Читать книгу Die Scheinheiligkeit der Clowns - Chaddanta . - Страница 5

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Kapitel 1

Seit einigen Wochen gehört der Besuch im Red Saloon zum festen Bestandteil meines täglichen Nachtlebens. Die Bar liegt in einem berüchtigten Bezirk. Tagsüber ist alles geschlossen, allenfalls begegnet man hier zu dieser Zeit ein paar Müllmännern, die die Seitenstraße reinigen. Zwischen acht und neun Uhr abends erwacht der Bereich dann für rund sechs Stunden zum prallen Leben.

Ich habe in einem Restaurant um die Ecke etwas gegessen. Jetzt sitze ich im schummrigen Licht des Red Saloon und trinke Bier. Hin und wieder kommt eine der Frauen zu mir und begrüßt mich. Es ist eine sehr ehrliche Lokalität. Man macht sich gegenseitig nichts vor. Neben mir spielen zwei Männer Pool, ein Paar schaut ihnen dabei zu. Er hat seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Mit einer geschickten Bewegung lässt sie einen der Träger ihres Kleides herabgleiten. Ihr Gefährte streichelt fast beiläufig ihre nackte Brust, die beiden Männer am Billardtisch nehmen keine Notiz davon. Es ist hier nichts Ungewöhnliches und solange es im wechselseitigen Einverständnis geschieht, stößt sich niemand daran.

Auf der Bühne spielen im Stundentakt verschiedene Bands. Es sind Amateure und für eine Runde Bier können sich die Gäste einen Song wünschen. Wenn die jeweiligen Titel schon etwas älter sind, kann es etwas unvorbereitet klingen, aber das gehört dazu. Nichts hier ist makellos.

Ab und an trinke ich mit einer oder zwei der Frauen einen Tequila. Das Ritual mit Salz und Limette läuft anders ab, als ich es von Haus aus kenne, und jede Runde wird bar bezahlt. So ist es üblich. Schon manchem ist bei so was das Geld ausgegangen – auch als Stammgast kann man nicht anschreiben lassen.

Dann setzt sich Larissa zu mir. Ich habe sie einige Tagen nicht mehr gesehen. Sie ist eine Frau, die nicht als solche geboren wurde.

»Paul, wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet«, antworte ich. Das ist nicht übertrieben. Ich mag diesen Ort und seine Menschen. Hier blühe ich auf und fühle mich verstanden.

»Gibst du mir einen Tequila aus?«, fragt sie.

»Klar, Larissa, ich hatte dich schon vermisst.«

Sie reicht mir unauffällig einen kleinen Joint, der wie eine ungeschickt gedrehte Zigarette aussieht, und ich inhaliere tief.

»Ich hatte einen Job. Er ist heute Morgen zurückgeflogen.« Sie gibt dem Barmann ein Zeichen. »Ich bin also wieder zu haben«, sagt sie und sieht mich provozierend an.

Schon kommen unsere Getränke.

Wir hatten diese Diskussion bereits mehrfach. Es gibt ein Band der Sympathie zwischen uns, aber weiter geht mein Interesse nicht. Ich bezahle die Drinks.

Larissa nimmt die Quittung und schreibt etwas auf die Rückseite. »Das sind die Informationen, die ich dir übermitteln soll.« Sie faltet den Zettel und steckt ihn in die Brusttasche meines Hemdes. »Du ahnst nicht, was du verpasst!«, lässt sie mich zum Abschied wissen. Dann verschwindet die Frau, die in Wirklichkeit nie eine war.

***

Wir hatten uns auf einer Station der Stadtbahn verabredet. Immer wenn Hochbahnen in die Stationen einfuhren, strömen für kurze Zeit Menschenmassen aus allen Richtungen an mir vorbei.

Eine schwarzhaarige Frau bleibt in meiner Nähe stehen. Sie ist mit einem Stadtplan beschäftigt und wirkt wie eine typische Touristin. Wie zufällig wendet sie sich an mich. »Können Sie mir helfen?«

»Aber gern«

»Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Paul.«

»Ich heiße Iduna. Kennen Sie ein Restaurant in der Nähe?«

Am Rande der Plaza kehren wir in ein Grillrestaurant ein. Weil es noch vor 17 Uhr ist, wird kein Alkohol ausgeschenkt und ich bestelle deshalb eine Tasse Kaffee. Früher hatte ich viel davon getrunken, aber inzwischen war das für mich nur noch sporadisch bekömmlich.

»Sie haben meine Nachricht also erhalten?«, beginnt mein kühler Gast das Gespräch.

»Ja. Ich hoffe, mein Umgang hat meinem Ansehen nicht allzu sehr geschadet.«

»Ganz und gar nicht«, antwortet sie und es klingt sehr ehrlich. Dann kommt sie ohne Umschweife direkt zur Sache: »Sie sind über die Affäre David Reuben informiert?«

»Es ist fast unmöglich, nicht auf dem Laufenden zu bleiben. Die Sache wird von Tag zu Tag unglaublicher.«

»Was meinen Sie? Ist es wirklich eine Verschwörungstheorie?« Iduna blickt mich fragend an.

Es geht um den Fall eines Pädophilen, der einen ganzen Ring von Kindern und Heranwachsenden unterhielt. Als ehemaliger Schulabbrecher soll er im Investmentbanking ein Vermögen gemacht haben, allerdings ist nur ein einziger Kunde von ihm bekannt. Niemanden hat ihn je arbeiten sehen und die Transaktionen seines Fonds sind zwielichtig. Vermutlich hat er Hunderte von Opfern missbraucht und diese an Freunde weitergegeben, darunter Prominente. Mehrere Präsidenten sowie die Hautevolee Hollywoods sind in den Skandal verwickelt. Aufgrund seiner einzigartigen Verbindungen nach oben und der Bestechlichkeit einiger seiner ehemaligen Opfer kam er im ersten Prozess mit einem milden Urteil davon. Doch dann kamen neue Vorwürfe auf und diesmal wurden seine Anwesen rund um die Welt sowie auf seiner Privatinsel in der Karibik untersucht. Es wurden falsche Pässe und Tausende von Bilddokumenten beschlagnahmt, die Mitglieder der Oberschicht bis hinein in europäische Adelshäuser schwer belasteten. Sein Reichtum stellte sich als geringer als zunächst angenommen heraus und der Verdacht wurde laut, das Geld stamme nicht aus Bankgeschäften, sondern aus Erpressung. Nach wenigen Tagen Inhaftierung wurde er in seiner Zelle tot aufgefunden. Die offizielle Todesursache lautet Selbstmord durch erhängen.

»Woher soll ich das wissen?«, gebe ich verlegen zu verstehen.

Die Umstände seines Ablebens sind seltsam. Zwei Wachmänner schlafen gleichzeitig ein, angeblich sind sie überarbeitet. Einer der beiden ist gar nicht als Justizvollzugsbeamter ausgebildet. Zwei Überwachungskameras fallen gleichzeitig aus, ohne dass bekannt wird, seit wann sie außer Betrieb sind und aus welchem Grund. Der Zellengenosse wird wenige Stunden vor dem Versterben des prominentesten Häftlings des Landes verlegt … Es gibt etliches Ungeklärtes mehr.

»Ich möchte mich nicht festlegen«, sage ich. »Die Angelegenheit ist sehr verworren.«

»Glauben Sie, es war Selbstmord?«, fragt Iduna. Sie sieht mir die ganze Zeit offen ins Gesicht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie meine Körperhaltung analysierte.

»Die gebrochenen Halswirbel sind bei dieser Art von Suizid eher ungewöhnlich. Manchen halten Erdrosseln als Todesursache wahrscheinlicher.«

»Aber ein Selbstmord ist auch nicht ausgeschlossen. Das kann durchaus mit der Konsistenz der Knochen in diesem Alter zu tun haben«, hält sie dagegen. »Es sollen Schreie aus der Zelle zu hören gewesen sein.« Offenbar gehört es zu Idunas Aufgabe, mein Wissen über die Affäre zu prüfen.

»Soweit die Öffentlichkeit unterrichte wurde, waren dies Versuche der Wiederbelebung.«

»Könnte dies alles eine Farce gewesen sein, um ihn aus dem Justizvollzug zu befreien?«, fragt sie mich direkt.

»Ich halte das für äußerst spekulativ«, antworte ich. »Wo könnte er sich in diesem Fall Ihrer Meinung nach jetzt gerade aufhalten?«

»Seinen finanziellen Möglichkeiten gemäß eigentlich überall. Ein Land scheint mir am wahrscheinlichsten.«

»Ja, natürlich«, gebe ich zu. »Er hat in religiöser Hinsicht die matrilineare Abstammung, um dort einzuwandern, und er hätte Aussichten darauf, nicht ausgeliefert zu werden. Allerdings habe ich Zweifel, ob er sich angesichts seines Lebensstils dort wohlfühlen würde.«

»Sagen Sie mir ehrlich: Glauben Sie, dass er am Leben ist, oder nicht?«

»Ich glaube eher nicht. Er hatte mit sich abgeschlossen. Die Aussicht darauf, bis zum Ende seines Lebens im Gefängnis zu sitzen, und das auch noch auf der untersten Stufe der Hierarchie unter den Gefangenen, war einfach zu deprimierend. Er hatte vom Dasein nichts mehr zu erwarten. Ich versuche, es auf den Punkt zu bringen: All diese Zufälle können natürlich zusammengekommen sein, aber es scheint mir wirklich sehr unwahrscheinlich.«

»Seine engste Vertraute und Zuträgerin von Kindern und heranwachsenden Frauen ist ebenfalls abgetaucht«, bemerkt Iduna. »Niemand weiß, wo sie sich aufhält.«

»Ich weiß, von Zeit zu Zeit tauchen Gerüchte über Lokalitäten auf, wo sie angeblich in Erscheinung getreten sein soll.«

»Man nennt so etwas eine Trugspur. Sie hat die Mädchen und anderen Missbrauchsopfer nicht nur verkuppelt, sondern sich auch selbst an ihnen vergangen.«

Je konkreter sich mir die Verbrechen darstellen, um so abgestoßener fühle ich mich von diesem auserlesenen Personenkreis. Ich gebe dem Gespräch deshalb eine neue Wendung: »Und dann ist da dieses mysteriöse schwarze Buch mit all den Adressen des prominenten Anhangs. Wenn die Behörden mit ihnen in Kontakt treten, sagen alle dasselbe: Sie hätten von nichts gewusst und den Verstorbenen eigentlich gar nicht gekannt. Es könne allerdings sein, dass sie bei irgendeiner Gelegenheit eine Visitenkarte ausgetauscht hätten. Wenn dann die Polizei darauf verweist, dass es sich dabei um ungewöhnlich große Geschäftskarten handeln müsse – schließlich seien bis zu vierzehn Rufnummern darauf verzeichnet – verweisen sie auf ihren Anwalt oder brechen das Gespräch abrupt ab.«

»Paul, ich will jetzt ganz ehrlich mit Ihnen sein: Die Zuträgerin hält sich, von zwei Geheimdiensten bewacht, an wechselnden Orten auf. Warum sie für ihre Vergehen nicht belangt wird, wissen wir nicht. Wahrscheinlich sind zu viele hohe Tiere in diese Machenschaften involviert. Was Reuben betrifft, so sind Sie schlecht informiert. – Wir gehen davon aus, dass er lebt.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Er wurde doch ein zweites Mal von einem unabhängigen Pathologen obduziert.«

»Wer ist in diesem Milieu wirklich unabhängig?«, fragt mich Iduna. »Vor allem, wenn es um so viel Macht und Geld geht? Da wäscht eine Hand die andere.«

»Aber wenn sein Wissen und seine Videoaufnahmen so gefährlich für die Eliten sind, warum sollte man ihn dann am Leben lassen? Die Geschichte vom Suizid hat wenigstens als offizielle Version verfangen. Damit könnte man alles ad acta legen.«

»So einfach ist es nicht. Stellen Sie sich vor, die Verhaftung wäre nicht ganz so unverhofft gekommen, wie es scheint. Oder sagen wir es so: Er fühlte sich zwar sicher, aber bereitete sich dennoch auf das Schlimmste vor.«

»Welche Vorbereitungen könnten das gewesen sein?«

»Ich nenne das seine Lebensversicherung. Er wird verfügt haben, dass im Falle eines unnatürlichen Todes das gesamte bisher unbekannte Material an die Öffentlichkeit gelangt.«

Ich kann es einfach noch nicht richtig fassen. Ungläubig sitze ich Iduna gegenüber. »Das Problem von Verschwörungen ist, dass sehr viele Leute unter einer Decke stecken müssen«, gebe ich zu bedenken.

»Das würde auf für die amtliche Fassung und ihre mörderische Variante gelten. Alles spricht dafür, dass Reubens Tod inszeniert wurde. Wo er jetzt lebt, wissen wir jedoch nicht. Ihn aufzuspüren wird unser Auftrag sein.«

Ich nicke schweigend. Vieles scheint mir noch unklar, aber ich stelle keine weiteren Fragen.

»Ich schlage vor, dass wir uns Ende der Woche nochmals treffen und, falls Sie einwilligen, werde ich Ihnen dann im Detail Informationen zukommen lassen. Wir haben uns nun kennengelernt und Sie wissen wenigstens grob, worum es geht.«

***

Menschen mit der Absicht, schon vor ihrem Ableben für tot erklärt zu werden, sind in der Regel keine Vertrauenspersonen. Man ist gut beraten, sie in einem kritischen Licht zu betrachten. Nicht viel anders verhält es sich mit den Hochstaplern und Doppelgängern der Geschichte, zum Beispiel im zaristischen Russland des 16. Jahrhunderts.

Iwan IV. Wassiljewitch war der erste Großfürst Moskaus, der sich selbst zum Zaren krönte. Er entstammte dem skandinavischen Geschlecht der Rurikiden. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als klugen Kopf und vorausschauenden Strategen. Er galt als fromm und war leidenschaftlicher Schachspieler. Seinen Vater verlor er im dritten Lebensjahr, seine Mutter fünf Jahre später; vermutlich wurde sie vergiftet.

Unter den Bojaren entwickelte sich ein Machtkampf um die Vormundschaft über den Vollwaisen. Dieser wuchs abgeschottet und lieblos in ständiger Angst um sein Leben auf. Möglicherweise ist dies der Grund für seine misstrauische, grausame und rachsüchtige Persönlichkeit: Als er sich im Alter von 13 Jahren seiner Macht bewusst wurde, ließ er den führen Bojaren, Andrei Schuiski, von der Kremlwache ergreifen und von ausgehungerten Jagdhunden zerfleischen. Als Sechzehnjähriger heiratete er Anasstasija Romanowna Sacharjina, die Tante des Patriarchen Philaret, dem Stammvater des Hauses Romanow. Die acht Jahre Ältere war wohl der einzige Mensch, den Iwan IV. je liebte. Sie gebar ihm sechs Kinder, die jedoch zum größten Teil im Kindesalter verstarben.

Die Macht des Zaren war zu dieser Zeit noch umstritten. Viele Bojaren, Adlige unter dem Rang eines Fürsten, waren faktisch vom Zaren unabhängig, sprachen selbst Recht und unterhielten Privatarmeen. Iwan IV. begann ihre Macht zu beschneiden, enteignete sie oder verbannte sie in Klöster. Zunächst regierte der Zar zusammen mit einem Rat von Geistlichen und Aristokraten. Im Jahre 1564 verriet der Befehlshaber der westlichen russischen Armee, Fürst Kurbski, sein Land und lief zum polnischen Feind über. Zusammen mit dem polnisch-litauischen Herrn verwüstete er die Region Welikije Luki.

Iwan IV. schuf daraufhin eine spezielle Militäreinheit zur Durchsetzung seiner Machtansprüche. Voraussetzung für die Aufnahme in diese Opritschnina war der Nachweis, dass die Person keine Verbindungen zum Bojarentum hatte. Schon durch ihr Äußeres lösten die Opritschniki bei der Bevölkerung Angst aus: Sie waren in schwarze Umhänge, ähnlich wie Mönchskutten gekleidet und trugen einen Besen und einen Hundekopf als Insignien. Der Besen symbolisierte einen Reinigungsauftrag und das Haupt eines Hundes signalisierte Wachsamkeit sowie die unbedingte Treue zum Zaren. Den Beinamen der Schreckliche gaben Iwan IV. seine Untertanen wahrscheinlich im Jahre 1570 nach der Einschließung der Stadt Novgorad durch die Opritschniki und der Ermordung eines großen Teils der Bevölkerung durch Ertränken in dem vereisten Fluss Wolchow.

In militärischer Hinsicht war Iwan IV. ein eher schwacher Herrscher. In Sibirien konnte er zwar neue Gebiete angliedern, doch im Westen gerieten seine Soldaten wiederholt in Bedrängnis. Als es der junge Fürst Dmitri Obolenski wagte, ihn auf eine drohende Niederlage im Livländischen Krieg anzusprechen, ergriff Iwan, narzisstisch gekränkt, ein Messer und stieß es dem Kritiker, ohne zu zögern, ins Herz.

Im November des Jahres 1591 fand der Zar seine schwangere Schwiegertochter in deren Gemächern – für seine Begriffe – zu nachlässig gekleidet vor. Er misshandelte sie daraufhin so schwer, dass sie ihr Kind verlor. Am folgenden Tag soll sein Sohn Iwan ihn auf diesen Gewaltausbruch angesprochen haben und der Zar erschlug daraufhin im Streit den Thronfolger mit dem eisernen Griff seines Herrscherstabes. Das hatte für die Zukunft des Reiches fatale Folgen, denn ein Nachfolger war nun nicht mehr in Sicht. Iwan IV. war vermutlich siebenmal verheiratet. Vielleicht war seine sechste Braut, Wassilissa Melentjewa, nur eine Konkubine, die er ins Kloster verbannte, nachdem er erfahren hatte, dass sie sich einen Liebhaber zugelegt hatte. Dieser wurde härter bestraft als seine Geliebte und öffentlich gepfählt. Es war jedenfalls nur noch der schwachsinnige Fjodor aus erster Ehe am Leben. Die zweite Gemahlin Iwans, Maria Temrjukowna von Tscherkessien, hatte ebenfalls einen Sohn geboren, der jedoch aus Nachlässigkeit seines Kindermädchens bei einem Unfall tödlich verunglückte. In letzter Ehe vermählt Iwan sich im September 1580 mit Maria Fjodorowna Nagaya, die ihm dann den Prinzen Dmitri gebar.

In seinen späten Lebensjahren soll der vergreiste und an schweren Depressionen leidende Zar bei Hexen und Zauberern Trost gesucht haben. Wahrscheinlich wurde er 1584 selbst Opfer eines Giftmordes. Er hinterließ einen geisteskranken Sohn, der nicht fähig war, selbst zu regieren, eine Vielzahl prunkvoller Kathedralen, eine Schatzkammer, ein Buch seiner guten Taten und einen fast dreißigjährigen Bürgerkrieg.

Während der Regentschaft des debilen Fjodors I. regierte eigentlich Boris Godunow das Land. Dieser verbannte Iwans letzte Ehefrau Maria Nagaya sowie deren Sohn Dmitri nach Uglitsch. Im Mai 1591 wurde der Prinz unter mysteriösen Umständen ermordet. Godunows Herrschaft stieß auf den erbitterten Widerstand der Orthodoxen Kirche und der Bojaren. Außerdem erschüttern zwischen 1601 und 1604 drei Hungersnöte die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Landes. In dieser Phase der Schwäche griffen Polen und Schweden Russland militärisch an.

Polnische Truppen eroberten 1605 Moskau und Sigismund III. Wasa, König von Polen und Großfürst von Litauen, hob den Hochstapler Jurij Otrepev auf den Zarenthron. Er gilt als der erste von insgesamt drei Doppelgängern des Prinzen Dmitri. Als Sohn eines Kleinadligen und früher Vollwaise wuchs er in verschiedenen Klöstern auf und begann als Mönch Grigorij eine geistliche Laufbahn. In Moskau kursierten Gerüchte, dass der leibliche Sohn Iwans sich seiner Ermordung hätte entziehen können und von seiner Mutter in ein Kloster verbracht worden sei. Da in diesen sogenannten wirren Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung die Sehnsucht nach geordneten Herrschaftsverhältnissen verbreitet war, lag es für Otrepev nahe, sich als dieser Zarewitsch auszugeben. Dabei kollaborierte er versteckt mit der polnischen Besatzungsmacht und, nachdem er heimlich zu Katholizismus übergetreten war, versprach seiner adligen Verlobten weite Gebietsabtretungen.

Der Hochstapler gewann schnell Unterstützung bei den Gudonow feindlich gesinnten Bojaren. Deren Anführer und späterer Zar, Wassilij Schuiski, der einst offiziell den Tod des wahren Dimitri untersucht und als Unfall erklärt hatte, bestätigte die Identität des Thronprätendenten mit dem Ermordeten. Nach dem Tod Gudonows und der Ermordung seines Sohnes sowie dessen Mutter nahm der falsche Dmitri dessen Tochter Xenia zur Geliebten und verbannte sie wenig später in ein Kloster. Er selbst heiratete seine polnisch-litauische Verlobte Marina Mniszech in Krakau nach römisch-katholischem Ritus. Scheinheilig besuchte er das Grab seines angeblichen Vaters sowie das Kloster, in dem dessen Witwe lebte. Diese erkannte ihn wider besseres Wissen als ihren leiblichen Sohn an. Dennoch witterte die Orthodoxe Kirche sowie die russische Bevölkerung den Betrug. Fürst Schuiski und seine Brüder zettelten im Mai 1606 eine Revolte an und der Pseudo-Dmitri wurde auf der Flucht getötet. Sein Leichnam wurde verbrannt, in eine Kanone geladen und in Richtung Polen geschossen. Dennoch folgten auf ihn noch mindestens zwei weitere Personen, die behaupteten, Dmitri Iwanowitsch zu sein.

Der zweite falsche Dmitri gab sich als geretteter Pseudo-Dimitri I. aus und wurde von dessen Witwe Marina Mniszech als solcher anerkannt. Auch den dritten falschen Dmitri, der sich nach der Hinrichtung des Pseudo-Dmitri II. als solcher ausgab, akzeptierte sie als Ehemann. Selbst nach dessen Exekution im Jahre 1612 versuchte sie noch, ihren Sohn aus der Ehe mit dem zweiten falschen Dmitri auf den Thron zu bringen. Nach der öffentlichen Hinrichtung des Dreijährigen verstarb die kurzzeitige ehemalige Zarin im Gefängnis. Ein Volksaufstand in Moskau beendete die polnische Fremdherrschaft und damit auch die sogenannte Smuta, die Zeit der Wirrungen.

Ein Jahr später begründete Michael I. die Dynastie der Romanows und stabilisierte das Land.

In der Regel kommt der Narzisst nicht ohne die Ermächtigung durch sein engeres Umfeld aus. Das sind die Menschen, die ihm ergeben sind und ihm unermüdlich zuarbeiten. Sie loben und bestätigen ihn und wenn er gar zu sehr über die Strenge schlägt, dann beschwichtigen sie seine Opfer. Vertuschung ist ihr Geschäft und nicht selten sogar Einschüchterung. Diese Personengruppe hört nicht auf, des Kaisers neue Kleider zu loben. Was sie antreibt, sind Gehorsam, Servilität und Gewissenlosigkeit. Sie betrachten die scheinbare Berechtigung des Täters als Begründung für ihr Vertrauen in seine Autorität. Ihre Ergebenheit ist der Garant für komplexe Taten über lange Zeiträume. Das Kartenhaus kann sehr plötzlich zusammenbrechen, aber es braucht viel Mut für die Pionierarbeit, dies zu bewirken, weil so viele in gegenseitigen Abhängigkeiten und Loyalitäten verstrickt sind. Diejenigen, die mit den Fakten als Erste an die Öffentlichkeit gehen, werden verleumdet und ausgegrenzt. Juristen erheben Anklage gegen sie und nur nach und nach werden sich, wenn überhaupt, weitere Renegaten anschließen.

Die offene Verweigerung der Empathie ist die größte Gefahr für den Narzissten. Sie hebt den Nimbus auf, der ihn schützt, und holt ihn aus seiner Sphäre der Unantastbarkeit. Er steht dann da wie ein gefallener Engel. Nicht selten wirken seine Lügen und seine Herablassung dann nur noch grotesk. Es wird an diesem Punkt klar, dass er viel zu weit gegangen ist. – Und das läutet nicht selten die Stunde des Verrats durch seine ehemaligen Zuarbeiter ein. All jene, die bisher mit ihm kollaboriert haben, schlagen sich nun auf die andere Seite und ein Teil von ihnen will von nichts gewusst haben. Ist die Exekutive bereit, Zeugen Zugeständnisse einzuräumen, dann belasten diese ihren ehemaligen Herrn durch ihre Aussagen meist schwer.

Die Rebellion gegen die narzisstische Herrschaft ist Graswurzelarbeit. Sie beginnt mit der Verweigerung des Einzelnen; das kann stillschweigend oder ausdrücklich geschehen. Auf den Initiatoren ruht die Last. Sie sind es, die die Lawine ins Rollen bringen.

Den Begriff Narzissmus ist hier nicht in seinem alltäglichen oder tiefenpsychologischen Sinn zu verstehen, sondern im Rahmen des Konzepts der narzisstischen Störung in der Verhaltenspsychologie, das im aktuellen Klassifizierungssystem der American Psychiatric Association gelistet ist und fast wörtlich von der Weltgesundheitsorganisation übernommen wurde. Dieses Schema aus der Individualpsychologie lässt sich recht einfach auf Herrschaftsformen und politische Systeme anwenden. Es hilft uns dabei, die rätselhaften Phänomene unserer Zeit zu erkennen und zu erklären. Nur auf diesem Weg können wir sinnvolle Zusammenhänge herstellen und zu Lösungen gelangen, die außerhalb unseres institutionellen Rahmens liegen.

Der Hauptgrund dafür, dass der Narzisst uns dominiert, ist anerzogene Inkompetenz. Wenn man sich mit der psychologischen Entwicklung von Kindern beschäftigt, wird schnell klar, dass diese der Unterstützung bei Problemen im emotionalen sowie zwischenmenschlichen Bereich bedürfen. Sie brauchen einen Ansprechpartner, wenn sie mit Gleichaltrigen aneinandergeraten oder mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen. Mit Beginn der Adoleszenz geht es nicht mehr nur darum, Affekte zu benennen, sondern auch um den angemessenen Umgang mit ihnen. Wenn diese Kompetenzen nicht ausgebildet werden, sind die entsprechenden Persönlichkeiten leichte Beute für narzisstischen Missbrauch. Ich gebe nicht unseren unmittelbar vorangegangenen Generationen die Schuld dafür, dass sie uns im Hinblick auf unseren Wert, unsere Besonderheit und unseren freien Willen nicht hinreichend unterstützt haben, dafür waren sie selbst zu sehr Opfer der Gewalt und der Lüge. Wir sind besser beraten, uns jene Fähigkeiten anzueignen, deren wir bisher entbehrten. Dies wird ein langer Prozess sein und sicher nicht über Nacht gelingen. Angesichts der zu erwartenden Verluste in naher Zukunft wird mancher von uns selbst nicht erleben, wie wir uns sowohl die Wahrheit als auch sichere Grenzen zurückerobern. Betrachten wir es also als ein generationenübergreifendes Projekt, dass eines Tages unsere Kinder und Enkel wieder in Freiheit leben dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich die klassischen Staatsformen jeweils mit bestimmten Symbolen assoziiert. Für die Monarchie stand zum Beispiel die Krone. Der Begriff Demokratie verband sich mit einer Verfassung. Einer Diktatur konnte man beispielsweise durch Hammer und Sichel Ausdruck geben. Nur für die Ochlokratie fiel es mir schwer, ein Sinnbild zu finden. Die Zeitläufte haben mich klüger gemacht. Es ist der Clown, der für die Herrschaft des Pöbels steht.

Vor einigen Jahren hatte ein Prosagedicht für einen Eklat gesorgt. Der Dichter, ein engagierter Linker, hatte sich – mit letzter Tinte – gegen Rüstungsexporte in ein Land gewandt, das sich weigerte, dem internationalen Abkommen zur Eindämmung von Massenvernichtungswaffen beizutreten. Der Aufschrei war gewaltig. Zeitungen weigerten sich, das Gedicht zu veröffentlichen, dem Autor wurde vorgeworfen, einen Völkermord zu planen und der angesprochene Staat selbst verhängte ein Einreiseverbot gegen den Schriftsteller. Die Posse entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn genau dieser Staat fordert permanent Sanktionen gegen Länder, die den Pakt unterzeichnet hatten, aber unter den unbestätigten Verdacht gestellt werden, an der Entwicklung von Nuklearwaffen zu arbeiten. Die öffentliche Auseinandersetzung war so schal, wie die politische Korrektheit es erzwang, und so wurden wesentliche Fragen, wie etwa die Gleichschaltung der Medien oder die fehlende parlamentarische Debatte, unter den Teppich gekehrt. Die Entscheidungen über die umstrittenen Ausfuhren wurden weiter in undurchsichtigen Ausschüssen getroffen und die diplomatischen Beziehungen blieben langweilig normal.

Wie jeder andere Mensch auch, sucht der Narzisst seinen Vorteil. Daran wäre nichts auszusetzen. Problematisch sind allenfalls der Aspekt der Redlichkeit und die Frage, wann Eigennutz in Ausbeutung auswächst. Bisherigen Kampagnen gegen verschiedene Staaten, denen schuldhaftes Verhalten in ihrer Geschichte vorgeworfen wurde, folgten eindeutig materiellen Zielen. Für diese Verhandlungen war kein unabhängiger Richter verfügbar und die Angeklagten hatten keinen Anspruch auf einen Verteidiger. Der Narzisst selbst setzt das Recht. Doch die Sache hat noch mehr Tiefgang. Wenn es Narkissos gelingt, seine Forderungen in dunkle Kanäle zu leiten, und seine Lakaien ihm unauffällig zuarbeiten, dann wird die Zufuhr zum Selbstläufer. Damit will ich nicht behaupten, dass wir von Marionetten regiert werden. Ich lehne konspirative Spekulationen strikt ab. Vielmehr empfehle ich im selbstsüchtigen Umgang ein höheres Maß an Transparenz.

Iduna und ich sind keineswegs die einzigen Unzufriedenen in diesem gesellschaftlichen Zerfallsprozess. Die Masse hält zwar noch still, doch es gärt an allen Ecken und Enden. Vor einigen Tagen behauptete ein Dissident, unser Dilemma sei im Verlust der Religion begründet. Seinem Verständnis nach ist der Mensch ein grundsätzlich religiöses Wesen. Diese Argumentation muss nicht zwingend einem evolutionären Modell der Psyche widersprechen. Durch den Glauben entsteht ein gemeinsames Band zwischen den Gemeindemitgliedern und das macht sie möglicherweise stärker. So gesehen, bildet sich durch die Säkularisierung ein Vakuum, das durch die Ideologien unserer Tage gefüllt wird. Unser Schuldkult trägt zwar Züge einer Zivilreligion, trotzdem überzeugt mich diese Sicht der Dinge nicht. Man sollte sich einen Narzissten wie das Sternzeichen des Zwillings vorstellen. Seine Persönlichkeit besteht aus zwei Geschwistern: Da ist jener sichtbare Teil, der uns vereinnahmen will, und jener versteckte, der versucht, uns zu manipulieren.

Vor langer Zeit hatte ein Freund, der eine Karriere als Profisportler anstrebte, einen schweren Unfall. Ich besuchte ihn im Krankenhaus und zeigte meine Anteilnahme angesichts der Tatsache, dass seine Zukunftsplanung zerstört wurde. Zu meiner Überraschung war er nicht betrübt, sondern erklärte mir voll Erleichterung, er hätte aufgehört, der nützliche Idiot seines Vaters zu sein.

Ein Narzisst geht an zwischenmenschliche Beziehungen mit einer völlig anderen Motivation heran, als konstruktive Personen. Er ist auf der Suche nach gefügigen Objekten. Personen die aufbegehren, unbequeme Fragen stellen oder sich in irgendeiner Art und Weise querstellen, interessieren ihn nicht. Die Internalisierung unserer Schuld – oder was uns als solche eingeimpft wurde – hatte uns zum perfekten Opfer gemacht. Auch ein Gott hätte uns nicht retten können.

Mitte des vergangenen Jahrhunderts behauptete eine Person, die sich Marian Keech nannte, aber in Wirklichkeit einen anderen Namen hatte, sie unterhalte Kontakte zu der Außerirdischen Sananda vom Planeten Clarion. Sie scharte eine Sekte um sich, die ihren Aussagen Glauben schenkte, schon in naher Zukunft werde eine gigantische Flut die Menschheit vernichten. Ausschließlich die Sektenanhänger würden von fliegenden Untertassen gerettet werden. Als die angekündigte Flut ausblieb, war die obskure Gemeinschaft der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch statt sich von ihrer Anführerin abzuwenden, sahen sich ihre Anhänger nur noch mehr in ihrem Glauben bestärkt. Sie argumentierten, ihre Gebete hätten Gott umgestimmt und versuchten, noch mehr Mitglieder zu rekrutieren. Drei Psychologen, die nur zum Schein in die Sekte eingetreten waren, entwickelten auf der Basis dieses Geschehens die Theorie der kognitiven Dissonanz. Die Erwartung, dass die Welt in einer Flut versinken würde, war mit der gegenteiligen Erfahrung nicht vereinbar. Dieser Zustand wird von Menschen als unangenehm empfunden und erzeugt innere Spannungen. Sie sind darum bemüht, die Konsonanz wieder herzustellen, und schrecken nicht davor zurück, auch völlig irrationale Begründungen für die Rekonstruktion dieses Gleichgewichts zu verwenden.

Diesen psychologischen Mechanismus findet man häufig auch in Situationen narzisstischen Missbrauchs. Das Opfer ist immer wieder mit den negativen Absichten des Narzissten konfrontiert. Es wird belogen, abgewertet und verletzt. Anstatt sich aus der zerstörerischen Beziehung zu befreien, versucht es jedoch hartnäckig, diese Aktionen zu rechtfertigen. Mittels immer neuer Rationalisierungen wird die Verbindung als glücklich und intakt dargestellt. Das Opfer versucht, sich selbst und auch seiner Umgebung eine Harmonie vorzutäuschen, die tatsächlich nicht besteht.

Auch auf gesellschaftlicher Ebene sind Gruppen darum bemüht, unvereinbare Wahrnehmungen, Beurteilungen und Bedürfnisse in einen konsistenten Zustand zu bringen. Sie sind dann dazu bereit, Narrativen Glauben zu schenken, die bei näherer Betrachtung absurd sind. Der Skeptiker beginnt in diesem Zusammenhang zu stören, da er der Herstellung des Gleichgewichts im Weg steht. Offene Fragen der Zeitgeschichte darf es nicht mehr geben. Die Gedanken und Wünsche müssen in sich schlüssig sein, auch wenn das Ganze am Ende nichts anderes ist als clownesker Unsinn.

Der Narzisst spricht mit gespaltener Zunge. Seine Aussagen mögen sinnvoll klingen, manchmal sogar schmeichelhaft, aber er meint in Wirklichkeit etwas völlig anderes. Begrüßt er eine Person mit den Worten Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!, dann beinhaltet dies nur scheinbar ein Bedauern. Was er wirklich sagen will – aber niemals aussprechen wird – lautet vielmehr: Du hast mir nicht die mir gebührende Aufmerksamkeit zukommen lassen. Am liebsten würde ich dich dafür vor den nächsten Bus stoßen. Mahnt er andere mit den Worten Macht es doch nicht so kompliziert!, dann meint er tatsächlich: Macht es einfach so, wie ich es sage, und seid endlich still! Kaum verhohlene Dominanz mischt sich mit Herablassung und Abwertung.

Das ist im politischen Diskurs nicht anders: Wenn von unserer besonderen Verantwortung für das Existenzrecht eines bestimmten Staates die Rede ist, dann hat das natürlich keinen Bezug zum allgemeingültigen Völkerrecht. Es geht vielmehr um die Privilegierung eines Staatswesens, das sich traditionell um ein friedliches Miteinander in seiner Region wenig bemüht. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Das linguistische Potenzial des Narzissten ist praktisch unendlich. Seine Umgebung ist gut beraten, diese Codierungen zu entschlüsseln. Sie fügt sich sonst in eine Realität, die nicht zu ihrem Vorteil ist. Am Ende besteht sie nur noch aus einer Mischung aus Lügen, Übertreibungen und Halbwahrheiten.

Manchmal ist das Instrument der Absurdität erforderlich, um einen komplexen Sachverhalt zu erklären. Stellen wir uns vor, es gäbe eine Gattung von Antilopen, die sich Löwen nähern und vertraulich fragen: »Du hast doch nicht etwa vor, uns zu fressen?« Jahrmillionen der Evolution haben dieses afrikanischen Rotwild vor solch einem suizidalen Verhalten bewahrt, sie wittern stattdessen die Gefahr schon von Weitem. Das gilt für das einzelne Tier genauso wie für die Herde. Unruhe und Flucht sind die Reaktion. Da für den individuellen Narzissten die Verstellung zu seinem Repertoire gehört, erkennen wir ihn zwar nicht auf den ersten Blick, aber wir haben in seiner Anwesenheit das Gefühl, dass etwas eigenartig ist, dass etwas nicht stimmt, auch wenn wir es nicht konkret benennen können. Wir fühlen uns unwohl und meiden diesen Menschen in Zukunft. Ähnlich verhält es sich mit einer narzisstischen Kultur. Sie ist uns fremd und wir wollen kein Teil von ihr sein. Ihre Sitten und Bräuche stoßen uns ab. Das ist der Grund, warum ihr zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Umständen Ablehnung entgegenschlug. Der Narzisst ist von einem negativen Kraftfeld umgeben. Seine eitle Arroganz, sein Betrug und seine Ausbeutung können das Leben nicht bejahen. Wer in seinen Bannkreis gerät, nimmt unweigerlich Schaden. Die Lebendigkeit geht verloren und die Aufrichtigkeit ist nur noch ein Gegenstand des Missbrauchs. Die Biografien von Personen, denen es schließlich gelang, sich aus einer narzisstischen Beziehung zu lösen, enthalten ein Paradoxon: Um erfolgreich aus dem verhängnisvollen Kreislauf auszubrechen, ist es für das Opfer nötig, dem Täter ein Stück weit ähnlich zu werden. Nur wenn sich die Ernüchterung und Enttäuschung mit einem gewissen Maß an Verbitterung und Abscheu verbinden, haben sie Aussicht darauf, der tödlichen Umarmung zu entkommen. Patienten leiden nach dem Missbrauch unter posttraumatischen Störungen, Kulturen müssen sich nach der Revolte neu definieren. Der Verlust mag unwiederbringlich sein und der Schaden teilweise irreparabel, aber das ist der Preis der Freiheit.

Der Narzisst kann die Realität nicht so begreifen wie andere Menschen. An dieser Stelle könnte man einräumen, dass dies auch für andere Gruppen gilt. Frauen sind aus evolutionären Gründen etwas anders programmiert als Männer. Kinder durchlaufen sukzessive Stufen der Reife und können manches erst ab einem gewissen Alter verstehen. Doch das Unverständnis des Narzissten ist anderer Natur. Er lebt in einem Universum, das er für hochwertiger hält, als jenes seiner Opfer. Er ist arrogant und hält sich für gescheiter als sein Gegenüber. Seine Herablassung macht es für ihn schmerzhaft, sich überhaupt in die Vorstellungswelt anderer zu versetzen. Er hat immer Recht und die Lüge gehört zu seinen Privilegien. Wer jemals gezwungen war, mit ihm in Verbindung zu stehen, nachdem er schon entlarvt war, weiß, dass es möglich ist, die Ruhe zu bewahren. Es herrscht dann eine spürbare emotionale Distanz. Selbstbeherrschung ist in diesem Fall oberstes Gebot und es empfiehlt sich, auf der Hut zu sein. Die Dominanz des Narzissten ist dann gebrochen. Er ahnt, dass sein ehemaliges Opfer nun einen Trumpf in der Hand hält, den er sich selbst versagte: Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert. Anders als ihr Gegenteil steht sie für sich selbst. Wer sie auf seiner Seite hat, lässt sich nicht länger manipulieren oder ausbeuten. Der Narzisst verfügt über nichts Gleichwertiges und das ist seine Achillesferse.

Wenn man sich also nicht vor den Tatsachen fürchtet, kann man den Feind an seiner verwundbaren Stelle angreifen. – Voraussichtlich wird der Clown dann die Fassung verlieren. Sein Verhalten wird unberechenbar und die Fratze seines Hasses kommt zum Vorschein. Er ist in dieser Situation zu allem fähig, außer zu einem annehmbaren Benehmen.

Den Grad an Empathie eines Menschen kann man auf emotionaler Ebene mit einer einfachen Methode messen: Der Versuchsperson wird eine kurze Filmsequenz gezeigt. Darin wird mit einem Hammer auf einen auf einem Tisch liegenden Finger geschlagen. Meist zuckt der Zuschauer selbst kurz zusammen oder faltet schützend seine Hände. Fehlt diese gefühlsmäßige Anteilnahme, so versteht der Proband in der Regel auf einer kognitiven Ebene dennoch, dass einem Mitmenschen Schmerz zugefügt wird.

Dem Narzissten ist dies jedoch zu wenig. Wie im Goldrausch schürft er geradezu nach der emotionalen Empathie seiner Beziehungspersonen. Ältere Damen, die beim Kaffeetrinken den kleinen Finger abspreizen, um nicht allzu gewöhnlich zu erscheinen, pflegen sich dann wechselseitig ihren Kummer und all die kleinen Nöte zu erzählen. Während die Narzisstin mit Tränen in den Augen in die Runde fragt: »Könnt ihr euch das vorstellen?«, schlagen die Empathinnen theatralisch die Hände über den Köpfen zusammen und rufen: »Ist das denn die Möglichkeit!« Unser Zeitalter der zugeteilten Schuld ist in diesem Sinne wie das biblische Ophir. In diesem Eldorado der seelischen Erschütterung sind es jedoch nicht abenteuerlustige Gesellen, die mit Spitzhacke, Schaufel und Goldwaschpfanne ihre Existenz aufs Spiel setzen, um mit viel Mühe dem Boden ein paar Nuggets abzuringen, es sind vielmehr gerissene Organisationen, die über Jahrzehnte hinweg die ominöse Schuld ausbeuten. Diese Mine scheint zunächst unerschöpflich zu sein, aber am Ende wird sich das Fieber legen und den Glücksrittern wird nichts anderes übrig bleiben, als in das nächste verheißene Land weiterzuziehen. Das große Geschäft haben übrigens letztlich nicht die Schürfer gemacht, sondern jene, die ihnen Zelte, Schaufeln und Siebe verkauften.

Die Krise, in der wir stecken und die immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, ist struktureller Art und hat nichts oder nur oberflächlich mit der Charakterschwäche führender Politiker oder deren missratenen Konzepten zu tun. Es ist vielmehr eine unüberwindliche Kluft zwischen uns, dem Volk und jenen da oben. Sie fühlen sich uns nicht verpflichtet, wie es ihr Amtseid verlangt. Ihre Loyalität gilt einem anderen Land und anderen Menschen. Das bedeutet nicht, dass sie sich mehrheitlich ethnisch von uns unterscheiden. Es ist eher so, dass sie niemanden unter sich dulden, der das Wohl der Eigenen mehr als nur zum Schein ernst nimmt. Wir haben im vergangenen Jahrhundert tatsächlich Schuld auf uns geladen. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass dies auch für etliche Staaten uns gegenüber gilt. Außerdem ist an dieser Stelle der Hinweis nötig, dass sich diese Schuldzuweisungen nicht zwingend mit der historischen Wahrheit decken. Wechselseitiges Verzeihen ist schwierig. Meist ist es eine generationenübergreifende Aufgabe. Mit einem der angesprochenen Länder wird sie sicherlich niemals gelöst werden. Doch gerade dieser Staat und seine Gemeinden in der Diaspora stehen an der Spitze der Opferhierarchie. Ihnen sind unsere Medien, Politiker und der Rest der Eliten bedingungslos ergeben. In der Regel sind diese selbst kein Teil dieses Volkes, aber sie haben dessen Hass und Kränkungen internalisiert. Das ist, was sie antreibt. Sie sind der Brückenkopf, der in unser Zentrum reicht. Wenn man mit ihnen zu tun hat, dann ist man an einen Stellvertreter geraten. Dem falschen Selbst des Narzissten dienen diese Beziehungen in erster Linie der Linderung seiner beschädigten Identität. Diesen Makel anzuerkennen, ist ihm unmöglich, denn das berührt seine tiefsten Ängste. Verweigert ihm seine Umwelt die dringend benötigte narzisstische Zufuhr, macht er diese für seine Leiden verantwortlich. Wer sich mit einer dieser Art gestörten Persönlichkeit eingelassen hat, sitzt in einer Zwickmühle. Er wird sich am Ende für das kleinere Übel entscheiden müssen und das kann nur die längst überfällige Abkopplung von diesem kranken System sein.

Das Verkehrsministerium hat einen Werbespot für kooperatives Verhalten im Straßenverkehr geschaltet, der aufgrund seiner Kreativität und gelungenen Umsetzung im Gedächtnis geblieben ist: Ein tadellos gekleideter Mann öffnet die Tür seines Autos und sieht im selben Moment eine Schnecke vor seinem Reifen. Er bückt sich nach dem Tier und platziert es vorsichtig auf einem Salatblatt, das zufällig auf einer nahen Mauer liegt. Szenenwechsel: Eine attraktive junge Frau sitzt auf dem Fahrersitz und hat den Rückspiegel so eingestellt, dass sie ihr Gesicht noch etwas schminken kann. Vielleicht steht sie vor einem Vorstellungsgespräch, jedenfalls prüft sie vor dem Starten des Motors noch einmal ein gewinnendes Lächeln. Unmittelbar nach Beginn der Fahrt machen beide Personen eine dramatische Verwandlung durch. Dem Mann verkürzen sich die Arme, seine Haut verfärbt sich grün und seinen gepflegten Händen wachsen Klauen. In kürzester Zeit wird er zu einem Krokodil. Die Frau umfasst das Steuer mit Flossen. Wenn sie den Mund öffnet, kann man eine Vielzahl gezackter Zähne sehen. Als Hai schreit sie anderen Verkehrsteilnehmern, die ebenfalls die Gestalt von Wölfen und Hyänen angenommen haben, krude Beschimpfungen entgegen. Das Krokodil gerät an einer roten Ampel in Rage und gefällt sich im wilden Gestikulieren und mit obszönen Handzeichen. Der Spot endet mit dem Appell Bleiben Sie Mensch! und wünscht allen Autofahrern eine gute Fahrt.

Die Psychologie hat sich seit vielen Jahren mit dem ungehaltenen und aggressiven Auftreten mancher Automobilisten befasst. Wahrscheinlich fühlen sich viele in ihrem Fahrzeug besonders geschützt und befürchten daher keine tatsächliche Konfrontation mit den harsch angegangenen Mitmenschen. Ich vermute jedoch in diesem Zusammenhang auch ein narzisstisches Element: Der maligne Narzisst übt seine Gewalttätigkeit in Situationen aus, in denen er sich unbeobachtet fühlt. Wenn er keine Konsequenzen befürchten muss, verliert er die Kontrolle über sich.

Der Narzisst hat eine ganz eigene Beziehung zum Tod. Stirbt eine Person, zu der er keine Beziehung hatte, so ist Gleichgültigkeit seine einzige echte Reaktion. Sein Mangel an Empathie lässt nichts anderes übrig. Das heißt, nicht, dass er seinen Gleichmut offen zu erkennen gibt. Abhängig von der Situation wird er eine Fassade aufbauen, die für ihn von Nutzen ist. Gespielte Trauer und das Bedauern eines Verlustes ermöglichen eventuell sogar zusätzliche emotionale Zufuhr aus dem zur Empathie fähigen Umfeld. Anders sieht es aus, wenn der Narzisst das Opfer seines Missbrauchs verliert. Es ist so ärgerlich, wie wenn einem Autofahrer auf der Schnellstraße der Treibstoff ausgeht. Dem falschen Selbst ist dann nicht nur eine wichtige Stütze abhandengekommen, vielmehr erfährt es auf diese Art auch eine Beschränkung seiner Dominanz. Eine übergeordnete Instanz hat sich ungefragt in sein Leben eingemischt und ihm genommen, was seiner Kontrolle unterlag. Auf diese Kränkung reagiert es normalerweise mit Verärgerung und Wut. – Und außerdem ist da noch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit: Das Wissen, dass der eigenen Selbstdarstellung unabwendbar ein biologisches Ende bevorsteht, bereitet ein erhebliches Unbehagen.

Ein Personentyp, der im Kreis des Narzissten besonders gern gesehen ist, ist der dienliche Mensch, ein Charakter, der grundsätzlich darauf angelegt ist, sich zu fügen. Er ist unbedingt loyal, begehrt fast nie auf und ordnet sich bereitwillig unter. Charismatiker wirken wie Magneten auf ihn. Meist handelt es sich bei ihnen um Personen mit geringem Selbstwert. Ihre Strategie besteht darin, im Windschatten eines Führers durchs Leben zu kommen, dabei bilden sie eine Schnittmenge mit der Entourage des Narzissten. Sie gehören zu seinen Komplizen und bleiben ihm treu ergeben, auch wenn er Fehler begeht. Allerdings fehlt ihnen die Lust an der Intrige und meist auch das Interesse an unmittelbaren Vorteilen. Vom empathischen Anhang unterscheidet sie ihre mangelnde Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken. Ihre Gefolgschaftstreue verbindet sich eher mit einer Gelegenheit und weniger mit einem individuellen menschlichen Schicksal. Für den Narzissten sind sie ein gefundenes Fressen. Ihre Unterordnung gilt ihm als Schwäche. Von ihnen geht wenig narzisstische Zufuhr aus, da sie sich erfahrungsgemäß jeder Bezugsperson devot ergeben. Als Objekte der Abwertung sind sie dafür umso besser geeignet, denn sie stecken klaglos alles weg. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht doch versteckt einen Stachel mit sich tragen: Oft kommen sie ihren Mitmenschen körperlich zu nah. Ihre Freundlichkeit schmeißt sich an sein Gegenüber ran. Es fehlt ihnen das Gefühl für die angemessene Distanz. Meist sind sie per Du mit allen und jedem und ihre Fragen und Bemerkungen sind so indiskret, dass viele sie fürchten und ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg gehen.

Es gibt ein Charakteristikum, das Verschwörungstheoretiker auf der Stelle entlarvt: Sie neigen dazu, Punkte zu verbinden, die nichts miteinander zu tun haben. Beispielsweise verweist die Summe des Datums einer Katastrophe vermeintlich auf eine symbolische Zahl einer Geheimgesellschaft. So wird auch das trivialste Ereignis zum Komplott. Die Frage ist berechtigt, warum Menschen überhaupt solch leicht durchschaubaren Unsinn glauben. Es könnte sein, dass die Anhänger solcher Modelle diese Konzepte in einem metaphorischen Sinn verstehen. Sie wissen sehr wohl, dass extraterrestrische Pelzwesen nicht die Notenbanken unterwandern und glauben auch nicht, dies hätte irgendetwas mit ihrer Mutter zu tun. Sie betrachten Mitteilungen solcher Art vielmehr als eine verschlüsselte Information, die nur einer ausgesuchten Minderheit zugänglich ist. Konspiratives Denken ist ungeeignet, den Narzissten zu demaskieren. Das hat damit zu tun, dass die Beziehung mit einer solch selbstsüchtigen Person kein Kontinuum darstellt.

In ihren Anfängen waren Fernsehserien eine Art von Miniaturfilmen: Die Protagonisten blieben Folge für Folge dieselben, aber das Drama oder die Herausforderung, vor der diese Darsteller standen, war jeweils anders. Das eine Mal hatte eine Nahrungsmittelvergiftung die komplette Mannschaft eines lebensrettenden Patrouillenbootes – mit Ausnahme eines einzelnen Helden – außer Gefecht gesetzt, die Woche darauf, ging es um die Verfolgung einer ruchlosen Schmugglerbande. Fortsetzungen waren die Ausnahme, übergeordnete Rahmenhandlungen fast belanglos. So ist es auch mit der narzisstischen Herrschaft; Momente der Hoffnung mögen hier und da aufkommen und der Bürger wird sich daran klammern wie ein Ertrinkender, der nur selten Land in seinem Leben gesehen hat. In Wirklichkeit sind das aber nichts anderes als Launen einer Despotie ohne jede kausale Verbindung.

Die Scheinheiligkeit der Clowns

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