Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 8

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Mutter sagt kein Wort, bis wir in ihrem und Vaters Apartment angekommen sind. Die Angestellten grüßt sie nicht, die leise Geigenmusik kommentiert sie nicht, die aus den unsichtbaren Lautsprechern strömt. Kaum schließt sich die Tür klickend hinter uns, zieht sie sich die Schuhe von den Füßen. Ich tue es ihr gleich. Blut schießt stechend zurück in meine Zehen und betäubt sie. Ich wanke. Für einen flüchtigen Augenblick gleichen die kühlen Marmorplatten der hohen See und mein Körper ist dem Toben grausamer Naturgewalten unterworfen. Nur für einen flüchtigen Augenblick. Dann stabilisiert sich meine Wahrnehmung und ich folge Mutter still in den schwach beleuchteten Wohnraum.

Das Licht strömt weißschimmernd aus den schmalen Streifen, die symmetrisch an den Wänden angebracht wurden. Die Sitzgarnitur wurde locker im Zimmer verteilt, die gläsernen Tische strahlen wie eigene Sterne. Wir werfen matte Schatten, vergänglich, kaum greifbar, während das leise Tapsen unserer Füße das einzige Geräusch auf der weiten Welt zu sein scheint. Die Räumlichkeiten meiner Eltern schließen jedes Wispern des Towers aus. Ausschließlich auf diese Weise ist absolute Konzentration auf die Arbeit möglich – und somit das Minimieren von Fehlern. „Wie geht es dir?“, fragt Mutter mich ruhig, sobald wir Platz genommen haben. Die weichen Polster des cremefarbenen Sofas schmiegen sich an meinen Körper und heben mich in den Himmel. Ich spitze die Lippen. Ein ungewohnter Beginn für ein Gespräch mit ihr. Für gewöhnlich gibt es wenig, was irrelevanter ist als meine Gefühlslage. Ob ich glücklich bin oder nicht. Was zählt, sind die zufriedenstellenden Ergebnisse, ganz gleich welche Emotionen sie formten. Nahezu unsicher hebe ich die Schultern. Eine winzige, unangebrachte Bewegung. Am runden Tisch würden sich die Verhandlungspartner darauf stürzen wie Löwen sich auf ihre Beute. „Sehr gut”, antworte ich, die Stimme gelassen. „Das Fest ist berauschend und Monsieur Depóts Angebot mehr als ich mir erhofft habe.“ Mutter nickt und lässt sich gegen die verglaste Wand sinken. Mit einer knappen, präzisen Bewegung entfernt sie eine der goldenen Haarnadeln aus ihrer makellosen Frisur. Dicke Strähnen fallen ihr in das Dekolleté. Sie betonen auf beinahe ordinäre Weise, was Mutter zu bieten hat. „Der Champagner floss in Strömen”, merkt sie an. „Keine Schwindelgefühle? Blackouts?“ Pikiert spitze ich die Lippen. Eine Frage um mein Befinden bleibt eine Falle, in die ich willig tappe. „Mein Alkoholkonsum hielt sich in Grenzen. Danke der Nachfrage.“ Mutter klatscht zwei Mal in die Hände und der Kamin an der gegenüberliegenden Wand beginnt lichterloh zu brennen. Die knisternde, entspannende Wärme wallt uns entgegen und lässt mich erschaudern. Schon fast gegen meinen Willen schließe ich die Augen und genieße die Hitze auf meiner Haut. Hinter geschlossenen Lidern tanzen Gespenster atemberaubende Reigen, schmiegen sich aneinander. Wie viel würde ich dafür geben, Achim so innig in der Öffentlichkeit berühren zu dürfen wie Schatten und Licht es tun. Seine Nähe so intensiv spüren zu dürfen wie die warme Berührung des Feuers.

„Es ist schön zu beobachten, wie sehr es dich freut, wieder bei deinem Verlobten sein zu können“, sagt Mutter ruhig. Ich nicke matt und lehne mich tiefer in die weichen Polster. Sie scheinen mir ein Gutenachtlied zu singen, untermalt von dem sanften Knistern des Feuers. Nur noch wenige Stunden, dann befindet sich Achim auf der nächsten Reise, immer dem Geld hinterher. Wir sehen uns voraussichtlich wieder, sobald Monsieur Depót zu Verhandlungen einlädt. Wieder werden Berührungen untersagt sein. Ein herzliches Lächeln, ein gestohlener Kuss? Nichts weiter als kühne Träume in einer müden Nacht. Ich kann es kaum erwarten, Achim das Jawort zu geben. Von da an wird sich unser Leben ändern. Das kokette Versteckspiel findet ein Ende, die Presse zerreißt unsere Küsse nicht mehr in der Luft und die Gesellschaft erkennt eine Umarmung als Selbstverständlichkeit an. Ich zähle die Tage bis zu diesem magischen Moment. Diesen Moment, in dem ich zu jemandem gehöre, der mich abgöttisch liebt und meine Meinung achtet.

„Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“ Erwartungsvoll sehe ich Mutter an. Sie wollte dieses Projekt an eine Planerin übergeben, die Mutter in regelmäßigen Abständen über Fortschritte informiert. Erste Skizzen des Hochzeitskleides ruhen in der obersten Schublade meines Schreibtisches. Es wird mehr sein als nur ein Traum in Weiß. Ich sehe die Schlagzeilen und Artikel vor mir, ein großes Bild von mir an Achims Seite, wie er den Arm um meine Hüfte geschlungen hat und mich vor aller Augen küsst, ohne dass wir uns den Kopf über Klatsch und Tratsch zerbrechen müssen. Er wird mir einen neuen Ring anstecken, einen, der noch schöner und kostbarer ist als dieser hier, und mir das Versprechen geben, dass ich von nun an immer an seiner Seite sein darf. Dass ich seine Gesellschaft nie wieder werde missen müssen. Dass er mich bis an das Ende unserer Tage bedingungslos liebt.

„Die Vorbereitungen laufen tadellos.“ Mutter schlägt die Beine übereinander und blickt auf die nächtliche Stadt hinab. Gelbe, rote, blaue Lichter werden auf ihr ebenmäßiges Gesicht gemalt. „Die Feier wird diese hier in den Schatten stellen und wie geplant stattfinden.“ Das bedeutet in gut einem Monat. Allein bei dem Gedanken an das nahe Datum beginnt mein Herz zu rasen und die Röte schießt mir in die Wangen. Nach diesem Tag müssen Achim und ich uns nie wieder die gesamte Nacht lang vor der Festgemeinschaft verstecken. Obwohl ohnehin jeder weiß, dass es sein Verlobungsring ist, der an meinem Ringfinger mit dem Collier um die Wette glitzert. „Kannst du mir sagen, was genau passieren soll? Wer wird auf der Gästeliste stehen?“ Aufgeregt lehne ich mich näher zu Mutter. „Wie viele Blumenmädchen werden für mich organisiert werden? Feiern wir tatsächlich in Europa?“ Mama legt eine Hand auf meine und drückt meine Finger. Eine Geste voller Zuneigung. Das kostbarste Geschenk von allen. „Sieh es als eine Überraschung an, mein Kind.“ Kurz zögert Mutter. „Die nahenden Feierlichkeiten waren nicht das, worüber ich in der heutigen Nacht mit dir sprechen wollte.“

Ich seufze leise und starre in die zuckenden Flammen des Kamins. Das war mir bewusst. Meine Hochzeit ist nur ein Randevent für meine Mutter. Mag die Presse sie auch für das Ereignis des Jahrzehnts halten, bleibt sie für meine Familie ein weiterer gewöhnlicher Festakt. Viele Worte darüber zu verlieren, ist sowohl für Vater als auch für Mutter verschwendeter Atem. Anstatt sie nach dem eigentlich angestrebten Thema zu fragen, schließe ich die Augen und genieße den Nebel des Alkohols in meinem Kopf. Er macht meine Glieder schwer und lässt mich gegen das Verlangen ankämpfen, mich tief in das Polster der Couch zu schmiegen, die Füße auf Mutters Schoß zu legen, und die Müdigkeit mit offenen Armen willkommen zu heißen. Die Uhr neben dem Kamin schlägt elf.

Noch drei Stunden, dann dürfen Achim und ich in meine Zimmer verschwinden, sollten wir nicht gerade dann in bedeutende Gespräche verwickelt sein. Ich kann Achims wohlbedachten Küsse schon schmecken. Sein leises Lachen hören.

„Beabsichtigst du noch immer, das College zu besuchen?“, fragt Mutter. Ich nicke. Es ist Pflicht, wenn nicht sogar eine Selbstverständlichkeit. Harvard, Oxford, eines der anderen englischsprachigen, hochgelobten Institutionen, an denen man mich angemessen zu behandeln weiß und mich niemand bedrängt. So brillant man seine Geschäfte auch abwickeln mag, letzten Endes wird man doch auf seinen Abschluss reduziert. Es wird der Tag kommen, an dem ich ein tadelloses Zeugnis benötige – und werde vorzeigen können. „Ein Juraabschluss wäre praktisch“, antworte ich und ringe um neue Energie, die meine Glieder wieder zum Leben erweckt und mich die noch junge Nacht überstehen lässt. „Ebenso Wirtschaft und Psychologie. Ich dachte, das stände außer Frage.“

Mutter nickt und zieht mir eine der Haarnadeln aus der Frisur. Automatisch halte ich ihre Hand fest. Sie schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Darf die eigene Mutter der Tochter nicht mehr dabei helfen, sich bettfertig zu machen?“ „Ich muss noch einmal nach unten gehen.“ Mich verabschieden, für die Fotografen ein letztes Mal posieren, beweisen, dass ich über der Zeit und den Gästen stehe. „Das wird nicht zwingend notwendig sein”, sagt Mutter glatt. „Bilder wurden geschossen, Monsieur Depót ist bereit, sich mit dir und Achim auseinanderzusetzen. Je länger der Abend und je höher der Alkoholpegel, desto gefährlicher wird er.“ Das ist wahr. Die Zunge wird lockerer, der Verstand träger. Ich bin noch nicht Diplomatin genug, um bis tief in die Nacht Geschäfte abwickeln zu können, ohne mich dabei zu verhaspeln oder in eigene Fallen zu tappen. Diese Freuden überlasse ich meinem Vater und meinem Verlobten. Beide beherrschen die nächtlichen Verhandlungen weit besser als ich.

„Wird Achim bald zu mir kommen?“, frage ich Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich endlich an seine Brust zu lehnen und das teure Aftershave einzuatmen. Seinen steten Puls an meiner Wange pochen zu fühlen. Seine Liebe ist ein viel zu seltener Luxus und raubt mir die klaren Gedanken. „Er dürfte bereits in deinem Zimmer auf dich warten.“ Kurz zaudert Mutter, etwas, das man von ihr nicht kennt. Sie wird dafür gefürchtet, dass sie jede noch so komplexe Frage binnen von Augenblicken beantwortet, jederzeit angemessen und korrekt. Zögern kennt sie nicht. Und hat es doch soeben getan. Die Nacht ist lang und anstrengend. Dieses Zucken beweist es.

„Sag mir, Tochter”, setzt Mutter an und reicht mir ein Glas mit kristallklarem Wasser. Ich stürze es hinunter und genieße den Nachgeschmack von Rosen. Mutter ist dazu übergegangen, mir dieses Getränk regelmäßig reichen zu lassen. Für meinen tadellosen Teint. „Hattest du in letzter Zeit seltsame Träume? Oder wurden dir unerwünschte Gegenstände zugestellt?“ Mein Herz stolpert. Mühsam kontrolliert stelle ich das leere Glas auf dem polierten Tisch ab. Die Briefe. Ich rümpfe leicht die Nase und stehe auf, greife nach meinen Schuhen und schenke Mutter ein professionelles Lächeln, penibel darauf bedacht, dass sie nicht in meinen Ausschnitt sieht und die kleine, weiße Ecke des Umschlags entdeckt. „Nein.“ Ein einziges Wort. Ich scheitere an vier Buchstaben. Mutter wirkt nicht erleichtert. Vielmehr misstrauisch. „Bist du dir sicher?“ Ich streiche mir eine Locke, die mir offen über die Schulter fällt, auf den Rücken und lache leise auf. „Es ist spät, Mama, wir sollten solch ungewöhnliche Gespräche nicht mitten in der Nacht führen.“

Ich trete vor den Kamin, gebe vor ein letztes Mal die Hitze zu genießen und die Glut zurecht zu schieben, während ich den Umschlag aus meinem Dekolleté ziehe und in die Flammen fallen lasse. Sie erheben sich, umfangen ihn, schenken ihm eine tödliche Umarmung, wie jedem Brief vor ihm auch, ehe sie nichts übriglassen als wenige Ascheflocken. Dass Mutter hinter mich getreten ist, bemerke ich erst, als sie eine Hand auf meine Schulter legt. „Du hast Recht, mein Kind.” Bestimmend reibt ihr Daumen über meinen Nacken. „Ich sehe dich in der Früh beim Brunch. Die ungarischen Oligarchen werden anwesend sein, der König Spaniens und die neureiche Familie. Riva hieß sie meines Wissens nach.“ Der Junge mit der Zahnfüllung, dessen Eltern jämmerliche 200.000 Dollar im Monat verdienen. Ich komme nicht umhin, abfällig die Lippen zu verziehen. Gioseppe Riva hat meine Anwesenheit nicht verdient. Vermutlich weiß diese Familie nicht, wie man die dargebotenen Delikatessen richtig betitelt und verspeist. Sie sind das Menü nicht Wert. „Achim und ich werden pünktlich sein“, verspreche ich ihr. Mutter drückt mir einen Kuss ins Haar. „Deine Entwicklung erfüllt mich mit Stolz, Chrona. Du bist mehr die Tochter, die ich mir wünschte, als ich jemals gehofft habe.“ Ihr Kompliment lässt mich lächeln. Aufrichtig. Stolz fließt durch meine Adern und vertreibt einen großen Teil der alkoholisierten Müdigkeit. „Ich danke dir.“ Rasch drücke ich Mutter einen Kuss auf die linke Wange, dann auf die Rechte, ehe ich zurück in den Fahrstuhl steige. Mutter bleibt vor dem Kamin zurück, stochert in der Glut und beobachtet die züngelnden Flammen. Eine bildhübsche Frau. Von ihr habe ich die anbetungswürdige Haltung und das unvergessliche Gesicht geerbt. Von Vater die dichten, welligen Haare und langen Wimpern. Sie erhebt sich, als die Türen zugleiten und der Aufzug mich nach oben in mein Apartment trägt.

Kaum betrete ich das Zimmer, verzieht sich mein Mund zu einem breiten Lächeln. Achim sitzt auf meinem Bett, die Krawatte gelöst und das Jackett an die geöffnete Badezimmertür gehängt. Er wirkt erschöpft, die Schultern leicht nach unten gesunken, mit tiefen Schatten unter den hellblauen Augen. Sobald sich der Fahrstuhl summend verabschiedet, um den nächsten Gast in die gewünschte Räumlichkeit zu bringen, blickt Achim auf und schenkt mir das gleiche Lächeln, das er heute schon viel zu vielen Menschen gewidmet hat. Ich lasse mich neben Achim sinken und schlinge die Arme um seinen Hals. Er duftet nach seinem Aftershave, nach Champagner und den Speisen, die man auf dem Buffet finden konnte. Das weiche Kribbeln schleicht sich in meinen Magen. Allein. Endlich. „Wo warst du so lange?“ Seine Lippen streifen mein Ohr. Kichernd zucke ich die Achseln und lasse die Nase bis zu seinem Kehlkopf wandern. „Mutter wollte noch das ein oder andere Detail mit mir besprechen. Sie ist ausgenommen erleichtert darüber, dass unser Abend erfolgreich war.“ Achim seufzt, macht sich von mir los und steht auf, nickt. „James hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir morgen Früh um Elf zum Brunch erscheinen sollen.“ Ich lege den Kopf in den Nacken und schicke einen stummen Fluch gen Himmel. Vater stielt mir die rare Zweisamkeit mit meinem Verlobten. Wenn alles gut läuft, erhaschen wir sechs Stunden Schlaf. Ich würde jede Einzelne opfern für mehr Zeit mit ihm. Und Achim? Achim ist verantwortungsbewusst, weiß um die Wichtigkeit des perfekten Auftritts und des Schlafes. Er würde unsere Zweisamkeit unter allen Umständen der Pflicht opfern.

Achim schlingt die Arme um mich und sieht mir tief in die Augen. Süße Sekunden vergehen. Dann endlich küsst er mich. Eine glückliche, überwältigende Wärme wallt in meinem Herzen auf, während seine Finger von meinem Hals über die Wangen, bis hinein in mein Haar wandern. Alles an Achim wirkt beherrscht, bis in die letzte Berührung, egal zu welcher Tageszeit.

Zum einen bewundere ich ihn für diese Kontrolle, zum anderen verfluche ich ihn dafür. Was würde ich dafür geben, zumindest ihm gegenüber den Anstand fallenlassen zu dürfen? Während seine Lippen über meinen Kiefer wandern, blitzt eine verrückte Idee in meinem nebligen Verstand auf, die mit Sicherheit dem Champagner geschuldet ist. „Lass uns in die Stadt gehen“, flüstere ich. Achim lässt von mir ab und sieht mich befremdet mit gerunzelter Stirn an. „Es ist mitten in der Nacht. Man würde uns erkennen.“ „Ich ziehe eines der alten Kleider an und binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz. Komm schon.“ Ich zupfe wie ein kleines Kind an seinem Hemdsärmel. „Es wäre so schön. Wann hatten wir das letzte Mal richtig Zeit für uns? Gemeinsam”, ich lehne mich an ihn, „allein in einer ganz gewöhnlichen Bar oder auf einer Parkbank.“ Die Antwort kommt mir schneller in den Sinn, als Achim reagieren kann. Noch nie. Nicht ein einziges Mal. Diese Erkenntnis erschreckt mich. Sie wirkt unmöglich. Aber so oft ich jeden einzelnen Moment mit Achim abspule, jede unserer gezählten Stunden drehe und wende, bleibt am Ende nichts als Professionalität und gestohlene Küsse übrig. Eine bitterschmeckende Erkenntnis, die sich selbst durch unsere Verlobungsfeier zog. „Du hast zu viel getrunken“, murmelt Achim und zieht mir, ebenso wie Mutter noch zuvor, die Haarnadeln aus der Frisur, eine nach der anderen. Er legt sie sorgfältig auf den hellen Nachttisch neben meinem Bett, reiht sie nach Länge sortiert auf. Die glänzenden, goldenen Spitzen erinnern an Dolche, besetzt mit den schönsten Saphiren und Smaragden, die man finden konnte. Mutter behauptet felsenfest, dass sie meine Augen zur Geltung bringen. Meiner Meinung nach lässt dieser Schmuck nicht nur sie erstrahlen. Auch meinen blassen Teint, die von Natur aus dunkelrote Farbe meiner Lippen und das helle Rosa in meinen Wangen erhält durch diese Steine neue, anbetungswürdige Nuancen. „Weil ich Zeit mit dir verbringen möchte?“, jammere ich. Achim schüttelt den Kopf. Eine neue Locke fällt mir auf die Schultern, kitzelt mich leicht im Nacken, so angenehm und atemberaubend nach Pfefferminze duftend wie sonst nur die Pflanze selbst. „Weil du sprichst wie ein kleines Mädchen.” Energisch löst er eine verirrte Strähne. „Erwachsene Menschen stehen für ihre Pflichten zu jeder Zeit hundertprozentig ein. Besäufnisse zwischen Proleten passen nicht zu deinem Leben.“ Ich seufze schwer und suche Achims Blick. Diese stechend blauen Augen. „Es ist mein Geburtstag”, erinnere ich Achim sacht. „Kann man nicht wenigstens heute etwas Verrücktes mit mir unternehmen? Einmal.” Ich bettle. Erniedrigend. Heute ist mir jedes Mittel recht. „Es ist sozusagen meine letzte Gelegenheit“, versuche ich den Leichtsinn vor mir selbst zu rechtfertigen. Achim nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht mir mit einem schiefen Lächeln in die Augen. „Chrona, du bist das reichste und schönste Mädchen dieser Welt. Du wirst niemals die Chance dazu haben, solche Absurditäten zu vollziehen. Genieße das, was du hast. Jede Frau beneidet dich darum.“ Das ist wahr. Egal ob um mein hübsches Gesicht, die vollen Haare, die leuchtenden Augen, das Geld, meinen Verlobten, den Ruhm oder die feine Gesellschaft. Anders als für gewöhnlich erfüllt mich dieser Gedanke nicht mit Stolz. Der Wunsch, dieses Gebäude zu verlassen, nimmt Dimensionen an, die ich nicht in Worte fassen kann. Die frische Nachtluft riechen, mit Achim, nur für ein paar gestohlene Stunden. Das erste Mal in meinem Leben möchte ich so tun, als müsste ich morgen früh nicht mit tadellos gefalteten Händen an dem nächsten Tisch sitzen und jedes Wort auf die Waagschale legen. Dieser Wunsch ist mir so fremd wie die nächtlichen Straßen der Stadt von Nahem. Aber… er lässt mich nicht mehr los. „Bitte.“ Mehr bringe ich nicht über die Lippen, flehe mit jeder Faser in mir, dass Achim nur heute Abend sein Pflichtbewusstsein für wenige Stunden vergisst. Achim antwortet nicht. Stattdessen fährt er damit fort, meine Frisur zu lösen. „Wo sind deine Zimmermädchen?“, fragt er mich sachlich. Ich unterdrücke ein schweres Seufzen. Das Thema ist vom Tisch. „Unten. Ich habe sie darum gebeten, sich zu vergnügen, bis es für mich Zeit wird, ins Bett zu gehen.“ „Wo sind sie jetzt?”, wiederholt Achim kühl. Wir sitzen in meinem Zimmer. Seine Missbilligung kann ich in Maßen nachvollziehen. „Du brauchst jemanden, der dir das Kleid aufknöpft und dir die Haare auskämmt.“ Ich halte Achims Finger fest, als er eine der letzten Haarnadeln auf den Nachttisch legt. „Warum hilfst du mir nicht mit meinem Kleid?” Fremde Worte eines sinnlosen Wagemuts. „Ich möchte niemanden mehr sehen außer dir.“ Die redenden Menschen haben mich erschöpft. Ihre Gratulationen, die Begeisterung. Achim verzieht missbilligend den Mund. „Du benimmst dich unangebracht.“ Ich zucke die Schultern. „Na und? Wir sind allein. Niemand wird jemals davon erfahren, wenn du mein Kleid aufknöpfst oder wir nach draußen verschwinden. Ich muss nicht einmal etwas mit dir trinken. Lass uns nur spazieren gehen. Allein.“ Irgendwo, wo niemand Zugriff auf uns hat. Wo wir Wir sein dürfen, bevor wir zurück in das Leben schlüpfen, das ich so sehr liebe. „Der Alkohol ist dir zu Kopf gestiegen. Es ist gefährlich für dich, ohne Leibwächter das Gebäude zu verlassen. Erinnerst du dich an den Vorfall von vor zwei Monaten?“ An den wahnsinnigen Mann, der sich mit seiner Kamera auf mich stürzte und mir um ein Haar die Jacke zerrissen hätte. Ich presse die Lippen fest aufeinander, fühle mich von meinem Verlobten gescholten wie ein kleines Kind. Natürlich verstehe ich seinen Standpunkt und würde ihn zu jeder Zeit ebenso vertreten wie er. Nur jetzt nicht. Alles in mir brüllt danach, hinaus zu rennen und sei es in diesem Kleid. Der Regen prasselt noch immer gegen den Tower, lässt sich in langen Schlieren an den Fenstern hinuntergleiten, fängt mit jedem Tropfen eine neue Facette des Nachtlebens auf. Die Unvernunft hat mich gepackt. Nie wieder trinke ich so viel um diese Uhrzeit. Der Alkohol verdreht meine Sinne, bis ich zu jemandem werde, der ich nicht sein will.

Nicht sein darf. Schweigend warte ich, bis Achim die letzten Nadeln gelöst hat und sich an die Knöpfe macht. Es ist ein beachtlicher Vorstoß. Wäre es den Reportern möglich, mein Apartment zu betreten, sie würden sich die Mäuler zerreißen. Aber sie kommen hier nicht hinein. Wir sind in Sicherheit. Das weiß Achim auch. Er streicht mir die Haare über die Schulter, um besser an die zahlreichen Knöpfe zu gelangen. „Das sind hunderte“, stellt Achim nüchtern fest und löst sie. Einen nach dem anderen. Seine Fingerspitzen hinterlassen eine kribbelnde Feuerspur auf meiner bloßen Haut. Ich nicke. „Es hat auch lange gedauert, bis ich fertig war für diesen Abend.“ Allein das Ankleiden nahm eine Stunde in Anspruch. Von den Haaren und dem Make-Up ganz zu schweigen. Die Fingernägel, die perfekte Schmuckauswahl zu dem Collier, die passenden Schuhe. Wie soll der Rock optimal fallen? Passt die Farbe des Lippenstifts zu den Nägeln und diese zu den Diamanten? Wie setzt man meinen Verlobungsring am besten in Szene, ohne ihn penetrant hervorzuheben? Achim drückt mir einen zarten Kuss in den Nacken. „Du siehst bezaubernd aus und genau aus diesem Grund widerstrebt es mir, dich auf die Straße zu lassen. Wir können auch hier Spaß haben.“ Vermutlich. Aber hier duftet es nach teurem Parfum und das warme Licht spiegelt sich in den Kristallen des Kronleuchters, wirft tausend helle Facetten auf das edle Mobiliar. Gerade jetzt möchte ich nicht über den Wolken schweben. Ich wünsche mir Standfestigkeit und die bekomme ich nur auf dem nassen Asphalt. Soll der Regen doch meine Haare durchweichen und meine Schminke verlaufen lassen. Soll er das Kleid wie eine zweite Haut an meinen Körper kleben. „Ich wünsche es mir so sehr“, wispere ich und sehe aus dem Fenster. Die Tropfen zerspringen fröhlich auf dem gepflegten Glas. Gelbe, grüne, orange Tupfen huschen darüber, nur um mit dem nächsten Wimpernschlag zu verschwinden. „Eine halbe Stunde. Ich flehe dich an, Achim.“ Er schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht verantworten.“ Sanft küsst er mich. Noch immer beherrscht. Der Alkohol löst jede Hemmschwelle ins Nichts auf und ich danke im Geiste Mutter dafür, dass sie mir die letzten Stunden erlassen hat. Etwas muss in meinem Glas gewesen sein. Es lässt mich schwindelig und atemlos fühlen. „Bitte“, wispere ich zwischen zwei Küssen. „Nur ein einziges Mal. Einmal”, beschwöre ich Achim. „Wir werden es nie wieder tun. Niemand wird jemals etwas davon erfahren.“ „Es regnet in Strömen.“ Ich zucke die Schultern. „Na und? Das ist doch aufregend.“ Ich habe das Gefühl, dass der Boden unter meinen Füßen schwankt. „Chrona.“ Achim seufzt tief und schiebt meine Ärmel nach vorn. Sie gleiten von meinem Körper. Die Knöpfe sind gelöst. „Wo liegt dein Nachtzeug?“ Ich ziehe es unter den Decken hervor. Er hilft mir aus meinem Kleid und legt es ordentlich gefaltet über einem Stuhl ab. Achim ist mehr Gentleman als er sein sollte, dreht sich respektvoll um, während ich in Unterwäsche vor ihm stehe und mir den Pyjama anziehe. Der Stoff ist wundervoll weich auf meiner Haut und nimmt meine Körperwärme auf, um sie zurückzustrahlen und mich in seine sichere Umarmung zu ziehen. Ich höre das leise Knistern von Stoff, während Achim sich ebenfalls entkleidet und umzieht. Das Hemd legt er auf mein Kleid, die Hose dazu. Einladend schlägt er die Bettdecke bei Seite und ich krabble darunter. Das war unsere Diskussion. Er hat sie gewonnen, wie jedes Mal. Ich bewundere Achims Raffinesse und Autorität. Seine Selbstbeherrschung und ruhige Kontrolle. Gerade jetzt hätte ich mir mehr einen Mann gewünscht, der mich aus ganzem Herzen liebt und bereit ist, etwas Verrücktes mit mir zu unternehmen. Mich Leben atmen zu lassen. Es juckt mich in den Fingerspitzen auf den Knopf des Aufzugs zu drücken und mit Achim nach unten zu fahren und mich nach draußen in den prasselnden Regen zu stellen, damit seine Kälte meine betäubende Trunkenheit fortwäscht. Stattdessen gebe ich mich Achims Umarmung hin. Er drückt mir einen Kuss ins Haar, der mich wohlig aufseufzen lässt. Ich schmiege mich an ihn, bette den Kopf auf seine Brust und lausche dem regelmäßigen Herzschlag.

Achim hat Recht. Jedes Mädchen beneidet mich. Nicht nur um meine Schönheit und mein Geld, den Erfolg und die Gesellschaft, sondern vor allem um ihn. Es gibt keinen beherrschteren, verantwortungsvolleren Mann auf dieser Welt, der mit einem ähnlichen Charisma gesegnet wurde. Anstatt mich damit zu befassen, dass Achim nicht mit mir vor die Tür gehen will, sollte ich mich auf seine durchdachten Gründe konzentrieren. Verrückte gibt es überall. Was würden sie dafür tun, um mit mir ein Foto zu erhaschen? Nur von hinten auf mich springen, die Kamera gezückt? Achim allein könnte mich nicht vor ihnen beschützen und ich verstehe ihn, dass er mich in unseren wenigen Stunden mit niemandem teilen möchte. Am wenigsten mit Fans oder Paparazzi. Das was wir haben, ist besser. Mit dem Kopf an seiner Brust einzuschlafen und den Atem regelmäßig kommen und gehen zu hören.

Achim dämmert schnell weg. Vorsichtig fahre ich mit den Fingerspitzen die Schatten unter seinen geschlossenen Augen nach. Sie erinnern an Blutergüsse. Ich möchte nicht wissen, wie viel Make-Up man ihm aufdrängen musste, um das zu retuschieren. Es ist eine kleine Ehre, ein großer Beweis von Vertrauen, dass Achim sich mir erschöpft zeigt. Seine Verletzlichkeit offenbart. Ich möchte etwas gegen die tiefen Augenringe tun, will, dass er wieder längere Nächte und einen erholsameren Schlaf bekommt. Das gleicht einer Unmöglichkeit, wenn er von Geschäftsessen zu Geschäftsessen, Verhandlung zu Verhandlung eilen muss, ständig hochkonzentriert. Selbst ein brillanter Kopf wird müde und macht Fehler. Vater und Mutter wissen das und versuchen ihn zu entlasten.

Diese dunklen Schatten beweisen, dass ihre Bemühungen bei Weitem nicht ausreichen. Achim muss am Ende seiner Kräfte angelangt sein. Normalerweise schafft er es selbst im Schlaf, sich zu beherrschen und jede überflüssige Berührung zu vermeiden. Heute Nacht schlingt er die Arme fest um meine Hüfte und vergräbt das Gesicht an meinem Hals. Er schnarcht leise. Ich muss lächeln, streichle ihm durch die weichen Haare. Die Uhr neben meinem eigenen Kamin gibt keinen Mucks von sich, trotzdem glaube ich die Zeiger rennen zu hören. Sie nehmen mir jede Ruhe, tilgen die Erschöpfung und den alkoholisierten Nebel in meinem Kopf. Behutsam schiebe ich Achim von mir und klettere aus dem Bett. Leise flackert die Lampe im Bad auf. Ich schließe die Tür hinter mir und nehme das Make-Up ab, Schicht für Schicht, steige unter die Dusche in der Hoffnung, dass ihre Wärme meine Schläfrigkeit zurückbringt. Stattdessen vervielfacht sie meine undefinierbare Anspannung.

Fünf Minuten vor Mitternacht

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