Читать книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - Страница 9
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Lautlos schließe ich den Reißverschluss meines alten Kleides und binde mir die Haare zu einem nachlässigen Pferdeschwanz, ehe ich mir die Kapuze meines Mantels über den Kopf ziehe und den Knopf des Fahrstuhls betätige. Nahezu entschuldigend drehe ich mich noch einmal zu Achim um. Er hat sich an mein Kissen geklammert und das Gesicht darin vergraben. Er wirkt jung und verletzlich, ganz und gar nicht wie ein gefürchteter Aktionär. Seine Sorgen um mich, dass mir unten in der Stadt, allein, Leid zustoßen könnte, lässt mich zögern, als die Aufzugtüren fast lautlos vor mir aufgleiten. Was, wenn ich ernsthaft verletzt werde? Wie sollte ich das erklären? In den Spiegeln des Fahrstuhls flackert mein Bild auf. Die Frau vor mir kann unmöglich Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark sein. Ihre Erscheinung grenzt beinahe an ungepflegt, die Augen wirken stumpf, die Lippen schmal. Niemand wird mich in diesem Aufzug erkennen. Am wenigsten meine eigenen Eltern. Ich ziehe scharf die Luft durch die Zähne ein. Dann betrete ich den wartenden Fahrstuhl und sehe angespannt auf mein Spiegelbild, während er mich hinab trägt. Nicht eine Sekunde wage ich es, zu blinzeln. Die unbestimmte Anspannung lässt mich beben. Auf der schmalen Anzeige fliegen die Stockwerke an mir vorbei, verlieren mehr und mehr unter der seichten Musik an Bedeutung, bis der Fahrstuhl hält und mich im Foyer ausspuckt. Ich senke den Kopf und ziehe die Schultern leicht nach oben. Eine Haltung, die sich unnatürlicher nicht anfühlen könnte. Für diesen Moment bin ich nicht mehr als ein kleinlautes Mäuschen, das es kaum wagt, einem Menschen in die Augen zu sehen. Portier und Angestellte kennen dieses jämmerliche Bild gleichermaßen.
Oft genug schleichen sich die Angestellten des Nachts aus den Zimmern. Ich bin nur eine von Vielen. Die befürchteten Paparazzi lauern vor der Tür, schießen Fotos, aber nicht mit der üblichen Begeisterung. Entgegen meiner Gewohnheit gehe ich nicht aufrecht und mit strahlendem Lächeln, huldvoll winkend an ihnen vorbei. Ich renne fast und kann es kaum erwarten, den sauren Regen auf meinem Gesicht zu spüren.
Nie zuvor habe ich einen ähnlichen Drang gekannt. Ein Sehnen nach blanker, bebender Freiheit. So muss es sich anfühlen, wenn man seit Tagen nichts mehr getrunken hat, Schlafmangel jemanden in den Wahnsinn treibt oder die Isolation in einer Zelle einem die Sinne nimmt. Derart hektisch bin ich nicht mehr als die makellose Aktionärstochter zu erkennen.
Ein dicker, kalter Tropfen fällt auf meine Kapuze. Ich hebe dem Himmel das Gesicht entgegen und atme tief ein. Die Luft schmeckt nach Abgasen und Chemikalien, verbranntem Gummi und nassem Asphalt. Normalerweise halte ich mich von ihr fern wie vor der Pest. Sie schadet meinem Teint. In diesem Moment aber scheint sie meine wirren, vernebelten Gedanken zu klären und löst einen Teil der Furcht, die meinen Körper wie ein gespanntes Band vibrieren lässt. Hinter mir tritt Monsieur Depót aus dem Hotel, sofort spannt der Chauffeur einen Regenschirm über seinem Kopf auf, und ich ziehe mir reflexartig die Kapuze tiefer ins Gesicht. Beginne zu rennen. Das ist nicht der richtige Augenblick, um meinen künftigen Geschäftspartner zu verabschieden.
Ich fühle mich, als würde ich verglühen, wenn ich nicht in Bewegung bleibe und die erfolgreichen, fantastischen letzten Stunden verarbeite. Als würde andererseits die mäßig kontrollierte Freude über meine kleinen Erfolge mich auffressen oder die sich legende Spannung meine Muskeln in Pudding verwandeln.
Mir bleibt nur zu hoffen, dass Achim tief und fest schläft. Sollte er meine Abwesenheit bemerken, winkt mir ein Donnerwetter, das nicht nur er über mich hereinbrechen lassen wird. Achim ist verpflichtet, meine Verfehlungen an Mutter und Vater weiterzugeben. Beide werden mich unsanft darauf aufmerksam machen, wie gefährlich und leichtsinnig diese Aktion hier ist. Was mir alles hätte zustoßen können. Wie sehr ich meinem Image schade, wenn man mich in diesem Zustand antrifft. Die Presse würde sich überschlagen, die Gerüchteküche brodeln, bis sie meinen perfekten Ruf zerkocht hat und nichts mehr davon übriglässt.
Ich gehe trotzdem weiter und nehme dieses unkalkulierbare Risiko auf mich, während der prasselnde Regen mich von der Welt abschneidet. Tatsache bleibt, das hier ist meine letzte Chance allein Luft zu schnappen. Freiheit zu kosten, ehe der goldene Käfig sich für immer schließt.
Ab dem morgigen Tag bin ich offiziell volljährig. Von da an wird ein Skandal schwerer wiegen als je zuvor. Mit meiner jugendlichen Arroganz und Naivität werde ich nie wieder eine Handlung entschuldigen können. Fehltritte darf ich mir nicht leisten. Ruhm hat seinen Preis.
Die nächtliche Stadt hat nichts Verzauberndes an sich. Sie wirkt stumpf und abweisend. Restlos verlassen. Das rege Treiben des Tages hat sich in den Schatten verloren. Nach und nach sickert die Kälte durch den dünnen Stoff meines Mantels und kein Zimmermädchen ist zur Stelle, das mich in eine schützende Decke hüllt. Kein Butler, der wärmere und bequemere Schuhe für mich bereithält, und niemand, der mir Wärmekissen für meine empfindlichen Finger geben kann. Ich verfluche mich. Aus welchem Grund habe ich alle Vernunft fahren lassen und bin allein auf die Straßen spaziert?
Wo bin ich überhaupt? Ruckartig bleibe ich stehen und sehe mich um. Tausend Fassaden teurer und mäßig gepflegter Läden schmücken die Straßen, Ampeln wechseln die Farben und Autos rasen an mir vorbei. Wie weit bin ich gelaufen ohne aufzusehen? Wie oft abgebogen? Beißender Wind kriecht mir unter die Kapuze und den Hals hinab, zusammen mit eisigem, nassem Regen. Vorwurfsvoll niese ich. Niemand, der mir ein Taschentuch reicht. Ich habe nicht einmal mein iPhone dabei, um meinen Chauffeur zu kontaktieren. Die Entscheidung allein vor die Tür zu gehen, hat mich in eine Welt gesandt, in der ich mich kaum hilfloser fühlen könnte. Diese Straßen sind nicht die, die ich kenne. Sie sind schmutzig und nur vereinzelt belebt von schlurfenden oder eilenden Gestalten, die dichte Schatten hinter sich herziehen. Neugierige Blicke werden mir von vorbeihastenden Passanten zugeworfen. Sofort ziehe ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. Man darf mich nicht erkennen. Der Teufel bricht los, sobald die Presse von meinem Ausflug Wind bekommt. Ich kann mir schon denken, was für Fantasien dann gesponnen werden von heimlichen Affären, Drogenkonsum und zweiten Identitäten. Alles, solange es die Menschen dazu bringt, die bunten Klatschblätter zu kaufen. Kurz ziehe ich es in Betracht, einen Passanten zu fragen, wo ich mich befinde und wie ich zurück in mein Apartment gelange. Ich mache wenige Schritte zurück in den Schutz eines alten Vordaches. Laut prasselt der Regen auf das Metall.
Niemand dieser Menschen der Nacht wirkt, als würde er sich häufig genug in gehobener Gesellschaft befinden, um mich angemessen anzusprechen und zu betiteln. Ich drehe auf dem Absatz um, sehe hinter mich. Das immer gleiche Bild von Läden und Menschen, die nie zu schlafen scheinen. Einige von ihnen tragen stinkende, fransige Jacken, andere ausgetretene Schuhe, die die längste Zeit weiß gewesen sind. Widerwärtig. Schlagartig verstehe ich, warum Achim diese soziale Schicht meidet und meine Eltern wenig von Wohltätigkeitsgalas halten: An diese Menschen ist jeder Cent verschwendet. Man hat ihnen die Chance geboten, sich nach oben zu arbeiten, und sie schlugen sie aus. Sie haben beschlossen, ihr Leben zwischen kalten Fassaden und stinkenden Straßen zu fristen. Ihre Ambitionen nennt man Feigheit und Faulheit, beides Eigenschaften, die nicht belohnt werden sollten. Und doch tragen die wenigen Menschen beides zur Schau, als wäre es gewöhnlich und annehmbar, zu versagen. Ich rümpfe die Nase und hebe meinen Rock einige Zentimeter an, um ihn nicht mit ihrem Schmutz zu besudeln. Leere Dosen liegen an den Straßenrändern und unter den Gullideckeln hört man das Wasser in einem reißenden Fluss rauschen, während immer neues nachkommt, mir in Strömen den Körper hinabfließt und mich zittern lässt. Ich vermisse Achims Wärme neben mir, die Sicherheit, die er mir vermittelt. Ich will, dass mein Kindermädchen mir den Schirm über dem Kopf aufspannt und der Chauffeur jetzt sofort vorfährt, damit das Frieren ein Ende hat und ich zurück in mein Bett komme. Es ist viel zu spät für einen Spaziergang. Morgen werde ich in aller Frühe zum Brunch erwartet. Nicht morgen. Heute. In wenigen Stunden. Die Visagistinnen werden ihre liebe Mühe damit haben, die Augenringe zu kaschieren und mich frisch und ausgeruht wirken zu lassen. Grölend kicken unreife Jungen vor mir Dosen umher, feuern sich gegenseitig an, nur um das Metall mit dem Fuß gegen eine Mauer zu stoßen. Ich schnaube abfällig. Wie ärmlich man sein muss, im Alter von zwanzig Jahren mit einer Dose Ball zu spielen.
Der Regen wird, wenn möglich, noch stärker und trommelt unnachgiebig auf mich ein. Ich bin durchnässt bis auf die Knochen. Unter der Kapuze des Mantels läuft mir das Wasser die Schultern hinab. Welcher Weg führt nur in mein Apartment? Irgendwo hier … dort … wo? Die Umstände zwingen mich zu erbärmlichen Maßnahmen. Ich berühre den Ärmel eines Mannes, der leere Flaschen und durchweichtes Papier in einen Rucksack stopft. Er stinkt nach verbrannter Vanille und Tabak. „Entschuldigen Sie”, sage ich, „ist Ihnen der Weg zum Clark-Tower bekannt?“ Meine Zunge bewegt sich nur widerwillig. Es ist unsagbar schwer, fragende Worte an jemanden wie ihn zu richten. Jemanden ohne Stil und Klasse. Der Mann blickt auf und schenkt mir ein zahnloses Grinsen, die Zigarre im Mundwinkel klemmend. Sein Gesicht wirkt trocken, unberührt von dem strömenden Regen, der wie ein schützender Vorhang zwischen uns hängt und jedes Geräusch zu tilgen beginnt. Um uns herum herrscht zähe Stille. Als wurde die Zeit für jeden angehalten außer für mich. Und diesen Proleten. „Immer der Nase nach, Kleines.“ Seine Stimme klingt rauchig und verzerrt, uralt. Sein Grinsen wird noch eine Nuance breiter. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als er nach der nächsten Flasche greift und sie in seinem Rucksack verschwinden lässt. Nutzloses Pack. Eine Dame steht vor ihm und er bietet ihr nicht einmal den grauen Mantel an. Es ist mir gleichgültig, dass der Gestank sich in dem billigen Stoff eingenistet hat. Das Kleidungsstück scheint warm zu sein und wasserfest. Im Gegensatz zu dem, was ich trage. Der Mann stopft die letzte Flasche hinein, ehe er durch den Regen hindurch verschwindet, ohne sich zu mir umzudrehen. Der dichte Vorhang verschluckt ihn nach wenigen Metern und sperrt mich in meine eigene, durchweichte Welt.
Ich verfluche den Mann, fröstle schrecklich, während meine Hände langsam taub werden. Ob Achim inzwischen aufgewacht ist und bemerkt hat, dass ich nicht mehr neben ihm liege? Hoffentlich schickt er einen Suchtrupp los, der mich aus dieser Eiseskälte rettet. Die Füße tun weh in den Schuhen und meine Zehen frieren gemeinsam mit den Fingern ab. Resigniert schlinge ich die Arme um mich. Nie wieder. Nie wieder tue ich etwas derart Dummes und Unüberlegtes.
Unsicher bewege ich mich über den verdreckten Gehweg fort, sehe Valentinohandtaschen in einem Schaufenster rechts von mir, ebenso unerreichbar wie mein Bett. Wenn doch nur der Ladeninhaber noch anwesend wäre. Er würde mich erkennen und mir das Telefon zur Verfügung stellen, damit ich meinen Chauffeur benachrichtigen kann. Bei dem nächsten Schritt stolpere ich restlos erschöpft über meine eigenen Füße und kann mein Gleichgewicht nicht wiederfinden. Der Saum meines Kleides wickelt sich um die hohen Absätze meiner Schuhe und tut sein Übriges. Fluchend falle ich zu Boden. Niemand streckt die Arme nach mir aus, um mich aufzufangen. Nicht einer dreht sich nach mir um. Als wäre ich nichts weiter als ein ungezogenes Gör auf der Straße, das im Schutz der Dunkelheit zu einem ihrer zahlreichen Liebhaber eilt.
Wasser läuft mir in die Augen und der Gestank von Urin wird derart penetrant, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Er übertüncht jeden Gestank von Abgas, Regen und Asphalt. Das stetige Rauschen ebbt ab. Finsternis. Mein Herz stolpert entsetzt. Ist der Strom ausgefallen? Ein Grölen zu meiner Rechten lässt mich herumzucken. Neben mir steht ein Haus, an das ich mich nicht erinnern kann, klein und brüchig. Es wirkt gänzlich fehl am Platz. Warmes, flackerndes Licht kommt aus seinem Inneren und trunkene Schemen tanzen vor seinen Fenstern. Ich schlinge die Arme fester um mich und stehe auf, nur um in der nächsten Sekunde erneut umzuknicken. Panik steigt in mir auf. Das sind Kopfsteinpflaster. Und… kleben an meinen Händen Fäkalien? Ich hebe sie zu meinem Gesicht und würge. Selbst in der Dunkelheit kann ich die widerwärtig stinkenden Flecken auf dem teuren Stoff meines Kleides ausmachen, das wie eine zweite Haut an mir klebt. In der Ferne schlägt eine Uhr, gefolgt von einem unbarmherzigen Donnern. Eine Turmuhr? Nichts erinnert an die hellerleuchtete Straße, durch die ich vor wenigen Wimpernschlägen noch irrte. Der Regen ist versiegt und keine Wolke bedeckt den Himmel. Unzählige Sterne, viel mehr, als ich je zuvor in meinem Leben gesehen habe, hängen am Zelt über mir und funkeln weiß wie kostbarste Diamanten. Sie sind die einzigen Lichtquellen neben dem einsamen Haus, in dessen Inneren die Proleten sich betrinken und ihren letzten Anstand vergessen.
Hinter mir ein leises Keuchen. Ich drehe mich um. Schemenhaft steht dort ein Mensch, erleuchtet von den Lampen des schäbigen Gebäudes, und deutet unanständig mit nacktem Finger auf mich. „Eyne Hex“, japst er. Irritiert lege ich die Stirn in Falten. Aus dem Haus strömen nach und nach die Besucher, Grölen brüllt und vereinzelte Schreie erklingen. Weibliche Schreie? Meine Muskeln verspannen sich. Die Frauen wirken, als hätten sie Schmerzen. Brodelnde Hitze strömt durch meine Adern. Das Gefühl ist mir bekannt. Es kommt auf, wann immer ich in bedeutenden Verhandlungen vor einem Scheidepunkt stehe, unsicher welcher Weg der Richtige ist. Wann immer diese glühende Wärme durch meinen Körper schießt, gibt es nur eine Antwort darauf: Fassung. Ich straffe die Schultern und recke das Kinn in die Höhe. Wo ist Achim? Ich brauche ihn hier, neben mir, an meiner Seite. Oder einen Butler oder meinen Chauffeur, irgendwen, der sich zwischen mich und diese Meute stellen könnte. Betteln die Frauen? Der Mann vor mir und ich taxieren uns, beide angespannt schweigend, er noch immer mit dem Finger auf mich deutend.
„Eyne Hex!“ Sein Ruf kommt plötzlich und hallt überlaut durch die Nacht. Ich zucke zusammen, während er sich aus seiner Starre löst und auf mich zukommt. Reflexartig mache ich einen Schritt zurück und bleibe mit dem centgroßen Absatz zwischen zwei Steinen hängen.
Ich unterdrücke den Impuls, kopflos davonzulaufen. Ich habe keinen Grund, ihn zu fürchten. Er ist nichts weiter als ungehobeltes Pack. Er wird es nicht wagen, mich anzurühren. Und wenn doch, kostete es ihn seine Zukunft.
Das Schreien, das Kreischen der Frauen will nicht verstummen. Schnelle Schritte nähern sich uns, während ich die Arme vor der Brust verschränke. „Halten Sie Abstand oder ich schalte meinen Anwalt ein.“ Der Mensch, der Mann, tritt in den Lichtkegel, der durch die Fenster auf die brüchige Straße fällt. Dreckige Schlieren ziehen sich über sein vernarbtes Gesicht. Seine Augen zucken unruhig. Nicht eine Sekunde fokussiert er sich. Die Turmuhr schlägt noch immer ihren Takt. Diese skurrile Situation senkt sich wie ein erstickendes Tuch über mich. Mein Kopf ist wie leergefegt. Achim? Mutter? Mein Sicherheitspersonal? „Eyne Hex“, wiederholt der Prolet und schaut an mir vorbei. Mein Kopf zuckt herum. Zwei weitere Männer. Ich will entsetzt aufschreien. Wo befinden sich die Sicherheitsleute, wenn man ein einziges Mal ihre Anwesenheit benötigt?
Einer der zwei Schatten hinter mir kichert dunkel. Die Schreie der Frauen werden lauter, ihr Flehen, das ich größtenteils nicht verstehe. Sie sprechen keine Sprache, die mir geläufig ist. Fast könnte man meinen, es wäre Deutsch, aber ihre Aussprache klingt derart verzerrt und verfälscht, dass es ebenso gut jede andere Sprache oder Mundart sein könnte. „Brenn soll de Hex“, zischt er. „Teufelsbrut.“ Er macht Anstalten mich mit seinen dreckigen, schwieligen Fingern zu berühren. Die Nägel sind rissig und ihm fehlt die Hälfte seiner Zähne. Er ist das Abstoßendste, was mir jemals begegnet ist. Abschaum, ohne Frage. Abschaum, der sich vor mir aufbaut und mich in die Enge treibt.
Angst erwacht lediglich, wenn ich Schwäche zulasse. Rücksichtslos schlage ich seine Hand weg. „Sollten Sie mich anrühren, werde ich Sie wegen Körperverletzung und sexueller Belästigung verklagen.“ Der ungehobelte Angreifer scheint wenig beeindruckt. Versteht er mich überhaupt? Der erste Mann versucht sich ebenfalls an diesem Abklatsch des Deutschen, das mein Hauslehrer mir über Jahre versuchte nahezubringen. Was suchen Menschen wie diese beiden in New York City? Ein weiterer Schritt auf mich zu. Er umfasst meine Oberarme mit seinen schmierigen, stinkenden Fingern. Viel zu fest. Jedes Härchen auf meinem Körper stellt sich auf. „Lassen Sie mich los!“, befehle ich auf Deutsch. Nichts scheint zu dem Mann durchzudringen. Als wäre er in Watte gepackt und ich nichts mehr als ein Laiendarsteller, der in eine grausige Vorstellung gezogen wird. „Kleyne Hex“, murmelt er und berührt mein Gesicht. Ich schlage ihm auf die Finger. „Wagen Sie es nicht, mich anzurühren.” Der Puls rast. „Ich habe den besten Anwalt, den Sie sich ausmalen können, und er wird mit Sicherheit nicht zulassen, dass die Richter Gnade vor Recht ergehen lassen.“
Der Mann, der mich zuerst entdeckte, gesellt sich zu dem Zweiten und berührt mit seinen kurzen Fingern den teuren Stoff meines Mantels. Wie die Geier. Wütend reiße ich mich von ihm los. Kämpfe gegen die Angst an, die mich zu überwältigen droht. Ich darf nicht einknicken. Die Konsequenzen wären markerschütternd. Diese Männer kennen weder Anstand noch Respekt. Lasse ich zu, dass Furcht mich überrollt, werden sie weit Schlimmeres tun, als mein Gesicht zu berühren. Warum nur bin ich nicht neben Achim in meinem Bett geblieben? Ich könnte gerade jetzt das Gesicht an seiner Halsbeuge vergraben. Stattdessen… Ja, was? Öde Nacht. Fremde Sprachen. Beißende Gerüche. Wüsste ich es nicht besser, ich würde behaupten, ich bin durch Zeit und Raum gereist. Ich zwinge mich, davon abzusehen, jeglichem Übernatürlichen Glauben zu schenken. Die daraus resultierende Wahrheit ist weit erschütternder als der dümmliche Gedanke, mich von jetzt auf gleich an einem anderen Ort zu befinden: Bei meinem großen Fest ist es jemandem gelungen, Rauschmittel unter den Champagner zu mischen. Mir bleibt nur zu hoffen, dass möglichst wenige der Anwesenden meine wirren Beschwerden durchleben müssen. Unter anderen Umständen wird es unmöglich den befürchteten Skandal zu umgehen. Die reißerischen Schlagzeilen und unangenehmen Interviews. Unsanft schlingt der Erste die Arme um meine Hüfte und hebt mich hoch. Ein erschrockener Schrei entfährt mir, ehe ich nach ihm schlage. Er wagt es mich zu heben! Nicht einmal Achim ist das erlaubt. „Lassen Sie mich auf der Stelle runter. Ich verlange, Einblick in Ihre Personalien zu erhalten!“
Der Abschaum lacht dunkel, sagt kein Wort. Langsam kann ich die Angst, die sich durch meinen Körper windet, nicht mehr ignorieren. Mit Eisfingern greift sie in mein Herz und erschwert mir das Atmen. Sie schleifen mich in Richtung der schreienden Frauen. Was tun die Männer ihnen an? Ich bete dafür, dass ich es nie erfahren muss. Ich hoffe auf ein Wunder. Den vorfahrenden Jeep meiner Security. Achim, der hinter mir die Straße entlangeilt. Von mir aus auch auf eine Bande, die ihren Mut beweisen will. Nichts. Mir bleibt nur eine jämmerliche Hoffnung, dass die Männer von mir ablassen und sich all das hier als geschmackloser Scherz entpuppt.
Durch die zähen Lichtverhältnisse, glaube ich Kleidung auf dem schmutzigen, besudelten Boden liegen zu sehen. Ich lasse den Blick über die Spur wandern. Ich atme ein, aber nicht wieder aus. Entsetzen schnürt mir die Kehle zu. Das ist unmöglich. Vor mir entsteht ein skurriles Bild. Frauen wurden gewaltsam an Holzscheite gebunden, die viel zu nah bei einander stehen. Stroh steckt zwischen den Stümpfen, an die man sie gekettet hat. Die Szene ist absurd. Wie aus einer anderen Zeit. Kein Rauschmittel der Welt sollte es entstehen lassen können. Nichts habe ich je gesehen, was hiermit vergleichbar wäre. Niemals könnte ich mir diese Schreie, dieses Flehen, dieses Leid ausmalen. „Brenn, brenn, brenn!“, skandiert die Meute, restlos betrunken, die vollen Krüge in die Luft stemmend. Einer der Männer versucht, mir den Mantel von den Schultern zu reißen. Ich trete nach ihm. „Wenn Sie es wagen, mich noch einmal anzufassen, werden Sie nie wieder das Tageslicht erblicken“, fauche ich. Der Kriminelle wirkt nicht ansatzweise beeindruckt. Stattdessen schlägt er mir mitten ins Gesicht. Stechender Schmerz schießt durch meinen Körper. Fassungslos und restlos empört schnappe ich nach Luft, während mein teurer Mantel sich zu den Lumpen auf dem Boden gesellt. Die Frauen auf dem Holz tragen nicht mehr als ein Unterkleid oder Unterwäsche. Manche von ihnen sind völlig nackt; über ihre Haut ziehen sich dunkle Striemen. Im schwachen Licht des Hauses kann ich gerötete Augen erkennen und aufgebrochene, verletzte Haut, ausgerissenes Haar und dunkle Flecken um ihre Hälse. Blut klebt wie Regen an dem Holz. Ich schüttle ruckartig den Kopf. Das kann nicht der Realität entsprechen. Das darf es nicht! „Brennt!“, grölt jemand, eindeutig auf Deutsch.
Mir wird das Kleid vom Körper gerissen. Ich kreische auf, als der Stoff laut ratschend vor meinen Füßen zu Boden sinkt. Wieder trete ich nach den Männern, versuche mit dem Absatz ihre Haut oder ihre Weichteile zu treffen. Der Widerling mit den kurzen Fingern fängt mein Bein auf und wirft mich wie Vieh über seine Schulter. Sein Knochen bohrt sich gegen meine Rippen. Das Herz dröhnt mir in den Ohren. Er presst seine nach Fäkalien stinkenden Finger auf mein Gesicht. Wurde ihnen das erste Fingerglied abgetrennt? Mir dreht sich der Magen um und der feine Alkohol, versetzt mit unbekannten Drogen, steigt mir brennend in die Nase. Nie habe ich mich übergeben. Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Es ist ein ekelerregendes Gefühl, wie kratzende Säure sich den Weg hinauf durch die Speiseröhre kämpft, bitter schmeckend in der Mundhöhle verteilt und von da aus nach außen drängt.
Der Mann schreit angewidert auf, als ich mich erbreche. Er stößt mich auf einen der Baumstümpfe und bindet meine Handgelenke fest, unflätig fluchend. Mein Erbrochenes tropft ihm die Nase hinunter. Achtlos wischt er sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Seil schneidet in meine weiche Haut. Ich trete erneut nach ihm. Die scharfen Absätze schrammen Millimeter an ihm vorbei. Er hat lediglich ein abfälliges Lachen für mich übrig. „Sie hören von meinem Anwalt!“, rufe ich ihm zu. Ich klammere mich an den letzten Rest Vernunft, während das Scheusal sich von mir entfernt. Verzweifelt versuche ich mich loszumachen, aber jede Bewegung treibt das raue Material tiefer in meine Haut. Es ist die Hölle. Eine Hölle, die sich anfühlt wie grausame, unerklärliche Realität. Fast als säße ich tatsächlich nur mit Dessous bekleidet auf einem Baumstumpf, mitten in der Nacht im Nirgendwo, umgeben von Stroh und wimmernden und flehenden Frauen.
„Ich verlange, augenblicklich den Initiator zu sprechen!“ Keine Reaktion. Ein lautes Zischen lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Feuer? Was wollen sie mit Feuer? Das Stroh um mich herum ist trocken und hochentzündlich, genauso der Baumstumpf, auf dem ich sitze und die verteilten Äste. Langsam wird mir die Bedeutung dessen, was hier geschieht, bewusst. „Brenn, brenn, brenn!“ Eine Unmöglichkeit. Ich schüttle den Kopf. Eine Unmöglichkeit! Feuer leckt über die gegenüberliegende Seite des Scheiterhaufens. Berührt den Fuß einer Frau. Sie kreischt auf, gellend genug, dass ich es mir nicht eingebildet haben kann. Unter ihren Schreien verstummt die Turmuhr. Mit dem regelmäßigen Gong verschwindet meine Rationalität. Verzweifelt strample ich und schlage um mich. Das raue Holz reißt mir die Oberschenkel auf und Stroh sticht in meine Arme. Der Henker geht herum, zündet den Kreis aus Heu und Holz, Stroh und Seil an, bis er lichterloh brennt. Frauen schreien, der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllt die Nacht und lässt mich würgen. Das ist alles nicht real, nur eine schlechte, boshafte Illusion, jemandem geschuldet, der mir Übles will. Wer war es, der die Drogen in den Champagner mischte? Der junge Italiener? Während er mit mir sprach? Das hier ist nicht wirklich. Es darf nicht wirklich sein. Ich wiederhole diese wankende Überzeugung wieder und wieder wie ein Mantra, selbst als die Hitze um mich herum unerträglich wird und der Mann vor mir in die Knie geht, um das Stroh zu meinen Füßen zu entzünden. „Brenn, Hex“, flüstert er, kaum verständlich über das Knistern und Schreien, Brechen und Betteln hinweg. Das Stroh fängt auf der Stelle Feuer, brennt rot und orange, begierig darauf, sich zu nähren und zu mehren. Das kann nicht real sein. Es streckt die glühenden Finger in meine Richtung aus, beißt in meine Haut, will sie mir vom Körper reißen. Ein grausiges Stechen fährt durch mein Bein, gräbt sich von dort durch das Rückenmark und lässt mich unkontrolliert aufschreien. Ich strample rückwärts, versuche das Stroh zu löschen, während die Flammen von allen Seiten kommen. Ein Blick zur Seite lässt mich verstummen. Entsetzen, kalt und lähmend, nimmt mir für einige Wimpernschläge die Sicht. Wie flüssiges Wachs tropft der Frau neben mir die Haut vom Körper, den Mund hat sie zu einem endlosen Brüllen aufgerissen, während das Haar wie Zunder brennt. Ein Feuergeschöpf, der Grausamkeit gerade leidend genug. Ich kann nicht mehr atmen. Der Rauch erstickt mich gemeinsam mit diesem Anblick. Meine Augen tränen, während ein weiterer glühender Finger sich in meine Haut bohrt. Ich wimmre auf, ziehe die Knie an die Brust. Das hier ist alles nicht wirklich, nur ein böser Traum. Ich liege in meinem Bett, neben Achim. Er hat die Arme um mich geschlungen und das Gesicht im Schlaf an meinem Nacken vergraben.
Einen Meter von mir entfernt verbrennt keine Frau und ich ersticke nicht an dem Qualm eines mittelalterlichen Feuers. Das hier ist nicht real. Meine Sicht verschwimmt. Der nächste Stich. Dieses Mal kommt er von hinten, leckt meinen Rücken hinauf. Das hier ist nicht wirklich. Vor mir wird empörtes Gebrüll laut. Durch die flackernden Flammen, die mich einschließen und fantasieren lassen, drängt sich eine Gestalt, die ich nicht erkennen kann. Schwarze Namen ziehen sich über helle Haut. Das Kreuz eines französischen Skatblatts wurde auf die Stirn gebrannt. Jemand ruft nach mir.