Читать книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 15

Zwölftes Kapitel

Оглавление

In dem für Oliver besser gesorgt wird als jemals zuvor und die Erzählung zu dem fröhlichen alten Herrn und seinen jungen Freunden zurückkehrt.

Die Kutsche ratterte davon, Mount Pleasant hinab und die Exmouth Street hinauf, und nahm beinahe denselben Weg, den Oliver gegangen war, als er London in Begleitung des Dodgers zum ersten Mal betreten hatte, bis sie schließlich, nachdem sie am Angel in Islington in eine andere Richtung abgebogen war, vor einem hübschen Haus in einer ruhigen schattigen Straße in Pentonville hielt. Hier wurde unverzüglich ein Lager bereitet, in das Mr. Brownlow seinen jungen Schützling behutsam und bequem betten ließ, und hier wurde er mit einer Fürsorge und Hingabe gepflegt, die keine Grenzen kannte.

Doch viele Tage lang blieb die Güte seiner neuen Freunde von Oliver unbemerkt. Die Sonne ging auf und unter, und wieder auf und unter, und das viele weitere Male, und der Junge lag noch immer ausgestreckt auf seinem Krankenlager und schwand unter der trockenen und verzehrenden Hitze des Fiebers dahin. Der Wurm verrichtet sein Zerstörungswerk am Leichnam nicht wirkungsvoller als dieses schwelende Feuer das seine am lebendigen Leib.

Matt, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus etwas, das ein langer böser Traum gewesen zu sein schien. Seinen Kopf auf den Arm gestützt, richtete er sich mit Mühe im Bett auf und blickte sich bange um.

»Was ist das für ein Zimmer? Wohin hat man mich gebracht?«, fragte sich Oliver. »Das ist nicht der Ort, an dem ich eingeschlafen bin.«

Er sprach die Worte mit leiser Stimme, da er noch schwach und matt war, doch hat man sie sogleich vernommen, denn schnell wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, von einer reinlich und adrett gekleideten mütterlichen alten Dame, die in einem Lehnstuhl gleich neben dem Krankenlager mit einer Näharbeit beschäftigt gewesen war.

»Still, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft. »Du musst ganz ruhig bleiben, sonst wirst du wieder krank. Und dir ist es sehr schlecht gegangen, schlimmer ging’s nicht, dem Tode nahe. Leg dich wieder hin, so ist’s brav!« Mit diesen Worten bettete die alte Dame Olivers Kopf auf das Kissen, strich ihm das Haar aus der Stirn und blickte ihm so liebevoll und gütig ins Gesicht, dass er mit seiner kleinen ausgedörrten Hand unwillkürlich nach der ihren griff und sie sich um den Nacken legte.

»Guter Gott!«, rief die alte Dame mit Tränen in den Augen. »Was für ein dankbarer kleiner Junge er doch ist. So ein liebes Kerlchen! Was würde seine Mutter wohl empfinden, wenn sie so wie ich bei ihm gesessen wäre und ihn jetzt sehen könnte?«

»Vielleicht sieht sie mich sogar«, flüsterte Oliver und faltete die Hände, »vielleicht hat sie wirklich an meinem Bett gesessen. Mir kam es fast so vor.«

»Das war das Fieber, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft.

»Wahrscheinlich«, erwiderte Oliver, »denn der Himmel ist weit weg, und dort sind sie zu glücklich, um ans Bett eines armen Jungen hinabzusteigen. Aber wenn sie wüsste, dass ich krank bin, würde sie sogar dort Mitleid mit mir haben, denn sie war selbst sehr krank gewesen, bevor sie starb. Doch sie kann ja nichts von mir wissen«, fuhr Oliver nach kurzem Schweigen fort. »Hätte sie gesehen, wie ich verletzt wurde, wäre sie sehr traurig gewesen, aber ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr geträumt habe.«

Darauf erwiderte die alte Dame nichts, sondern wischte sich zuerst ihre Augen, und dann noch ihre Brille, die auf der Tagesdecke lag, als würde auch diese weinen. Dann holte sie Oliver ein kühles Getränk, tätschelte ihm die Wange und hieß ihn, ganz still zu liegen, damit er nicht wieder krank würde.

Also verhielt Oliver sich vollkommen ruhig, teils weil er bestrebt war, der alten Dame in allen Dingen zu gehorchen, und teils weil er, um die Wahrheit zu sagen, von den wenigen gesprochenen Worten bereits völlig erschöpft war. Bald fiel er in einen sanften Schlummer, aus dem ihn der Schein einer Kerze weckte, die sich seinem Bett näherte und in deren Licht er einen Herrn erkannte, der eine sehr große und laut tickende goldene Taschenuhr in der Hand hielt, seinen Puls fühlte und verkündete, es ginge Oliver schon viel, viel besser.

»Es geht dir doch schon viel besser, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Herr.

»Ja, danke, Sir«, erwiderte Oliver.

»Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte der Herr. »Und hungrig bist du sicher auch, nicht wahr?«

»Nein, Sir«, erwiderte Oliver.

»Ahem!«, machte der Herr. »Das dachte ich mir. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte der Herr und machte ein schlaues Gesicht.

Die alte Dame neigte ehrerbietig den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass sie den Doktor für einen sehr gescheiten Menschen hielt. Eine Ansicht, die der Doktor voll und ganz zu teilen schien.

»Du bist müde, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Doktor.

»Nein, Sir«, entgegnete Oliver.

»Nein«, wiederholte der Doktor mit wissender und zufriedener Miene, »du bist nicht müde. Und auch nicht durstig, nicht wahr?«

»Doch, Sir. Sehr sogar«, antwortete Oliver.

»Genau das habe ich erwartet, Mrs. Bedwin«, sagte der Doktor. »Es ist völlig normal, dass er Durst hat. Gebt ihm etwas Tee, Madam, und ein wenig trockenes Röstbrot ohne Butter. Es darf ihm nicht zu warm werden, Madam, aber achtet auch darauf, dass er nicht friert – wollt Ihr wohl die Güte haben?«

Die alte Dame machte einen Knicks. Nachdem der Doktor das kühle Getränk probiert und für gut befunden hatte, eilte er fort, wobei seine Stiefel auf der Treppe wichtig und behäbig knarrten.

Oliver döste bald wieder ein, und als er aufwachte, war es kurz vor zwölf. Die alte Dame wünschte ihm kurz darauf zärtlich eine gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die soeben eingetroffen war und in ihrem kleinen Bündel ein schmales Gebetbüchlein und eine große Nachthaube mitgebracht hatte. Sie setzte letztere auf den Kopf und legte ersteres auf den Tisch, und nachdem die Alte Oliver mitgeteilt hatte, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, rückte sie ihren Stuhl dicht ans Feuer und nickte, von Räuspern und Stöhnen begleitet, immer wieder kurz ein, und zuweilen sackte ihr dabei auch das Kinn auf die Brust, was jedoch keine schlimmere Wirkung zeitigte, als dass sie aufwachte, sich kräftig die Nase rieb und sogleich wieder einschlief.

Und so schlich die Nacht dahin. Oliver lag eine Weile wach und zählte die kleinen Lichtkreise, die vom Binsenschirm des Nachtlichts an die Decke geworfen wurden, oder er verfolgte mit seinen schläfrigen Augen das verschlungene Muster der Wandtapete. Die Dunkelheit und die tiefe Stille des Zimmers wirkten sehr feierlich, und als sie den Jungen auf den Gedanken brachten, dass der Tod, der hier viele Tage und Nächte über ihm geschwebt hatte, auch jetzt noch das Gemach mit der Düsternis und dem Schrecken seiner furchtbaren Anwesenheit erfüllen könnte, drehte er sein Gesicht ins Kissen und schickte ein inbrünstiges Gebet gen Himmel.

Allmählich fiel er in jenen tiefen, ruhigen Schlaf, den allein die Genesung von einem jüngst überstandenen Leiden gewährt, ein ungestörter und friedvoller Schlummer, aus dem aufzuwachen als schmerzlich empfunden wird. Wäre das der Tod, wer wollte wohl wieder erwachen zu all den Kämpfen und Nöten des Lebens, zu all den Sorgen der Gegenwart, den Ängsten um die Zukunft und vor allem zu den drückenden Erinnerungen an das Vergangene!

Als Oliver die Augen öffnete, war schon seit Stunden helllichter Tag, und als er es tat, fühlte er sich froh und glücklich. Der Tiefpunkt seiner Krankheit war überwunden. Die Welt hatte ihn wieder.

Nach drei Tagen konnte er bereits von Kissen gestützt in einem Lehnstuhl sitzen, und da er noch zu schwach zum Gehen war, hatte Mrs. Bedwin ihn die Treppe hinabtragen lassen, in die kleine Hausmädchenkammer, die ihr gehörte. Dort setzte die gute alte Dame ihn an den Kamin, nahm ebenfalls Platz, und fing vor lauter Freude, den Jungen in einem so viel besseren Zustand zu sehen, sogleich heftig zu weinen an.

»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte die alte Dame. »Ich muss mich nur mal richtig ausweinen. Siehst du, es ist schon vorbei, mir geht’s wieder gut.«

»Ihr seid sehr freundlich zu mir, Madam«, meinte Oliver.

»Na, lass mal gut sein, mein Schatz«, sagte die alte Dame, »das hat nichts mit deiner Brühe zu tun, und es wird höchste Zeit, dass du sie bekommst, denn der Doktor sagt, Mr. Brownlow würde dich heute morgen vielleicht besuchen kommen, also müssen wir unser Bestes tun, um gut auszusehen, denn je besser wir aussehen, umso mehr wird er sich freuen.« Und bei diesen Worten machte die alte Dame sich daran, in einer kleinen Kasserolle ein Schälchen Brühe zu erwärmen, die kräftig genug war, um, vorschriftsmäßig gestreckt, für dreihundertfünfzig Armenhäusler eine üppige Mahlzeit abzugeben, und das war noch vorsichtig geschätzt.

»Gefallen dir Gemälde, mein Schatz?«, fragte die alte Dame, die bemerkte, dass Oliver seinen Blick höchst aufmerksam auf ein Porträt gerichtet hielt, das genau gegenüber von seinem Stuhl an der Wand hing.

»Ich weiß nicht recht, Madam«, antwortete Oliver, ohne seine Augen von dem Bild abzuwenden. »Ich habe bisher erst so wenige gesehen, dass ich es nicht sagen kann. Was für ein schönes, sanftes Gesicht die Dame hat!«

»Ach!«, rief die alte Mrs. Bedwin. »Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst bekämen sie keine Kundschaft, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man naturgetreue Abbilder anfertigt, hätte wissen sollen, dass so etwas kein Erfolg beschieden sein kann, es ist einfach viel zu ehrlich. Viel zu ehrlich!«, sagte die alte Dame und lachte herzhaft über ihren Scharfsinn.

»Stellt es … stellt es wirklich jemanden dar, Madam?«, fragte Oliver.

»Ja«, antwortete die alte Dame und schaute kurz von der Brühe auf, »es ist ein Porträt.«

»Von wem, Madam?«, wollte Oliver wissen.

»Tja, mein Schatz, das weiß ich nun wirklich nicht«, antwortete die alte Dame munter. »Es stellt wohl niemanden dar, den du oder ich kennen, nehme ich an. Es scheint dich ja sehr zu beschäftigen, mein Junge.«

»Es ist so wunderschön«, erwiderte Oliver.

»Ja, aber du fürchtest dich doch nicht etwa davor, oder?«, fragte die alte Dame, die mit großer Verwunderung bemerkte, mit welch ehrfürchtiger Scheu das Kind das Gemälde betrachtete.

»O nein, nein«, erwiderte Oliver rasch, »aber die Augen schauen so traurig und scheinen auf mich gerichtet zu sein. Es gibt mir einen Stich ins Herz«, fügte Oliver mit leiser Stimme hinzu, »als sei es lebendig, als wolle es zu mir sprechen und könne nicht.«

»Gott behüte!«, rief die alte Dame erschrocken aus. »Sag doch nicht solche Sachen, Kind. Du bist nach deiner Krankheit noch nervös und schwach. Ich will deinen Stuhl umdrehen, dann siehst du es nicht mehr. So!«, sagte die alte Dame und setzte ihre Worte sogleich in die Tat um. »Jetzt ist es dir wenigstens aus den Augen.«

Doch vor seinem geistigen Auge sah Oliver das Bild tatsächlich noch so deutlich, als hätte er seine Position nicht verändert, aber er hielt es für besser, die gute alte Dame nicht weiter zu beunruhigen, also lächelte er still, als sie ihn anschaute. Und Mrs. Bedwin, die zufrieden war, dass er sich wohler fühlte, salzte die Brühe und brockte ein paar Stückchen Röstbrot hinein, mit all der Aufmerksamkeit, die einer so wichtigen Beschäftigung gebührte. Oliver aß die Brühe mit außerordentlicher Geschwindigkeit und hatte kaum den letzten Löffel genommen, als es sachte an der Tür klopfte.

»Herein«, rief die alte Dame, und Mr. Brownlow kam ins Zimmer.

Der alte Herr trat in froher Erwartung herein, aber sobald er sich die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände hinter den Schößen seines Morgenrocks verschränkt hatte, um Oliver eingehend zu mustern, schnitt er eine ganze Reihe merkwürdiger Gesichter. Oliver wirkte von der Krankheit noch sehr mitgenommen und hatte Schatten unter den Augen. Aus Ehrerbietung vor seinem Wohltäter machte er einen vergeblichen Versuch aufzustehen, der jedoch damit endete, dass er wieder in den Stuhl zurücksank, und wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, war es tatsächlich so, dass Mr. Brownlows Herz, das für sechs gewöhnliche alte Herrn von menschenfreundlicher Wesensart ausgereicht hätte, ihm durch einen hydraulischen Vorgang, den zu erklären wir philosophisch nicht genügend bewandert sind, eine Ladung Tränen in die Augen beförderte.

»Armer Kerl, armer Kerl!«, sagte Mr. Brownlow und räusperte sich. »Ich habe heute morgen so ein Kratzen im Hals, Mrs. Bedwin. Ich fürchte, ich habe mich erkältet.«

»Hoffentlich nicht, Sir«, meinte Mrs. Bedwin. »All Ihre Sachen sind sorgfältig getrocknet und gelüftet worden, Sir!«

»Ich weiß nicht, Bedwin, ich weiß nicht«, sagte Mr. Brownlow, »ich vermute fast, ich hatte gestern beim Mittagessen eine feuchte Serviette, aber lassen wir das. Wie fühlst du dich, mein Lieber?«

»Sehr glücklich, Sir«, erwiderte Oliver. »Und wirklich sehr dankbar, Sir, weil Ihr so gut zu mir seid.«

»Braver Junge«, sagte Mr. Brownlow tapfer. »Habt Ihr ihm eine Stärkung verabreicht, Bedwin? Ein Süppchen vielleicht?«

»Sir, er hat gerade eine Schüssel schöner kräftiger Brühe bekommen«, entgegnete Mrs. Bedwin, wobei sie sich ein wenig aufrichtete und das vorletzte Wort mit Nachdruck betonte, um zu verstehen zu geben, dass zwischen einem Süppchen und einer gut zubereiteten Brühe keine wie auch immer geartete Verbindung oder Ähnlichkeit bestehe.

»Bah!«, entfuhr es Mr. Brownlow mit leichtem Schauder. »Ein paar Gläschen Portwein wären besser für ihn gewesen, nicht wahr, Tom White?«

»Ich heiße Oliver, Sir«, erwiderte der kleine Kranke mit erstauntem Blick.

»Oliver«, wiederholte Mr. Brownlow. »Oliver was? Oliver White?«

»Nein, Sir. Twist, Oliver Twist.«

»Seltsamer Name!«, meinte der alte Herr. »Warum hast du dem Polizeirichter gesagt, dein Name sei White?«

»Das habe ich nie gesagt, Sir!«, entgegnete Oliver verwundert.

Das klang so sehr nach einer Lüge, dass der alte Herr Oliver streng ins Gesicht sah. Es war jedoch unmöglich, an ihm zu zweifeln, denn aus jedem seiner etwas spitz gewordenen Züge sprach Wahrheit.

»Dann war’s wohl ein Irrtum«, sagte Mr. Brownlow. Und obwohl es keinen Grund mehr für ihn gab, den Jungen weiterhin anzuschauen, drängte sich ihm der Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen Olivers Zügen und einem vertrauten Gesicht so stark auf, dass er seinen Blick nicht abzuwenden vermochte.

»Ich hoffe, Ihr seid nicht böse mit mir, Sir!«, sagte Oliver mit flehendem Augenaufschlag.

»Aber nein«, entgegnete der alte Herr. »Nanu! Was ist das? Bedwin, schaut einmal!«

Bei diesen Worten zeigte er aufgeregt zum Gemälde über Olivers Kopf und dann wieder auf das Gesicht des Jungen. Es war das leibhaftige Ebenbild. Die Augen, der Kopf, der Mund, jeder einzelne Zug war derselbe. Ihr Ausdruck stimmte in diesem Moment derart überein, dass noch die kleinste Linie mit erstaunlicher Sorgfalt nachgezeichnet schien.

Oliver erfuhr den Grund für diesen plötzlichen Ausruf nicht, denn da er noch nicht kräftig genug war, um den Schrecken, den er ihm einjagte, zu ertragen, wurde er ohnmächtig. Sein Schwächeanfall gibt der Erzählung die Gelegenheit, die Neugierde des Lesers zu befriedigen, was die beiden jungen Schützlinge des fröhlichen alten Herrn betrifft, und von ihnen zu berichten.

Als der Dodger und sein feiner Freund Meister Bates in das Zeter und Mordio einstimmten, das sich hinter Oliver erhob, weil sie sich – wie bereits geschildert – auf ungesetzliche Art und Weise den persönlichen Besitz von Mr. Brownlow angeeignet hatten, wurden sie von einer sehr löblichen und durchaus angebrachten Sorge um sich selbst ergriffen. Da die Unantastbarkeit der Person und die Freiheit des einzelnen zu den Dingen gehören, deren sich ein wahrer Engländer an erster Stelle und mit größtem Stolz rühmt, brauche ich den Leser nicht erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Tat dazu geschaffen ist, die Jungen in der Achtung aller guten Bürger und Patrioten steigen zu lassen, in fast genau demselben Maße, wie dieser nachhaltige Beweis der Sorge um ihre Sicherheit und Selbsterhaltung dazu dient, die kleine Sammlung von grundlegenden Gesetzen zu bekräftigen und zu bestätigen, die von gewissen tiefschürfenden Philosophen mit gutem Urteilsvermögen als Haupttriebfeder aller natürlichen Taten und Handlungen festgelegt wurde. Dabei reduzieren die besagten Philosophen das Vorgehen der gütigen Dame höchst weise auf eine Angelegenheit von Grundsätzen und Theorien, während sie als sehr nettes und hübsches Kompliment an ihre erhabene Weisheit und ihr Verständnis jegliche Erwägung von Herzensgüte, Großmut oder Gefühl gänzlich außer Acht lassen. Denn diese Dinge sind zutiefst unter der Würde eines Weibes, dem allgemein zugestanden wird, weit über den zahlreichen kleinen Fehlern und Schwächen ihres Geschlechtes zu stehen.

Bedürfte ich noch eines weiteren Beweises für die strikt philosophische Natur des Verhaltens dieser beiden jungen Herrn in ihrer misslichen Lage, fände ich ihn sofort in dem Umstand (ebenfalls in den vorigen Kapiteln nachzulesen), dass sie die Verfolgung abbrachen, sobald alle Aufmerksamkeit auf Oliver gerichtet war, und sich unverzüglich auf kürzestem Weg nach Hause begaben. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, es sei die übliche Gewohnheit namhafter und gelehrter Weiser, den Weg zu einer gewichtigen Schlussfolgerung kurz zu halten – tatsächlich begeben sie sich eher auf Umwege, indem sie sich in holprigen Umschreibungen und Abschweifungen ergehen, ganz so, wie Betrunkene es unter dem Druck eines allzu großen Mitteilungsbedürfnisses gern zu tun pflegen –, so möchte ich dennoch behaupten, und zwar ganz entschieden, dass es die eingefleischte Gewohnheit vieler bedeutender Philosophen ist, bei der Darlegung ihrer Theorien große Weisheit und Voraussicht walten zu lassen, indem sie sich gegen jede erdenkliche Möglichkeit absichern, dass ihre Schlussfolgerungen in irgendeiner Weise auch für sie selbst gelten könnten. Also darf man im Kleinen Unrecht begehen, um im Großen Recht zu bewirken, und man darf jegliches Mittel anwenden, das der angestrebte Zweck letztlich heiligt, denn es bleibt allein dem betreffenden Philosophen überlassen, das Ausmaß des Rechts oder das Ausmaß des Unrechts oder gar die Unterscheidung von beiden durch eine klare, umfassende und unbestechliche Prüfung seines besonderen Falles zu bestimmen und festzulegen.

Erst nachdem die beiden Jungen in hohem Tempo durch ein verschlungenes Labyrinth enger Straßen und Gässchen gerannt waren, trauten sie sich in einem niedrigen, dunklen Torweg wie auf Verabredung anzuhalten. Hier blieben sie nur so lange still, bis sie wieder genug Atem zum Sprechen geschöpft hatten, als Meister Bates auch schon einen freudigen Schrei ausstieß, sich von einem unbändigen Lachanfall gepackt auf einen Türtritt warf und sich dort ganz entfesselt vor Heiterkeit herumwälzte.

»Was’n mit dir los?«, erkundigte sich der Dodger.

»Hahaha!«, brüllte Charley Bates.

»Mach nich so’n Lärm«, ermahnte ihn der Dodger und schaute sich wachsam um. »Willst wohl geschnappt werden, du Blödmann!«

»Ich kann nix dafür«, sagte Charley. »Ich kann nix dafür. Zu komisch, wie er stiften ging, um die Ecken fegte und gegen Pfähle knallte, sich wieder aufrappelte und weiterrannte, als sei er grad wie sie aus Eisen. Und ich immer schreiend hinter ihm her, die Rotzfahne in der Tasche … ach, herrje!« Die lebhafte Phantasie des Meister Bates malte ihm die Szene in den schönsten Farben aus, so dass er an dieser Stelle wieder auf dem Türtritt umherrollte und noch lauter lachte als zuvor.

»Was wird Fagin wohl sagen?«, wollte der Dodger wissen, der einen Augenblick der Atemlosigkeit seines Freundes nutzte, um diese Frage zu stellen.

»Was?«, fragte Charley Bates.

»Ja, was?«, wiederholte der Dodger.

»Na, was soll er schon sagen?«, entgegnete Charley Bates, dessen Fröhlichkeit mit einem Schlag verflogen war, da ihn das Benehmen des Dodgers beunruhigte. »Was soll er schon sagen?«

Mr. Dawkins pfiff eine ganze Weile vor sich hin, nahm dann seinen Hut ab, kratzte sich am Kopf und nickte dreimal.

»Was meinst du?«, fragte Charley.

»Lirum larum Löffelstiel, für zwei Penny gibt’s nich viel, reiche Leute essen Speck, arme Leute fressen Dreck«, erwiderte der Dodger mit einem leicht hämischen Grinsen auf seinem listigen Gesicht.

Das war zwar eine Antwort, erklärte aber nicht viel. So empfand es zumindest Charley Bates, der abermals fragte: »Was meinst du?«

Der Dodger sagte nichts weiter, sondern setzte sich den Hut wieder auf, raffte die langen Schöße seines Rocks unter den Arm, beulte mit der Zunge eine Wange aus, schlug sich sachte, aber vielsagend ein halbes Dutzend Mal auf den Nasenrücken, machte auf dem Absatz kehrt und stahl sich durch das Gässchen davon. Meister Bates folgte ihm mit nachdenklicher Miene.

Wenige Minuten, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, störte das Geräusch von Schritten auf den knarrenden Treppenstufen den fröhlichen alten Herrn auf, der mit einer Zervelatwurst und einem kleinen Laib Brot in der Linken, einem Taschenmesser in der Rechten und einem Zinnkrug auf dem Dreifuß neben sich am Feuer saß. Ein verschlagenes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich umdrehte, mit stechendem Blick unter den buschigen roten Augenbrauen hervorsah, sein Ohr Richtung Tür wandte und aufmerksam lauschte.

»Nanu, was ist das?«, raunte Fagin, und seine Miene verfinsterte sich. »Nur zwei? Wo ist der dritte? Sie werden doch keinen Ärger bekommen haben? Horch!«

Die Schritte kamen näher, erreichten den Treppenabsatz. Langsam ging die Tür auf, der Dodger und Charley Bates traten ein und schlossen sie hinter sich.

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

Подняться наверх