Читать книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 17

Vierzehntes Kapitel

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Enthält weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Mr. Brownlow sowie die bemerkenswerte Vorhersage, die ein Mr. Grimwig in Bezug auf Oliver trifft, als dieser zu einem Botengang aufbricht.

Oliver erholte sich bald von dem Ohnmachtsanfall, den er aufgrund von Mr. Brownlows plötzlichem Ausruf erlitten hatte, und im darauffolgenden Gespräch wurde der Gegenstand des Gemäldes sowohl vom alten Herrn als auch von Mrs. Bedwin sorgsam gemieden, es ging darin auch weder um Olivers Vergangenheit noch um seine Aussichten, sondern beschränkte sich auf solche Themen, die ihn aufzuheitern vermochten, ohne ihn dabei aufzuregen. Er war noch immer zu schwach, um zum Frühstück aufzustehen, doch als er am nächsten Tag in das Zimmer der Haushälterin herunterkam, warf er als erstes einen neugierigen Blick auf die Wand, in der Hoffnung, das Gesicht der schönen Dame wiederzusehen. Seine Erwartung wurde jedoch enttäuscht, denn das Gemälde war entfernt worden.

»Na«, sagte die Haushälterin, als sie Olivers Blick bemerkte, »siehst du, es ist fort.«

»Ja, ich seh’s, Madam«, antwortete Oliver mit einem Seufzer. »Warum hat man es weggenommen?«

»Weißt du, mein Kind, es wurde abgehängt, weil Mr. Brownlow sagte, es könne, da es dich anscheinend ängstigt, deiner Genesung abträglich sein«, erwiderte die alte Dame.

»Aber nein, es hat mich keineswegs geängstigt, Madam«, sagte Oliver. »Ich habe es gern angeschaut, ich mochte es wirklich.«

»Na ja«, meinte die alte Dame gutmütig, »dann werde mal so schnell wie möglich gesund, mein Liebling, dann soll es wieder aufgehängt werden, versprochen! Aber jetzt lass uns von was anderem reden.«

Das war alles, was Oliver für den Moment über das Bild in Erfahrung bringen konnte. Da die alte Dame während seiner Krankheit so gut zu ihm gewesen war, bemühte er sich, jetzt nicht weiter über diesen Gegenstand nachzudenken, also lauschte er aufmerksam den unzähligen Geschichten, die sie ihm erzählte, von ihrer lieben und hübschen Tochter, die mit einem lieben und hübschen Mann verheiratet sei und auf dem Land lebe, und von einem Sohn, der in Westindien als Büroschreiber bei einem Handelsherrn in Stellung war, und der dazu ein solch guter Junge sei und viermal im Jahr so treusorgende Briefe nach Hause schriebe, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, als sie darüber sprach. Nachdem die alte Dame sich eine ganze Weile ausführlich über die Vorzüge ihrer Kinder verbreitet hatte, und nebenbei auch über die Verdienste ihres lieben und gütigen Gatten, der jetzt schon – Gott habe ihn selig! – vor sechsundzwanzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, war es so weit, den nachmittäglichen Tee zu trinken. Danach brachte sie Oliver das Kartenspiel Cribbage bei, das er ebenso schnell begriff, wie sie es ihm erklärte. Mit diesem Spiel waren sie voller Hingabe und Ernst beschäftigt, bis es für den Kranken Zeit war, ein wenig erwärmten, mit Wasser verdünnten Wein und eine Scheibe trockenes Röstbrot zu sich zu nehmen und dann behaglich zu Bett zu gehen.

Diese Tage der Genesung waren eine glückliche Zeit für Oliver. Alles war so friedlich, so hübsch, so ordentlich, alle waren so gütig und freundlich, dass es ihm nach all dem Lärm und Trubel, in dem er stets gelebt hatte, wie der Himmel vorkam. Und kaum war er wieder bei Kräften, um sich richtig anzukleiden, ließ Mr. Brownlow auch schon einen kompletten, neuen Anzug, samt neuer Mütze und einem Paar neuer Schuhe, für ihn besorgen. Da man Oliver sagte, er könne mit seinen alten Kleidern tun, was er wolle, gab er sie einem Dienstmädchen, das sehr freundlich zu ihm gewesen war, und bat sie, diese einem Trödler zu verkaufen und das Geld für sich zu behalten. Das tat sie dann auch sogleich, und als Oliver aus dem Stubenfenster blickte und sah, wie der Trödler die Kleider in seinen Sack stopfte und fortging, fühlte er sich erleichtert bei dem Gedanken, dass sie jetzt ein für alle Mal weg waren und keine Gefahr mehr bestand, sie noch einmal tragen zu müssen. Ehrlich gesagt waren es tatsächlich schäbige Lumpen gewesen, denn Oliver hatte noch nie zuvor einen neuen Anzug bekommen.

Eines Abends, etwa eine Woche nach dem Vorfall mit dem Gemälde, als er gerade mit Mrs. Bedwin zusammensaß und plauderte, sandte Mr. Brownlow die Nachricht nach unten, dass er Oliver, sollte dieser sich entsprechend wohl fühlen, in seinem Arbeitszimmer zu sehen und sich ein wenig mit ihm zu unterhalten wünsche.

»Ach du meine Güte! Wasch dir die Hände und lass dir einen hübschen Scheitel ziehen, mein Kind«, sagte Mrs. Bedwin. »Bei meiner Seel! Hätten wir geahnt, dass er nach dir schicken lässt, hätten wir dir einen frischen Kragen umgelegt und dich wie einen Goldtaler poliert!«

Oliver tat, wie ihn die alte Dame geheißen, und obwohl sie fortwährend jammerte und klagte, dass nicht einmal Zeit sei, die kleine Krause an seinem Hemdkragen zu fälteln, sah er, ungeachtet dieses schwerwiegenden Mangels, so hübsch und fein aus, dass sie, als sie ihn mit großem Wohlgefallen von Kopf bis Fuß betrachtete, so weit ging, zu sagen, sie glaube nicht, dass es möglich gewesen wäre, ihn noch weiter zu seinem Vorteil zu verändern, selbst wenn sie alle Zeit der Welt gehabt hätten.

Derart ermutigt klopfte Oliver an die Tür des Arbeitszimmers. Auf Mr. Brownlows Aufforderung trat er in ein kleines, mit Büchern vollgestopftes Hinterzimmer, dessen Fenster auf hübsche kleine Gärten blickte. Vor diesem Fenster befand sich ein Tisch, an dem Mr. Brownlow saß und las. Als er Oliver sah, schob er das Buch beiseite und bat ihn, an den Tisch zu treten und sich zu setzen. Oliver gehorchte und fragte sich verwundert, wo man wohl so viele Menschen finden könne, um solch große Anzahl von Büchern zu lesen, die anscheinend geschrieben worden waren, um die Weisheit der Welt zu mehren. Und das fragen sich auch erfahrenere Leute als Oliver Twist jeden Tag ihres Lebens aufs neue.

»Das sind eine Menge Bücher, nicht wahr, mein Junge«, sagte Mr. Brownlow, als er die Neugier bemerkte, mit der Oliver die Regale betrachtete, die vom Fußboden bis unter die Decke reichten.

»Und was für eine Menge, Sir«, entgegnete Oliver. »So viele habe ich noch nie gesehen.«

»Du sollst sie zu lesen bekommen, wenn du brav bist«, sagte der alte Herr freundlich, »und es wird dir besser gefallen, als sie bloß anzuschauen … das heißt, in manchen Fällen, denn es gibt tatsächlich Bücher, bei denen Einband und Rücken die bei weitem interessantesten Dinge sind.«

»Das sind vermutlich diese schweren Wälzer da, Sir«, meinte Oliver und zeigte auf einige große Quartbände, deren Einband reichlich vergoldet war.

»Nicht immer«, erwiderte der alte Herr und strich Oliver lächelnd übers Haar, »es gibt andere, die, obwohl von kleinerem Format, ebenso schwer sind. Wie würde dir das gefallen, ein gescheiter Mann zu werden und Bücher zu schreiben?«

»Ich glaube, ich würde sie lieber lesen, Sir«, antwortete Oliver.

»Na so was! Du möchtest gar kein Schriftsteller werden?«, rief der alte Herr.

Oliver dachte kurz nach und sagte schließlich, es erschiene ihm weitaus lohnender, Buchhändler zu werden, woraufhin der alte Herr herzlich lachte und meinte, Oliver hätte da etwas sehr Treffendes gesagt. Darüber war Oliver froh, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, was es gewesen sein mochte.

»Schon gut«, sagte der alte Herr und sammelte sich wieder. »Keine Angst, wir werden keinen Schriftsteller aus dir machen, solange man noch ein ehrbares Handwerk erlernen oder Ziegelbrenner werden kann.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Oliver. Über diese ernsthaft vorgebrachte Antwort musste der alte Herr erneut lachen und bemerkte etwas über einen erstaunlichen Instinkt, dem Oliver aber, da er es nicht verstand, keine große Beachtung schenkte.

»Und jetzt, mein Junge«, sagte Mr. Brownlow, in einem womöglich noch freundlicheren, aber zugleich auch ernsthafteren Ton, als Oliver bisher von ihm gehört hatte, »möchte ich, dass du genau darauf achtgibst, was ich sage. Ich werde ganz offen mit dir reden, denn ich weiß, dass du mich ebenso gut verstehen wirst wie manch ein Älterer.«

»Oh, sagt mir nicht, dass Ihr mich fortschicken wollt, Sir, bitte nicht!«, rief Oliver aus, beunruhigt von dem ernsten Tonfall, mit dem der alte Herr seine Rede begann. »Setzt mich nicht vor die Tür, ich mag nicht wieder durch die Straßen irren. Lasst mich hierbleiben, Euch zu Diensten sein. Schickt mich nicht zurück an den schrecklichen Ort, von dem ich komme. Habt Erbarmen mit einem armen Jungen, Sir!«

»Mein liebes Kind«, entgegnete der alte Herr, bewegt von der unerwarteten Erregung, mit der Oliver seine Bitte vortrug, »du brauchst nicht zu befürchten, dass ich dich im Stich lasse, solange du mir keinen Grund dazu gibst.«

»Das werde ich niemals tun, Sir, niemals«, unterbrach ihn Oliver.

»Das hoffe ich«, erwiderte der alte Herr, »und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Zwar habe ich mich früher schon getäuscht in Leuten, denen ich Gutes tun wollte, dennoch fühle ich mich sehr geneigt, dir zu vertrauen, und nehme größeren Anteil an dir, als ich es mir selbst so recht erklären kann. Die Menschen, denen meine innigste Liebe galt, liegen kalt in ihren Gräbern, aber auch wenn das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben wurden, so habe ich aus meinem Herzen doch keinen Sarg gemacht und mich den besten meiner Gefühle auch nicht für immer und ewig verschlossen. Das tiefe Leid hat sie nur gestärkt und geläutert.«

Während der alte Herr das sagte, mit gedämpfter Stimme und mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber, und danach für eine kurze Weile schwieg, blieb Oliver ganz still sitzen.

»Na schön«, fuhr der alte Mann in etwas muntererem Ton schließlich fort, »ich sage dies bloß, weil dein Herz noch jung ist, und wenn du weißt, dass ich viel Kummer und Schmerz erlitten habe, wirst du vielleicht achtsamer sein und mich nicht erneut verletzen. Du sagst, du seist eine Waise, ohne irgendeinen Verwandten auf der Welt, und alle Erkundigungen, die ich einziehen konnte, haben diese Behauptung bestätigt. Erzähle mir deine Geschichte, woher du kommst, wer dich großgezogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich angetroffen habe. Sprich die Wahrheit, und dir soll nie ein Freund fehlen, solange ich lebe.«

Olivers Rede wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen, und als er schildern wollte, wie er im Heim aufgewachsen war und Mr. Bumble ihn ins Armenhaus brachte, ließ sich unten an der Haustür ein höchst ungeduldiges, kurzes Doppelklopfen vernehmen, und das Dienstmädchen kam die Treppe heraufgeeilt, um einen Mr. Grimwig zu melden.

»Kommt er herauf?«, erkundigte sich Mr. Brownlow.

»Jawohl, Sir«, erwiderte das Dienstmädchen. »Er hat gefragt, ob es im Hause irgendwelches Gebäck gäbe, und als ich bejahte, meinte er, er sei zum Tee gekommen.«

Mr. Brownlow lächelte und erklärte an Oliver gewandt, Mr. Grimwig sei ein alter Freund von ihm, und er solle sich nicht an dessen zuweilen etwas rauhem Umgangston stören, denn er sei in Wahrheit ein guter Kerl, wie er aus gutem Grunde wisse.

»Soll ich nach unten gehen, Sir?«, fragte Oliver.

»Nein«, antwortete Mr. Brownlow, »ich hätte lieber, dass du hierbleibst.«

In diesem Augenblick spazierte, auf einen dicken Stock gestützt, ein beleibter älterer Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein ein wenig lahm und trug einen blauen Gehrock, eine gestreifte Weste, Nankinghosen, Gamaschen und einen weißen Hut mit breiter, hochgeschlagener Krempe, die auf der Unterseite grün war. Eine zierlich gefältelte Hemdkrause schaute oben aus seiner Weste heraus, und unten lugte eine sehr lange stählerne Uhrenkette, an deren Ende bloß ein Schlüssel befestigt war, hervor. Die Enden seines weißen Halstuchs waren zu einem Ball von der Größe einer Apfelsine verschlungen, und die mannigfachen Mienen, zu denen er sein Gesicht verzog, waren unbeschreiblich. Er besaß die Angewohnheit, den Kopf beim Sprechen zur Seite zu drehen und einen dabei zugleich aus den Augenwinkeln anzusehen, was jeden Betrachter unweigerlich an einen Papageien erinnerte. In dieser Haltung verharrte er, sobald er eingetreten war, und rief – während er ein Stückchen Apfelsinenschale mit ausgestrecktem Arm von sich hielt – mit knurrender, missmutiger Stimme aus:

»Schaut her, seht Ihr das? Ist es nicht eine höchst seltsame und außergewöhnliche Sache, dass ich keines Menschen Haus betreten kann, ohne ein Stückchen von diesem elenden Freund aller Knochenflicker auf der Treppe zu finden? Eine Apfelsinenschale hat mich einst lahm gemacht, und ich weiß, dass eine Apfelsinenschale schließlich mein Tod sein wird. Verlasst Euch darauf, Sir, eine Apfelsinenschale wird mein Tod sein, oder ich will meinen Kopf fressen, Sir!«

Mit diesem freundlichen Angebot pflegte Mr. Grimwig beinahe jede Behauptung, die er tat, zu bekräftigen, und das war in seinem Fall umso eigentümlicher, da – selbst wenn man einmal theoretisch die Möglichkeit in Betracht zöge, dass der wissenschaftliche Fortschritt eines Tages einem Herrn erlaube, seinen eigenen Kopf zu verschlingen, falls es ihn danach gelüste – Mr. Grimwigs Kopf so ungewöhnlich groß war, dass selbst der zuversichtlichste Mensch auf Erden kaum die Hoffnung hegen konnte, ihn mit einem Male zu verspeisen, ganz zu schweigen von der äußerst dicken Puderschicht.

»Dann will ich meinen Kopf fressen, Sir«, wiederholte Mr. Grimwig und stieß seinen Stock auf den Boden. »Hallo, wen haben wir denn da?«, rief er beim Anblick Olivers und trat ein oder zwei Schritte zurück.

»Das ist der kleine Oliver Twist, von dem wir gesprochen haben«, sagte Mr. Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

»Ihr wollt damit doch wohl nicht etwa sagen, dies sei der Junge, der Fieber hatte?«, fragte Mr. Grimwig und wich noch etwas weiter zurück. »Einen Augenblick! Sagt nichts! Halt …«, fuhr Mr. Grimwig fort, der im Triumphgefühl seiner Entdeckung plötzlich jegliche Furcht vor dem Fieber verlor, »das ist der Junge mit der Apfelsine! Wenn das nicht der Junge ist, Sir, der die Apfelsine gegessen und das Stückchen Schale auf die Treppe geworfen hat, will ich meinen Kopf fressen, und den seinen dazu.«

»Nein, nein, er war’s nicht!«, rief Mr. Brownlow lachend. »Kommt, setzt Euren Hut ab und sprecht mit meinem jungen Freund.«

»So etwas kann mich ungemein in Rage bringen, Sir«, sagte der reizbare alte Herr, während er seine Handschuhe abstreifte. »In unserer Straße liegen ständig irgendwelche Apfelsinenschalen auf dem Gehweg, mal mehr, mal weniger, und ich weiß, dass der Gehilfe des Knochenflickers an der Ecke sie dort hinwirft. Gestern abend ist eine junge Frau darauf ausgerutscht und stürzte gegen meinen Gartenzaun. Ich habe gesehen, wie sie, gleich nachdem sie aufgestanden ist, auf den teuflischen roten Weihnachtslampion vor seiner Praxis geblickt hat. ›Geht nicht dorthin‹, habe ich ihr aus dem Fenster zugerufen, ›das ist ein Meuchelmörder! Ein Fallensteller!‹ Und das ist er. Wenn nicht, dann …«

Hier stieß der jähzornige alte Herr kräftig seinen Stock auf den Boden, was seine Freunde immer als Darbietung des üblichen Angebots verstanden, wenn es nicht in Worten ausgedrückt wurde. Dann setzte er sich, den Stock noch immer in der Hand, klappte einen Kneifer auf, den er an einem breiten schwarzen Band befestigt trug, und betrachtete Oliver, der errötete, als er bemerkte, dass er einer Musterung unterzogen wurde, und sich ein weiteres Mal verbeugte.

»So, das ist also der Junge?«, fragte Mr. Grimwig schließlich.

»Das ist der Junge«, entgegnete Mr. Brownlow.

»Wie geht es dir, mein Junge?«, erkundigte sich Mr. Grimwig.

»Danke, Sir, schon sehr viel besser«, antwortete Oliver.

Mr. Brownlow, der zu befürchten schien, sein wunderlicher Freund sei im Begriff, eine unpassende Bemerkung zu machen, bat Oliver, die Treppe hinabzugehen und Mrs. Bedwin zu sagen, dass sie nun Tee trinken wollten, was er, da ihm das Benehmen des Besuchers alles andere als behagte, mit Freuden tat.

»Ein hübscher Junge, nicht wahr?«, meinte Mr. Brownlow.

»Weiß nicht«, erwiderte Mr. Grimwig verdrossen.

»Nicht?«

»Nein. Ich weiß es nicht. Für mich sehen alle Jungen gleich aus. Ich kenne bloß zwei Sorten von Jungen: solche mit Mehlgesichtern und solche mit Fleischgesichtern.«

»Und was hat Oliver?«

»Ein Mehlgesicht. Ein Bekannter von mir hat einen fleischgesichtigen Jungen, ein hübscher Knabe, heißt es, mit rundem Kopf, roten Bäckchen und glänzenden Augen. Ein grässlicher Kerl, dessen Leib und Gliedmaßen aus den Nähten seines blauen Anzugs zu platzen drohen, mit der Stimme eines Lotsen und dem Appetit eines Wolfs. Ich kenne ihn, diesen Lümmel!«

»Na, na, na«, rief Mr. Brownlow, »das sind aber nicht die Eigenschaften des kleinen Oliver Twist, also braucht Ihr Euch auch nicht über ihn aufzuregen.«

»Nein, das sind sie nicht«, erwiderte Mr. Grimwig, »aber womöglich hat er noch schlechtere.«

An dieser Stelle hüstelte Mr. Brownlow unwillig, was Mr. Grimwig das allergrößte Vergnügen zu bereiten schien.

»Womöglich hat er noch schlechtere, sage ich«, wiederholte Mr. Grimwig. »Wo kommt er her? Wer ist er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt. Na und? Fieber bekommen nicht allein gute Menschen, oder? Auch schlechte Menschen haben zuweilen Fieber, nicht wahr? Ich kannte einen Mann, der auf Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Der war sechsmal an Fieber erkrankt, ohne dass er deshalb begnadigt wurde. Pah, was für ein Unsinn!«

Nun verhielt es sich tatsächlich so, dass Mr. Grimwig tief im Inneren seines Herzens durchaus geneigt war, zuzugeben, dass Olivers Erscheinung und sein Betragen ungewöhnlich einnehmend waren, doch besaß er einen starken Hang zum Widerspruch, der bei dieser Gelegenheit noch durch den Fund der Apfelsinenschale angestachelt wurde, und da er fest davon überzeugt war, dass kein Mensch ihm vorschreiben könne, ob ein Junge gut aussieht oder nicht, war er von Anfang an entschlossen, sich seinem Freund zu widersetzen. Als Mr. Brownlow zugab, auf keinen der fraglichen Punkte eine befriedigende Antwort zu wissen und jede weitere Erforschung von Olivers Vergangenheit aufgeschoben zu haben, bis er den Jungen wieder für so weit bei Kräften hielt, dies ertragen zu können, kicherte Mr. Grimwig boshaft. Und er erkundigte sich hämisch, ob die Haushälterin auch jeden Abend das Besteck zähle, denn wenn sie nicht mal eines schönen Morgens ein oder zwei silberne Löffel vermissen werde, dann wolle er seinen Kopf … und so weiter und so fort.

All dies ertrug Mr. Brownlow, obwohl er selbst leicht aufbrausenden Charakters war, mit ruhigem Gemüt, weil er die Eigenheiten seines Freunds kannte, und da Mr. Grimwig sich beim Tee gütigerweise dazu herabließ, seiner vollsten Zufriedenheit mit dem Gebäck Ausdruck zu geben, blieb die Stimmung ungetrübt, und Oliver, der ihnen Gesellschaft leistete, begann sich in der Gegenwart des grimmigen alten Herrn ein wenig behaglicher als bisher zu fühlen.

»Und wann werdet Ihr einen vollständigen, wahrhaftigen und ausführlichen Bericht über Leben und Abenteuer des Oliver Twist zu hören bekommen?«, fragte Grimwig am Ende der Mahlzeit Mr. Brownlow, mit einem Seitenblick auf Oliver, als er den Gesprächsgegenstand wieder aufnahm.

»Morgen vormittag«, antwortete Mr. Brownlow. »Ich möchte dann lieber mit ihm alleine sein. Komm morgen früh um zehn Uhr zu mir herauf, mein Guter.«

»Ja, Sir«, erwiderte Oliver. Seine Antwort kam leicht zögerlich, weil er verwirrt war, dass Mr. Grimwig ihn so scharf ansah.

»Ich will Euch mal was sagen«, flüsterte dieser Herr Mr. Brownlow zu, »er wird morgen früh nicht heraufkommen. Ich habe sein Zögern bemerkt. Er macht Euch was vor, mein lieber Freund.«

»Ich bin überzeugt, dass er es nicht tut«, entgegnete Mr. Brownlow leidenschaftlich.

»Wenn er’s nicht tut«, sagte Mr. Grimwig, »dann will ich …«, und stieß mit dem Stock auf den Boden.

»Ich bürge mit meinem Leben für die Aufrichtigkeit dieses Jungen!«, erwiderte Mr. Brownlow und klopfte auf den Tisch.

»Und ich mit meinem Kopf für seine Falschheit!«, rief Mr. Grimwig und klopfte ebenfalls auf den Tisch.

»Wir werden ja sehen«, sagte Mr. Brownlow, seinen aufsteigenden Zorn bezwingend.

»Das werden wir«, entgegnete Mr. Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln, »ja, das werden wir.«

Wie das Schicksal so spielte, kam in diesem Augenblick zufällig Mrs. Bedwin mit einem kleinen Packen Bücher herein, die Mr. Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler erworben hatte, den wir bereits aus unserer Geschichte kennen, legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen.

»Der Botenjunge soll noch warten, Mrs. Bedwin«, bat Mr. Brownlow, »ich möchte, dass er etwas mit zurücknimmt.«

»Er ist bereits wieder fort, Sir«, erwiderte Mrs. Bedwin.

»Dann ruft ihn zurück«, sagte Mr. Brownlow, »es ist wichtig. Er ist ein armer Mann, und die Bücher sind noch nicht bezahlt. Außerdem sollen ein paar andere Bücher zurückgebracht werden.«

Die Haustür wurde geöffnet, Oliver lief in die eine Richtung, das Dienstmädchen in die andere, und Mrs. Bedwin blieb auf der Schwelle stehen und rief nach dem Botenjungen, aber es war kein Botenjunge zu sehen. Oliver und das Mädchen kehrten ganz außer Atem zurück, nur um zu berichten, dass sie keine Kunde von ihm hatten.

»Ach du meine Güte, das tut mir aber leid«, sagte Mr. Brownlow, »vor allem wollte ich diese Bücher noch heute abend zurückgeben.«

»Dann schickt doch Oliver«, meinte Mr. Grimwig mit einem ironischen Lächeln, »er wird sie ganz bestimmt wohlbehalten abliefern.«

»Ja, ich will gehen, wenn Ihr erlaubt, Sir«, sagte Oliver. »Ich werde auch den ganzen Weg rennen, Sir.«

Der alte Herr wollte gerade einwenden, dass Oliver auf keinen Fall gehen dürfe, als ein höchst gehässiges Hüsteln Mr. Grimwigs ihn zu dem Entschluss brachte, dass er doch gehen und durch die prompte Erledigung seines Auftrages beweisen solle, wie ungerechtfertigt Grimwigs Verdächtigungen seien, zumindest in diesem Punkt.

»Du darfst gehen, mein Lieber«, sagte der alte Herr. »Die Bücher liegen auf dem Stuhl neben meinem Tisch. Geh sie holen.«

Oliver, der froh war, sich nützlich machen zu können, kam dienstbeflissen mit den Büchern unterm Arm zurück und wartete, die Mütze in der Hand, welche Botschaft man ihm auftragen würde.

»Richte aus«, sagte Mr. Brownlow mit festem Blick auf Grimwig, »richte aus, dass du diese Bücher zurückbringst und gekommen bist, um die vier Pfund zehn zu zahlen, die ich ihm schulde. Hier ist eine Fünfpfundnote, also bringst du zehn Shilling Wechselgeld zurück.«

»Ich werde keine zehn Minuten brauchen, Sir«, erwiderte Oliver eifrig. Nachdem er den Geldschein in seine Jackentasche geknöpft und die Bücher sorgfältig unter den Arm gesteckt hatte, verbeugte er sich ehrerbietig und verließ das Zimmer. Mrs. Bedwin begleitete ihn bis zur Haustür, beschrieb ihm den kürzesten Weg, nannte ihm den Namen des Buchhändlers und der Straße, woraufhin Oliver bestätigte, alles verstanden zu haben. Nachdem sie ihm noch mehrmals eingeschärft hatte, aufzupassen und sich nicht zu erkälten, gestattete die alte Dame ihm schließlich zu gehen.

»Gott schütze diesen lieben Jungen!«, rief die alte Dame, als sie ihm nachschaute. »Es ist mir so gar nicht recht, ihn aus den Augen zu lassen.«

In diesem Moment sah sich Oliver fröhlich um und nickte ihr zu, bevor er um die Ecke verschwand. Die alte Dame erwiderte lächelnd seinen Gruß, schloss die Tür und ging wieder auf ihr Zimmer.

»Wollen wir mal sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er zurück sein«, sagte Mr. Brownlow, zog seine Uhr hervor und legte sie auf den Tisch. »Bis dahin wird es dunkel sein.«

»Oh! Ihr rechnet also wirklich damit, dass er zurückkommt, was?«, erkundigte sich Mr. Grimwig.

»Ihr nicht?«, fragte Mr. Brownlow lächelnd.

Der Geist des Widerspruchs regte sich augenblicklich in Mr. Grimwigs Brust, und er wurde durch das zuversichtliche Lächeln seines Freundes noch weiter angestachelt.

»Nein«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, »tue ich nicht. Der Bursche hat einen nagelneuen Anzug auf dem Leib, einen Packen wertvoller Bücher unterm Arm und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird zu seinen alten Diebesfreunden laufen und Euch auslachen. Wenn der Bursche jemals in dieses Haus zurückkehrt, will ich meinen Kopf fressen, Sir.«

Mit diesen Worten zog er seinen Stuhl näher an den Tisch, und da saßen die beiden Freunde nun, in stummer Erwartung, die Uhr zwischen sich.

Eines ist erwähnenswert, da es die Bedeutung, die wir unserem eigenen Urteil beimessen, verdeutlicht, und auch den Stolz, mit dem wir unsere raschen und voreiligen Schlüsse ziehen, dass nämlich Mr. Grimwig, obwohl keineswegs ein bösartiger Mensch, und obwohl es ihm aufrichtig leidgetan hätte, seinen geschätzten Freund betrogen und enttäuscht zu sehen, in diesem Augenblick allen Ernstes und inständig hoffte, Oliver Twist möge nicht zurückkehren.

Es wurde so dunkel, dass die Zahlen auf dem Ziffernblatt kaum noch zu erkennen waren, doch die beiden alten Herrn blieben dort sitzen, schweigend, die Uhr zwischen sich.

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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