Skandal lebt? „Inwiefern genüge ich Ihnen nicht?”, spiele ich das Spiel, zu dem Vater mich verdammte. „Haben Sie sich höhere Chancen ausgemalt?“ „Absolut.“ Langsam betrachtet Gioseppe mich von Kopf bis Fuß. „Ich dachte, reiche Menschen wären freundlich. Aber Sie? Sie sind nur aalglatt und selbst das nicht mehr, wenn keine angemessene Entlohnung winkt oder keine Fotografen in der Nähe sind. Ich frage mich, ob sie überhaupt noch ein Mensch sind oder nicht irgendein Geld inhalierendes Monster.“
Ich lache kokett auf, als hätte Gioseppe einen äußerst unterhaltsamen Witz gemacht und lehne mich neben ihm an die Brüstung.
„Sie sind nicht besonders klug, so mit mir zu sprechen“, stelle ich fest. Gioseppe verdreht tatsächlich die Augen. „Was soll ich denn tun?” Verspottet er mich? Sacht lege ich den Kopf schief. „Was wäre denn in Ihren Augen angemessen, Miss Clark? Soll ich vor Ihnen in die Knie gehen und um Vergebung betteln?“
Das wäre ein Anfang.
„Wissen Sie, als meine Ehefrau mir sagte, Sie würden mit Sicherheit das kühlste und abweisendste Wesen sein, das existiert, da glaubte ich ihr nicht, weil wie ist es möglich, dass etwas so Schönes nicht bis in den hintersten Winkel des Seins rein ist?” Sein harsches Lachen hallt zu laut über die Straßen hinweg. Ich senke mein Kinn ein Stück, bereit für den perfekten Schnappschuss. „Aber offensichtlich sollte ich in dieser Hinsicht auf meine Frau hören. Sie weiß, woran man eine falsche Schlange erkennt.“ Es ist nicht in meinem Interesse meinen Atem weiterhin an Gioseppe Riva zu verschwenden. Aber jetzt gehen? Mich in einem schlechten Licht präsentieren lassen? Das wäre die größte Demütigung. Also entspanne ich mich und blicke Gioseppe tief in die langweiligen, beinahe stumpfsinnig braunen Augen. „Wäre es in Ihrem Interesse, Ihre Sorgen näher auszuführen?“ Gioseppe schnaubt abfällig und stößt sich kraftvoll von dem Geländer ab. „Als meine Eltern den ersten großen Gewinn hatten, da dachte ich, jetzt geht das Leben los. Partys, schöne Mädchen, Überfluss. Irgendwann aber habe ich bemerkt, dass das Geld einen nicht befreit, es baut Käfige um einen herum. Und du, du benimmst dich wie ein dressiertes Äffchen.“
Ich lächle ihn lieblich an und lasse den lauen Wind durch meine Haare streichen. „Es ist durchaus faszinierend”, erwidere ich langsam, „wie rasch ein kleiner Junge, Anstand mit Willenslosigkeit und gutes Benehmen mit Reichtum verwechselt. Man spürt, dass Sie in einer anderen Welt aufgewachsen sind.“ In meinen Kreisen wird rücksichtslos um jeden Cent gekämpft. Dann um die Millionen. Dann um Milliarden. Billionen. Bis die Zahlen zu Einsen und Nullen verschwimmen. „Ich befürchte, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem ein Kompromiss unmöglich wird.” Seufzend streiche ich mir eine blonde, schimmernde Strähne aus dem makellosen Gesicht. „Wenn ich bitten darf.“ Ich deute zur Tür. Gioseppe zupft seine Ärmel zurecht, ehe er mir ein kühles Lächeln zuwirft.
„Im Übrigen, Ihr Zimmermädchen war tatsächlich eine angenehmere Gesellschaft als Sie, Miss Clark. Hoffentlich werden sich unsere Geschäfte nicht mehr allzu oft kreuzen.“ „Dieser Wunsch beruht auf Gegenseitigkeit.“
Der Mond scheint groß und gelb durch die Fenster meiner Räumlichkeiten. Der Tag war anstrengend und überflüssig. Der Brunch löste sich irgendwann ohne nennenswerte Ergebnisse auf und mein Vater veranlasste, dass Achim pünktlich in Europa landet. Ein Zimmermädchen könne sich ebenso gut um mich kümmern, wie jeder andere auch, argumentierte Vater. Für seine Verhältnisse hat Achim gekämpft, um bei mir bleiben zu dürfen, eine Geste, die mich zutiefst gerührt hat, selbst wenn sie letzten Endes nicht belohnt wurde.
„Darf ich Euch einen Zopf flechten?“, bittet mein Kindermädchen und sieht mich aus großen Augen an, die ebenso langweilig sind wie Gioseppes. Es ist kein Wunder, dass die beiden einander verstanden haben. Plump und einfach gesellt sich gern.
Der Wunsch nach menschlicher Nähe ist zu überwältigend, als dass ich das Angebot der Bediensteten ausschlagen könnte. „Wenn du auf mein Haar achtgibst.“
Das Zimmermädchen strahlt wie ein kleines Kind, während es beginnt, die blonden Strähnen übereinanderzulegen. Zuvor kämmte sie meine sanften Wellen für Minuten. Ich kann ihr die Affinität zu meinem Haar nicht verübeln. Sie selbst hat derart dünne Flusen auf dem Kopf, es muss ein Segen sein mein dichtes, dickes in den Händen halten zu dürfen. „Benötigt Ihr etwas für Eure Wunden?“ Stillschweigen. „Nein. Ich wäre dir allerdings verbunden, wenn du meine Verletzungen nicht in den Mittelpunkt rücken würdest. Solange niemand den Ursprung dieser Schrammen geklärt hat, wird darüber kein Wort verloren.“
Mein Kindermädchen nickt und fährt in seiner Arbeit fort. „Soll ich heute Nacht bei Euch bleiben?“
Damit sie mich die ganze Zeit über anstarrt und darauf wartet, dass etwas Ungewöhnliches geschieht?
„Ich hörte”, sage ich genüsslich, „du hättest dich bei meiner Geburtstagsfeier köstlich mit Gioseppe Riva amüsiert. Hat er mich in irgendeiner Weise erwähnt?“
In meinem Spiegel erkenne ich, wie ihr die Röte in die Wangen steigt und sie hastig die Augen niederschlägt.
„Nein. Er sagte lediglich, er verstände Euch nicht gänzlich.“ Das ist wohl die beschönigte Version davon, dass er ihr gegenüber seine Abscheu in Bezug auf mich zur Geltung brachte.
„Er scheint ein wahrer Gentleman zu sein“, seufzt mein Kindermädchen. „Ich hatte das Gefühl, er könnte mir bis auf den Grund meiner Seele blicken.“
Die einzige Person, die in mir lesen kann, wie in einem offenen Buch, müsste vor wenigen Minuten in London gelandet sein. Ein bitterböses Geschöpf stiehlt sich brennend in mein Herz.
„Er ist verheiratet.“ Der Blick der Angestellten schießt nach oben, ehe sie ihn viel zu schnell niederschlägt. „Das hat er nicht erwähnt.“ „Wäre er ein Gentleman”, erwidere ich kühl, „hätte er über seinen Beziehungsstatus nicht geschwiegen.“ Das Mädchen verfällt in Schweigen. Gut so.
„Bist du fertig?“, frage ich. Das Mädchen schlingt den Haargummi um das Ende des Zopfes und erhebt sich hastig. „Ja, Miss.“ Ich muss sie nicht entlassen, sie entfernt sich selbstständig, noch immer mit brennenden Wangen. Schimmern Tränen in ihren Augen? Wegen dieses Möchtegern-Aktionärs? Schnaubend lege ich mir den Morgenmantel um die Schultern und setze mich auf die Fensterbank meines Schlafzimmers.
Jede Wolke ist verschwunden, Sterne funkeln silbrig neben dem atemberaubenden Mond. Ich bin versucht, mich in seinem Anblick zu verlieren. Wäre Achim hier, er hätte den Arm um meine Schultern gelegt und würde mich küssen. So nah waren wir der Möglichkeit, dass wir eine gesamte, luxuriöse Woche gemeinsam verbringen dürfen. Jetzt sitze ich allein und warte darauf, dass der Tag ein Ende nimmt.
Ich müsste mich über den Neuanlagen der letzten Tage informieren. Der Ordner liegt auf meinem Schminktisch, direkt neben der Haarbürste und einer kleinen Auswahl meines Nagellacks. Es wären nur wenige Schritte dorthin. Stattdessen ziehe ich den seidigen Stoff des Morgenmantels enger um meine Schultern und lehne den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe.
Nie zuvor habe ich Achim so bitterlich vermisst. Ich möchte zu ihm, raus hier. Erneut überkommt mich das überwältigende Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. Dieses Mal kämpfe ich es nieder und lasse die Finger über das Glas wandern. Es fühlt sich an, als könnte ich die Sterne berühren und mit ihnen wachsen. Betrachtet Achim sie auch? Sacht schüttle ich über mich selbst den Kopf. Viel eher wird er mit wichtigen Herren um einen Tisch versammelt sitzen, an dem Champagner nippen und Papiere wälzen. Ich sollte an seiner Seite sein. Frustriert schließe ich die Augen und atme tief durch, greife nach der warmen Decke neben mir und fasse in pure Eiseskälte.
Erschrocken fahre ich zusammen. Ist das Schnee? Schnee. Er rieselt vom Himmel, während ich auf offener Straße in meinem schimmernden Pyjama sitze, den dünnen Seidenmantel eng um meine Schultern geschlungen. In der Ferne läutet eine Turmuhr die Nachtruhe ein. Die Eiskristalle beißen in meine nackten Fußsohlen. Keuchend stehe ich auf. Weiße Wölkchen puffen über mir in die Luft. Das kann unmöglich real sein. Bin ich eingeschlafen? Wann hat Gioseppe mir heute Halluzinogene in das Glas getan? Die ganze Zeit über war der Tisch voll besetzt und Gioseppe an dem anderen Ende davon.
In der Ferne ertönt ein Ruf. Alkoholisiert? Zornig? Beinahe fühle ich, wie die gestrige Nacht sich wiederholt. Stolpernd komme ich auf die Beine und wickle mich tiefer in meinen Seidenmantel. Dunkel hängen die Wolken über mir, nur beschienen von dem beißenden Schnee. Eine grölende Meute, die ich noch nicht sehen kann, treibt mich vorwärts, weg von der gepflasterten, zu Teilen vereisten Straße.
Brenn, brenn, brenn. Eyne Hex! Diese furchtbaren, erbärmlichen Schreie und die Brandmale an meinem eigenen Körper. Ist es möglich, sich diesen Moment einzubilden? Nie zuvor habe ich gefroren. Wenn ich zu frösteln begann, wurde mir ein Mantel gereicht.
Selbst die gestrige Kälte ist nichts gegen diese Temperaturen. Sie fressen mich auf und treiben mir die Tränen in die Augen. Es ist dermaßen kalt, dass meine Haut sich unter dem rieselnden Schnee aufzulösen scheint. Nie zuvor kam er mir so weiß vor. Nicht eine Nuance Grau oder Braun versteckt sich darin. Trüge ich mehr als nur meinen Schlafanzug, es wäre ein Winterwunderland.
Meine Zehen sind binnen von Sekunden taub und bläulich. Diese Veränderung meines Körpers macht mir Angst.
Fühlt sich so das Erfrieren an? Ich will es nicht erfahren.
Es erfordert mehr Mut, als sich den pikanten Fragen hunderter Journalisten zu stellen, an die zerbrechlich wirkende Tür des erstbesten Hauses neben mir zu klopfen. Das Dach hängt durch und scheint jeden Moment unter den Eismassen ächzend nachgeben zu wollen. Die Fassade wurde wohl vor Jahrzehnten ansatzweise befestigt. Nie zuvor habe ich ein ähnlich erbärmliches, ähnlich winziges Gebäude gesehen. Nicht einmal Stufen führen hin zu der Tür!
Es ist die Angst um mein Leben, die mich voran ins Ungewisse treibt und mich gegen knarzendes Holz klopfen lassen.
Das harsche Geräusch hallt durch die stiebende Kälte und das zweifelsohne bescheidene Zimmer hinter der verschlossenen Tür. Egal was sich dort verbirgt, ich würde alles hinnehmen. Nichts kann schmerzhafter sein als dieses eisige Frösteln, das mich bei lebendigem Körper gefrieren zu lassen scheint.
Das beißende Brennen treibt mir die Tränen in die Augen. Verzweifelt nach Wärme suchend, schlinge ich die Arme um meinen Körper. Der Morgenmantel rutscht mir von den Schultern. Ich bin zu steif, um mich danach zu bücken.
Es muss doch jemand dort wohnen!
Ich würde ihm meine Ohrringe geben, die Kette, von mir aus auch den Ring. Er soll mich nur einlassen. Es ist so kalt.
Nichts anderes hat mehr Platz in meinem Kopf. Nur diese Eiseskälte und das Gefühl bei lebendigem Leibe zu gefrieren. Die Fingerspitzen sind blau und ich wage es nicht, auf meine Füße zu sehen.
Schnee stiebt hinab und hält sich in meinem Zopf.
Ich klopfe noch einmal, noch einmal, bis ich das Gefühl habe, die Tür einzuschlagen. Mein Verhalten hat nichts mehr mit Benehmen zu tun und die Umstände nichts mit Luxus oder Wirklichkeit.
Ich sollte mich zusammenkauern und darauf warten, dass ich aufwache, auf meiner Fensterbank, die Wange an dem Glas ruhend. Ich will mich in den dumpfen Schlaf spülen lassen. Eine schreiende Angst treibt mich dazu, fester gegen das Holz zu schlagen. Was, wenn man mich nicht unter Drogen gesetzt hat? Was, wenn das hier, wider jeden Verstand, wirklich passiert? Wenn ich gerade jetzt erfriere? Hier? In einer fremden Zeit.
„Machen Sie die Tür auf!“, rufe ich.
Meine Stimme hallt durch die vereisten Straßen. Das Grölen hat sich gemeinsam mit dem Schlagen der Turmuhr ins Nichts verflüchtigt.
Die ganze Welt scheint stehengeblieben.
Kraftlos lehne ich mich gegen das kalte Holz. Mein Atem dampft stärker, wenn er auf die Eisblumen trifft, die sich die Fassade hinaufranken. Das kann alles nicht wahr sein. Ich stehe hier nicht. Ich sitze in meinem Zimmer.
„Bitte! Machen Sie die Tür auf, ich flehe Sie an!“
Schritte? Kommen sie von innen? Einbildung, Wirklichkeit?
Jemand reißt die Tür auf und ich taumle ins Innere. Einen Temperaturunterschied spüre ich nicht. Der leichte Gestank von Schwefel und Säure liegt in der Luft. Der scharfe Geruch von Rauch. „Chrona? Himmel, was tust du hier?“
Bin ich Zuhause? Desorientiert hebe ich den Blick. Der Bewohner ist mir fremd. Nie zuvor bin ich ihm begegnet. Seine braunen Augen sind warm. Warm wie das Holz einer Parkbank an Sommertagen.
„Warte, ich hole dir eine Decke. Oder zwei. Bleib hier stehen.“
Ich kann mich nicht bewegen. Verzweifelte Tränen brennen mir in den Augen. Mir ist so kalt. So kalt, dass ich das Gefühl habe, zu verbrennen. „Willst du einen Tee haben?“, ruft der junge Mann von irgendwo her. Teilnahmslos versuche ich die Schultern zu heben. Meine Arme sind blau, die Zehen violett. Die Tränen zwicken, als sie mir über die Wangen laufen. Er kommt zurück.
Im ersten, schrecklichen Moment glaube ich, dass Gioseppe vor mir steht. Der junge Mann vor mir ist ungefähr in Gioseppes Alter, ebenfalls brünett. Ich verwerfe den Vergleich. Wärme. Warum strahlt dieser Mann nur so viel Wärme aus?
„Chrona, verdammt, warum bist du nicht reingekommen?“ Er reibt mir über die Arme, als wäre es das Natürlichste der Welt. Ich kann ihn nur anstarren. Warum fürchtet er sich nicht? Warum fragt er sich nicht, warum ein Mädchen im Schlafanzug vor seiner Tür steht? Ich bin ihm nie begegnet, er befindet sich außerhalb meiner Zeit, woher kennt er meinen Namen? „Ist mein Akzent zu stark oder warum antwortest du mir nicht?“
Der junge Mann, Anfang zwanzig, klingt panisch. Irritiert runzle ich die Stirn. Er hat keinen Akzent. Einen ganz leichten, wenn man mit der Nase darauf gestoßen wird.
„Hör auf damit, ja?” Tiefe Falten haben sich zwischen seine Brauen gegraben. „Du machst mir Angst.“ Der junge Mann ist unwirklich blass, fast als hätte er noch nie die Sonne gesehen. Jede Ader schimmert bläulich durch seine Haut. Er wirkt irreal, wie ein Geschöpf aus einem Fiebertraum. Warme Blicke, die mir unter die Haut gehen.
„Du bist eiskalt“, flüstert der Mann und hebt mich auf seine Arme, als wäre es ihm gestattet. „Komm her.“
Ich will mich nicht rühren. In einem angrenzenden, winzigen Raum flackert fröhlich ein Feuerchen. Phiolen, Reagenzgläser, Becher stehen auf einem Tisch an der Wand und der Gestank nach Schwefel und Säure ist nicht länger zu ignorieren. Er beschert mir augenblicklich Kopfschmerzen. Vorsichtig setzt der junge Mann mich vor dem Feuer ab und wickelt mich in die Decken. Sie fühlen sich an wie Pelz. Schafswolle? Sie ist schrecklich kratzig, nicht ansatzweise so weich wie alles, wonach ich Daheim gegriffen hätte.
„Ich bringe dir einen Tee. Versuch bloß, nicht einzuschlafen. Du musst mir die Eitelkeit…” Der Mann stockt und fährt mir hastig mit der Rückseite seiner Finger über die Wange. „Nein, falsch, Vergänglichkeit sagt du, oder?“
Ich kann ihm nicht antworten. Braune Augen. Was haben seine braunen Augen nur an sich?
„Auf jeden Fall, du musst das nicht unter Beweis stellen.”
Ihm zuzuhören, das fällt mir schwer. Der weiche Klang seiner Stimme lullt mich ein. Unsanft reibt der junge Mann mit den Fingerknöcheln einmal mein Brustbein hinab. Stechender Schmerz. Wimmernd sauge ich die bittere Luft in meine Lungen.
„Schlaf nicht ein!“
Aber genau das muss ich tun. Die Kälte zehrt an meinen Kräften. Ich würde für eine heiße Schokolade töten, obwohl ich Getränke dieser Art normalerweise nicht anrühre. Am besten mit einem kräftigen Schuss Wodka. Der Junge entfernt sich, das Feuer bleibt und sticht mir nach und nach in die Nasenspitze. An keinem anderen Körperteil spüre ich es. Meine Zehen sind blau. Ich kann nicht glauben, dass sie zu mir gehören. Zu klein wirken sie, verschrumpelt und geschrumpft.
„Hier.“ Der junge Mann stürzt nahezu durch die Tür und drückt mir einen unhandlichen, hässlichen Becher in die Hand. „Trink das. Du musst dich wärmen. Warte.“ Er zieht die Decken weg von mir und setzt sich hinter mich, bevor er meinen Körper an seine Brust drückt und die Wolle über mir drapiert. „Gut”, murmelt der Fremde wie zu sich selbst, „das ist gut so. Trink einfach und schlaf nicht ein.“
Er sollte mich nicht anfassen. Ich müsste ihm sagen, dass ich meinen Anwalt darüber informiere. Ich sollte ihn fragen, wo ich bin, was ich hier soll, was er tut, warum er es für so selbstverständlich erachtet, mich skrupellos zu berühren. Woher er meinen Namen kennt.
Kein Wort stiehlt sich über meine Lippen. Stattdessen nehme ich gehorsam einen kleinen Schluck des Tees.
Der junge Mann seufzt erleichtert auf. „Als ich meinte, dass es schön wäre, wenn du schnellstmöglich wiederkommst, meinte ich nicht heute. Ich dachte, du musst Zuhause etwas klären.“ Wovon spricht er? Ich lasse die Tasse sinken und sehe ihn befremdet an. Der junge Mann seufzt tief und streicht mir die Haare über die Schulter. Sein Daumen streift meinen entblößten Hals. „Es ist wirklich schön, dich zu sehen, Chrona. Die paar Stunden haben gereicht, um dich zu vermissen.“ Mühsam klärt sich mein Verstand. Ich öffne den Mund, um zu protestieren und den jungen Mann für verrückt zu erklären. Er gibt mir keine Gelegenheit dazu. Stattdessen küsst er mich.