Читать книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 8

Fünftes Kapitel

Оглавление

Oliver trifft auf neue Gefährten. Er nimmt zum ersten Mal an einem Begräbnis teil und bildet sich eine ungünstige Meinung vom Gewerbe seines Lehrherrn.

Oliver, der allein in der Werkstatt des Leichenbestatters zurückgeblieben war, stellte die Lampe auf eine Werkbank und schaute sich mit einem Gefühl von Furcht und Scheu verzagt um, was selbst viele Leute, die um einiges älter sind als er, voll und ganz verstehen werden. Ein noch nicht fertiggestellter Sarg, der auf schwarzen Böcken mitten in der Werkstatt stand, sah so düster und nach Tod aus, dass ihn jedesmal, wenn sein Blick auf diesen grausigen Gegenstand fiel, ein kalter Schauder durchlief, halb in der Erwartung, eine schreckliche Gestalt würde langsam ihren Kopf daraus erheben, damit er vor Entsetzen den Verstand verlöre. An der Wand lehnte in peinlicher Ordnung eine lange Reihe von Brettern aus Ulmenholz, die alle gleich zugeschnitten waren. In dem trüben Licht sahen sie aus wie Gespenster, die ihre Schultern hochgezogen und die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Sargbeschläge, Ulmenholzspäne, Nägel mit blanken Köpfen und Fetzen schwarzen Tuchs lagen verstreut auf dem Boden herum, und die Wand hinter dem Ladentisch zierte eine lebensechte Darstellung zweier Totenwächter in sehr steifen Hemdkragen, die vor der Tür eines Hauses ihren Dienst verrichteten, während sich aus der Ferne ein von vier Rappen gezogener Leichenwagen näherte. Die Werkstatt war eng und stickig, und die Luft schien vom Geruch der Särge verpestet. Der Winkel unter dem Ladentisch, wo man Olivers mit Wollfetzen gefüllte Matratze hingeworfen hatte, glich einem Grab.

Doch das waren nicht die einzigen düsteren Gefühle, die Oliver bedrückten. Er befand sich allein an einem fremden Ort, und wir wissen alle, wie mutlos und verlassen sich selbst die Tapfersten von uns in einer derartigen Lage zuweilen fühlen. Der Junge besaß keine Angehörigen, um die er sich sorgen konnte, oder die sich um ihn sorgten. Weder verspürte er den Kummer einer jüngst erlebten Trennung, noch lastete die Abwesenheit eines geliebten und vertrauten Gesichts auf seinem Herzen. Aber dennoch war ihm das Herz schwer, und als er in sein enges Bett kroch, wünschte er, es wäre sein Sarg und er könne auf dem Friedhof zu einem seligen und ewigen Schlaf finden, während das hohe Gras über seinem Kopf wogte und das Läuten der tiefen Glocken ihn in seinem Schlummer besänftigte.

Am Morgen wurde Oliver durch laute Tritte gegen die Ladentür aufgeweckt, die sich, bevor er hastig seine Kleider überstreifen konnte, wild und ungestüm wohl fünfundzwanzigmal wiederholten. Als er die Kette abnehmen wollte, verstummten die Füße, und eine Stimme erklang.

»Mach die Tür auf, verstanden?«, schrie die Stimme, die zu den Füßen gehörte, die gegen die Tür getreten hatten.

»Jawohl, Sir, sofort!«, erwiderte Oliver, entfernte die Kette und drehte den Schlüssel herum.

»Bist wohl der neue Junge, was?«, fragte die Stimme durch das Schlüsselloch.

»Jawohl, Sir«, erwiderte Oliver.

»Wie alt bist du?«, erkundigte sich die Stimme.

»Zehn, Sir«, erwiderte Oliver.

»Dann werd ich dich vermöbeln, wenn ich reinkomm«, sagte die Stimme, »das wirste schon seh’n, du Armenhauslümmel!« Und nachdem sie dieses feste Versprechen gegeben hatte, begann die Stimme zu pfeifen.

Oliver war schon zu oft dieser eben mit einem launigen Ausdruck bezeichneten Tätigkeit ausgeliefert gewesen, um auch nur den geringsten Zweifel daran zu hegen, dass der Besitzer der Stimme, wer immer es auch sein mochte, sein Versprechen höchst ehrenhaft einlösen werde. Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und öffnete die Tür.

Oliver schaute kurz die Straße hinauf, dann die Straße hinab, und schließlich auf die gegenüberliegende Seite, in der festen Annahme, der Unbekannte, der mit ihm durchs Schlüsselloch gesprochen hatte, sei ein paar Schritte gegangen, um sich aufzuwärmen, denn er sah niemanden, außer einem großen Jungen aus der Armenschule, der vor dem Haus auf einem Pfosten hockte und ein Butterbrot aß, das er mit einem Klappmesser in mundgerechte Stücke schnitt, die er mit großer Geschicklichkeit verzehrte.

»Verzeihung, Sir«, sagte Oliver schließlich, als er sah, dass kein anderer Besucher auftauchte, »habt Ihr geklopft?«

»Ich habe getreten«, erwiderte der Armenschüler.

»Wollt Ihr einen Sarg, Sir?«, erkundigte sich Oliver unschuldig.

Daraufhin schaute der Armenschüler ungeheuer grimmig drein und meinte, Oliver werde bald selbst einen brauchen, wenn er mit seinen Vorgesetzten weiterhin derlei Scherze treibe.

»Du weiß wohl gar nich, wer ich bin, was, Armenhäusler?«, fuhr der Armenschüler fort, während er mit erbaulichem Ernst vom Pfosten herabstieg.

»Nein, Sir«, antwortete Oliver.

»Ich bin Mister Noah Claypole«, sagte der Armenschüler, »und du bist mir unterstellt. Nimm die Fensterläden runter, du fauler Lausebengel!«

Mit diesen Worten versetzte Mr. Noah Claypole Oliver einen Tritt und betrat mit einer würdevollen Miene, die ihm alle Ehre machte, die Werkstatt. Für einen Jungen mit großem Kopf, kleinen Augen, plumper Gestalt und feistem Gesicht ist es ohnehin nicht einfach, würdevoll auszusehen, aber das gilt umso mehr, wenn sich zu diesen persönlichen Vorzügen obendrein noch eine rote Nase und kurze gelbe Kniebundhosen gesellen.

Oliver wurde, als er den ersten Laden abgenommen und bei dem Versuch, unter dessen Gewicht auf einen kleinen Hof an der Seite des Hauses, wo sie tagsüber aufbewahrt wurden, zu wanken, eine Scheibe zerbrochen hatte, gnädigerweise von Noah unterstützt, der sich, nachdem er Oliver mit der Versicherung, dafür werde er sich »ein paar einfangen«, getröstet hatte, herabließ, ihm zu helfen. Bald darauf kam Mr. Sowerberry nach unten. Kurz nach ihm erschien auch Mrs. Sowerberry, und Oliver, der sich »ein paar einfing«, wie Noah richtig vorausgesagt hatte, folgte diesem jungen Herrn die Treppe hinab zum Frühstück.

»Komm hier ans Feuer, Noah«, sagte Charlotte. »Ich hab dir’n schönes Stückchen Speck vom Frühstück des Meisters aufbewahrt. Oliver, mach die Tür hinter Mister Noah zu, und nimm dir, was ich auf den Deckel des Brotkastens gelegt hab. Hier is dein Tee, geh damit rüber zur Kiste und trink ihn dort, und beeil dich, denn du wirst in der Werkstatt gebraucht, haste gehört?«

»Haste gehört, Armenhäusler?«, fragte Noah Claypole.

»Mein Gott, Noah«, rief Charlotte, »was für’n ulkiger Kerl du doch bist! Warum lässte den Jungen nich in Ruh?«

»Ihn in Ruh lassen!«, entgegnete Noah. »Es lassen ihn doch schon alle in Ruh. Weder sein Vater noch seine Mutter werden ihn je belästigen. Seine ganze Familie lässt ihn tun, was er will, oder nich, Charlotte? Hehehe!«

»Ach, du komischer Vogel!«, sagte Charlotte und brach in herzhaftes Gelächter aus, in das Noah einstimmte, und dann schauten sie beide hämisch auf den armen Oliver Twist, der in der kältesten Ecke des Raumes zitternd auf einer Kiste hockte und seine altbackenen Brocken aß, die man eigens für ihn aufbewahrt hatte.

Noah war ein Junge aus der Armenschule, aber keine Waise aus dem Armenhaus. Er war kein uneheliches Kind, denn er konnte seine Abstammung bis zu seinen Eltern zurückverfolgen, die ganz in der Nähe wohnten. Seine Mutter war Waschfrau, sein Vater ein dem Trunke ergebener Soldat, der mit einem Holzbein und einem täglichen Gnadensold von zweieinhalb Pence Komma irgendwas aus dem Dienst entlassen worden war. Unter den Ladenburschen in der Nachbarschaft gab es seit langem den Brauch, Noah auf offener Straße mit schmähenden Beinamen wie »Lederhose«, »Lumpenschule« und dergleichen zu belegen, und Noah hatte es ohne Widerrede ertragen. Aber jetzt, wo ihm das Schicksal einen unehelichen Waisen gesandt hatte, auf den noch der Niedrigste verächtlich mit dem Finger zeigen konnte, zahlte er es ihm mit Zinsen heim. Das bietet trefflichen Stoff zum Nachdenken. Es zeigt uns, was für ein wunderbares Ding die menschliche Natur zuweilen ist und wie sich die gleichen liebenswerten Eigenschaften ohne Unterschied sowohl beim vornehmsten Lord wie auch beim elendsten Armenschüler finden.

Oliver lebte inzwischen etwa drei oder vier Wochen bei dem Leichenbestatter. Mr. und Mrs. Sowerberry nahmen, die Läden waren bereits geschlossen, in der kleinen hinteren Stube ihr Abendbrot zu sich, als Mr. Sowerberry, nachdem er mehrmals schüchtern zu seiner Frau hinübergeschaut hatte, anhob:

»Meine Liebe …«

Er wollte noch mehr sagen, aber als Mrs. Sowerberry mit ungnädiger Miene aufblickte, verstummte er jäh.

»Ja?«, fragte Mrs. Sowerberry unwirsch.

»Nichts, meine Liebe, gar nichts«, antwortete Mr. Sowerberry.

»Bah, wie gemein!«, rief Mrs. Sowerberry.

»Aber nicht doch, meine Liebe«, erwiderte Mr. Sowerberry unterwürfig, »ich dachte, Ihr wolltet es nicht hören, meine Liebe. Ich wollte nur sagen …«

»Ach, verratet mir bloß nicht, was Ihr sagen wolltet«, unterbrach Mrs. Sowerberry. »Ich bin doch unwichtig, beachtet mich einfach nicht. Ich will Euch gewiss nicht Eure Geheimnisse entlocken.« Bei diesen Worten stieß Mrs. Sowerberry ein hysterisches Lachen aus, was nichts Gutes verhieß.

»Aber meine Liebe«, sagte Sowerberry, »ich wollte Euch um Rat fragen.«

»Nein, nein, fragt nicht mich«, entgegnete Mrs. Sowerberry geziert, »fragt jemand anderen.« Hier folgte ein weiteres hysterisches Lachen, das Mr. Sowerberry sehr beängstigte. Dies ist eine altbewährte und weitverbreitete eheliche Vorgehensweise, die zumeist erfolgreich ist. Sie nötigte Mr. Sowerberry unversehens dazu, als besondere Vergünstigung zu erbitten, etwas sagen zu dürfen, das Mrs. Sowerberry nur allzu begierig zu hören wünschte. Nach einem weiteren kurzen Wortwechsel von noch nicht einmal einer Dreiviertelstunde Dauer wurde die Erlaubnis höchst gnädig erteilt.

»Es geht bloß um den kleinen Twist, meine Liebe«, sagte Mr. Sowerberry. »Der Junge sieht prächtig aus.«

»Kein Wunder, er isst ja auch genug«, bemerkte die Dame.

»Sein Gesicht hat so einen wehmütigen Ausdruck«, sprach Mr. Sowerberry weiter, »der sehr anrührend wirkt. Er würde einen vortrefflichen Leichenzügler abgeben, meine Liebe.«

Mrs. Sowerberry schaute nicht wenig verwundert auf. Das bemerkte Mr. Sowerberry natürlich, und so fuhr er, ohne der guten Dame Gelegenheit zu Einwänden zu geben, fort:

»Ich meine keinen richtigen Leichenzügler für die Erwachsenen, meine Liebe, sondern nur für die Kinder. Es wäre wirklich etwas Neues, einen Leichenzügler in passender Größe zu haben. Verlasst Euch drauf, meine Liebe, es würde den allerbesten Eindruck machen.«

Mrs. Sowerberry, die einigen Sachverstand besaß, was das Bestattungsgewerbe betraf, war von der Originalität dieses Einfalls sehr angetan, aber da es unter den gegebenen Umständen ihrer Würde abträglich gewesen wäre, dieses einzugestehen, fragte sie lediglich mit einiger Schärfe, warum ihrem Gatten ein solch naheliegender Gedanke nicht schon eher in den Sinn gekommen sei. Da Mr. Sowerberry dies ganz richtig als Zustimmung zu seinem Vorschlag auslegte, wurde umgehend beschlossen, Oliver auf der Stelle in die Geheimnisse des Gewerbes einzuweihen, zu welchem Zwecke er seinen Lehrherrn bei der allernächsten Gelegenheit, wenn dessen Dienste benötigt würden, begleiten solle.

Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen betrat Mr. Bumble eine halbe Stunde nach dem Frühstück die Werkstatt, lehnte seinen Stock gegen den Ladentisch und holte seine große lederne Brieftasche hervor, der er ein kleines Schnipsel Papier entnahm, um es Mr. Sowerberry zu überreichen.

»Aha!«, rief der Leichenbestatter und warf einen neugierigen Blick darauf. »Die Bestellung für einen Sarg, was?«

»Erst für einen Sarg, dann für ein Armenbegräbnis«, erwiderte Mr. Bumble und zog den Riemen der ledernen Brieftasche, die, wie er selbst, recht dickleibig war, wieder fest.

»Bayton«, las der Leichenbestatter und schaute von dem Schnipsel Papier zu Mr. Bumble. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

Bumble schüttelte den Kopf, als er antwortete: »Widerborstige Leute, Mr. Sowerberry, äußerst widerborstige Leute. Obendrein noch stolz, wie ich leider sagen muss, Sir.«

»Stolz, was?«, entfuhr es Mr. Sowerberry höhnisch. »Na, das ist ja wohl das Letzte.«

»Ja, unerträglich«, erwiderte der Büttel. »Geradezu übelkeiterregend, Mr. Sowerberry!«

»So ist es«, pflichtete ihm der Leichenbestatter bei.

»Wir haben erst vorletzte Nacht überhaupt von der Familie erfahren«, sagte der Büttel, »und auch nur deshalb, weil eine Frau, die im selben Haus logiert, bei den Behörden vorstellig geworden war, damit sie den Amtsarzt schicken, um sich eine Weibsperson anzusehen, der es sehr schlecht geht. Der Doktor war jedoch gerade zum Essen, aber sein Gehilfe, ein blitzgescheiter Kerl, hat ihnen auf der Stelle in einem Fläschchen für Schuhwichse etwas Medizin geschickt.«

»Ah, das nenne ich kurz entschlossen gehandelt«, bemerkte der Leichenbestatter.

»Kurz entschlossen, das will ich meinen«, erwiderte der Büttel. »Aber was ist die Folge, wie undankbar verhalten sich daraufhin diese Störenfriede, Sir? Der Gatte lässt ausrichten, die Medizin sei für das Gebrechen seiner Frau nicht geeignet, also würde sie sie nicht nehmen … sagt, sie würde sie nicht nehmen, Sir! Gute, starke, gesunde Medizin, wie sie erst eine Woche zuvor zwei irischen Arbeitern und einem Kohlenträger verabreicht worden war … kriegen sie umsonst, samt nem Fläschchen für Schuhwichse … und er lässt ausrichten, sie würde sie nicht nehmen, Sir!«

Wie diese Greueltat Mr. Bumble mit aller Macht vor Augen trat, schlug er mit seinem Stock fest auf den Ladentisch und lief vor Empörung rot an.

»Also wirklich«, rief der Leichenbestatter, »das hätte ich ja nie-hie-mals …«

»Niemals, Sir!«, stieß der Büttel hervor. »Ihr nicht, und auch sonst niemand, aber jetzt ist sie tot, und wir müssen sie beerdigen, so lautet die Vorschrift, und je eher die Sache erledigt wird, desto besser.«

Bei diesen Worten setzte sich Mr. Bumble den Dreispitz im Eifer seiner amtlichen Erregung verkehrt herum auf und stürmte aus der Werkstatt.

»Tja, Oliver, er war so aufgebracht, dass er nicht einmal nach dir gefragt hat«, bemerkte Mr. Sowerberry, der dem Büttel nachschaute, wie er schnellen Schrittes die Straße hinabeilte.

»Ja, Sir«, entgegnete Oliver, der sich während der Unterredung mit Bedacht verborgen gehalten hatte und noch bei der Erinnerung an den Klang von Mr. Bumbles Stimme von Kopf bis Fuß bebte. Er hätte sich jedoch die Mühe sparen können, sich den Blicken Mr. Bumbles zu entziehen, denn dieser Beamte, auf den die Prophezeiung des Herrn in der weißen Weste tiefen Eindruck gemacht hatte, war der Meinung, das Thema sei, solange Oliver sich auf Probe beim Leichenbestatter befand, besser zu meiden, bis dieser für sieben Jahre fest gebunden und die Gefahr, dass er wieder der Gemeinde zur Last falle, ein für alle Mal gesetzlich gebannt sei.

»Gut«, sagte Mr. Sowerberry und nahm seinen Hut, »je eher wir dieses Geschäft hinter uns bringen, desto besser. Noah, gib auf die Werkstatt acht. Oliver, setz deine Mütze auf und komm mit.« Oliver gehorchte und folgte seinem Herrn bei dessen beruflichem Einsatz.

Sie gingen eine Weile durch das am dichtesten bevölkerte Viertel der Stadt, wo das Gedränge am größten war, bogen dann in eine enge Gasse, die schmutziger und elender war als alle anderen, durch die sie bisher gekommen waren, und hielten an, um sich nach dem Haus umzusehen, dem ihre Suche galt. Die Gebäude ragten zu beiden Seiten groß und hoch empor, waren aber sehr alt und wurden von Leuten der ärmsten Schicht bewohnt, wie die heruntergekommenen Fassaden zur Genüge verrieten, auch ohne dass es des gleichzeitigen Zeugnisses, das von dem verwahrlosten Aussehen der wenigen Männer und Frauen abgelegt wurde, die mit untergeschlagenen Armen und gebeugten Leibern vereinzelt umherschlichen, bedurft hätte. Viele der Häuser besaßen Ladenfronten, die jedoch fest verrammelt waren und verfielen, denn nur die oberen Stockwerke wurden bewohnt. Einige durch Alter und Verfall baufällig gewordene Gebäude wurden durch riesige hölzerne Balken, die gegen die Wände gestützt und fest auf der Straße verankert waren, am Einsturz gehindert. Doch selbst diese erbärmlichen Bruchbuden schienen von einigen unbehausten armen Teufeln als nächtliches Lager auserkoren worden zu sein, denn viele der groben Holzplanken, die Türen und Fenster ersetzten, waren herausgerissen worden, um eine Öffnung zu schaffen, groß genug, um einem menschlichen Körper Durchlass zu gewähren. In der Gosse stand das dreckige Abwasser. Sogar die Ratten, die hier und da verwesend im Moder lagen, sahen vor Hunger ganz elend aus.

Weder Klingelzug noch Klopfer befanden sich an der offenen Tür, vor der Oliver und sein Lehrherr stehen blieben, deshalb ertastete sich der Leichenbestatter vorsichtig den Weg durch den dunklen Gang, befahl Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten und keine Angst zu haben, und stieg zum ersten Treppenabsatz empor, wo sie auf eine Tür stießen, an die Sowerberry mit seinen Knöcheln klopfte.

Ein junges Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren öffnete. Mit einem Blick ins Innere des Zimmers sah der Leichenbestatter genug, um zu wissen, dass es sich um die Behausung handelte, zu der er bestellt worden war. Er trat ein, Oliver folgte ihm.

Im Zimmer brannte kein Feuer, aber ein Mann kauerte wie entrückt am leeren Ofen. Auch eine alte Frau hatte sich einen Hocker an den kalten Herd gezogen und saß neben ihm. In der anderen Ecke drängten sich ein paar zerlumpte Kinder, und in einer kleinen Nische gegenüber der Tür lag etwas unter einer alten Decke auf dem Boden. Oliver erschauderte, als sein Blick auf diese Stelle fiel, und er drückte sich unwillkürlich enger an seinen Herrn, denn obwohl die Decke darüber lag, spürte der Junge, dass es ein Leichnam war.

Der Mann hatte ein hageres, sehr bleiches Gesicht, Haare und Bart waren grau, die Augen blutunterlaufen. Das Gesicht der alten Frau war voller Runzeln, die beiden ihr noch verbliebenen Zähne standen über die Unterlippe vor, ihre Augen waren hell und stechend. Oliver fürchtete sich, sie oder den Mann anzuschauen. Sie schienen so sehr den Ratten zu gleichen, die er draußen gesehen hatte.

»Keiner rührt sie an«, rief der Mann und fuhr mit einem Ruck hoch, als der Leichenbestatter sich der Nische näherte. »Zurück! Weg da, schert Euch zum Teufel, zurück, wenn Euch Euer Leben lieb ist!«

»Aber nicht doch, guter Mann«, sagte der Leichenbestatter, der mit Elend in all seinen Erscheinungsformen wohlvertraut war. »Aber nicht doch!«

»Ich sag Euch«, rief der Mann, ballte seine Hände und stampfte wild auf den Boden, »ich sag Euch, ich werde nicht zulassen, dass sie unter die Erde kommt. Dort fände sie keine Ruhe. Die Würmer würden sie nur quälen, statt sie zu fressen, sie ist ja nur noch Haut und Knochen.«

Der Leichenbestatter erwiderte nichts auf diese Raserei, sondern holte ein Band aus seiner Tasche hervor und kniete für einen Augenblick neben dem Leichnam nieder.

»Ach!«, schluchzte der Mann, brach in Tränen aus und sank zu Füßen der toten Frau auf die Knie. »Kniet nieder, kniet nieder, kniet alle vor ihr nieder und hört meine Worte! Ich sag euch, man hat sie verhungern lassen. Ich wusste nicht, wie schlimm es mit ihr stand, bis das Fieber über sie kam, da stachen ihr dann die Knochen durch die Haut. Wir hatten weder Feuer noch Kerzen, sie starb im Finstern … im Finstern. Sie konnte nicht einmal die Gesichter ihrer Kinder sehen, obwohl wir hörten, wie sie keuchend ihre Namen rief. Ich hab auf der Straße für sie gebettelt, dafür hat man mich ins Gefängnis gesteckt. Als ich zurückkam, lag sie im Sterben, und mir brach das Herz, denn man hat sie verhungern lassen. Ich schwöre bei Gott, Er weiß es! Man hat sie verhungern lassen!«

Er griff sich mit den Händen ins Haar und wälzte sich mit einem lauten Schrei auf dem Boden, seine Augen starrten ins Leere, und Schaum trat ihm vor die Lippen.

Die verstörten Kinder weinten bitterlich, doch die alte Frau, die bis dahin so ruhig geblieben war, als sei sie taub für alles, was um sie herum geschah, brachte sie drohend zum Schweigen, und nachdem sie dem Mann, der ausgestreckt auf dem Boden liegen blieb, das Halstuch gelockert hatte, wankte sie zum Leichenbestatter.

»Sie war meine Tochter«, sagte die alte Frau, wobei sie mit ihrem Kopf Richtung Leichnam nickte und mit einem irren Blick sprach, der an diesem Ort sogar noch schauerlicher wirkte als die Anwesenheit des Todes. »O mein Gott! Es ist doch komisch, dass ich, die sie geboren hat und schon damals eine erwachsene Frau war, noch am Leben und wohlauf bin, und sie liegt da, so kalt und steif! O mein Gott … allein der Gedanke … zum Totlachen, zum Totlachen!«

Während das arme Geschöpf in seiner unheimlichen Fröhlichkeit noch vor sich hin murmelte und kicherte, wandte sich der Leichenbestatter zum Gehen.

»Halt, halt!«, rief die alte Frau mit heiserem Krächzen. »Wird sie morgen oder übermorgen oder heute abend beerdigt? Ich hab sie doch zur Aufbahrung eingekleidet und muss ja mitgehen, versteht Ihr. Schickt mir einen großen Mantel, einen schön warmen, denn es ist bitterkalt. Wir brauchen auch noch Kuchen und Wein, bevor wir gehen! Ach, lasst gut sein, schickt ein wenig Brot … nur einen Laib Brot und einen Becher Wasser. Bekommen wir ein wenig Brot, guter Mann?«, fragte sie beschwörend und packte den Leichenbestatter am Rock, als er sich erneut Richtung Tür bewegte.

»Ja, ja«, erwiderte der Leichenbestatter, »natürlich. Von allem und jedem!«

Er befreite sich aus dem Griff der Alten und eilte, Oliver hinter sich herziehend, schnell davon.

Am nächsten Tag (die Familie war inzwischen – von Mr. Bumble höchstpersönlich – mit einem halben Vierpfundbrot und einem Stück Käse versorgt worden) kehrten Oliver und sein Lehrherr zu der armseligen Behausung zurück, wo bereits Mr. Bumble in Begleitung von vier Männern aus dem Armenhaus, die als Träger dienen sollten, eingetroffen war. Sie warfen einen verschlissenen schwarzen Mantel über die Lumpen der alten Frau und des Mannes, und nachdem man den schmucklosen Sarg zugeschraubt hatte, hoben ihn die Träger auf die Schultern und gingen damit auf die Straße hinunter.

»Ihr müsst jetzt einen Schritt zulegen, Madam!«, flüsterte Sowerberry der Alten ins Ohr. »Wir sind spät dran, und es gehört sich nicht, den Geistlichen warten zu lassen. Vorwärts, Männer … so schnell ihr könnt!«

Derart angewiesen, trabten die Träger mit ihrer leichten Last los, und die beiden Trauernden blieben ihnen so gut sie vermochten auf den Fersen. Mr. Bumble und Mr. Sowerberry schritten in schnellem Tempo voran, und Oliver, dessen Beine nicht so lang waren wie die seines Herrn, rannte neben ihnen her.

Es bestand jedoch keine so dringliche Notwendigkeit zur Eile, wie Mr. Sowerberry angenommen hatte, denn als sie den abgelegenen Winkel des Friedhofs erreichten, wo die Nesseln wucherten und die Armengräber ausgehoben wurden, war der Geistliche noch nicht eingetroffen, und der Küster, der in der Sakristei am Feuer saß, schien es keineswegs für unwahrscheinlich zu halten, dass noch eine Stunde oder so vergehen könne, bevor er käme. Also stellten sie die Bahre am Rand des Grabes ab, und die beiden Trauernden standen geduldig wartend im aufgeweichten Lehm, während ein kalter Nieselregen niederging und die zerlumpten Jungen, die das Schauspiel auf den Friedhof gelockt hatte, zwischen den Grabsteinen lärmend Versteck spielten oder sich zur Abwechslung damit vergnügten, über den Sarg hin und her zu springen. Mr. Sowerberry und Mr. Bumble, die persönlich mit dem Küster befreundet waren, setzten sich zu ihm ans Feuer und lasen Zeitung.

Nachdem etwas mehr als eine Stunde verstrichen war, sah man endlich Mr. Bumble, Mr. Sowerberry und den Küster Richtung Grab laufen. Unmittelbar darauf erschien der Geistliche, der sich unterwegs das Chorhemd überstreifte. Sodann verdrosch Mr. Bumble, um den Schein zu wahren, ein oder zwei der Jungen, und Hochwürden reichte, nachdem er so viel von der Totenmesse gelesen hatte, wie sich in vier Minuten unterbringen ließ, dem Küster sein Chorhemd und ging wieder fort.

»Los, Bill«, sagte Sowerberry zum Totengräber, »schütt’s zu!«

Das stellte keine allzu schwere Arbeit dar, denn das Grab war so gefüllt, dass sich über dem obersten Sarg nur noch ein paar Fuß Luft befanden. Der Totengräber schaufelte Erde hinein, stampfte sie mit den Füßen ein wenig fest, schulterte seinen Spaten und ging davon, gefolgt von den Jungen, die sich laut murrend beschwerten, weil der Spaß so schnell vorbei war.

»Kommt, mein Freund«, sagte Bumble und klopfte dem Mann auf die Schulter, »sie wollen den Friedhof schließen.«

Der Mann, der vollkommen regungslos stehengeblieben war, seit er seinen Platz am Grab eingenommen hatte, fuhr zusammen, hob den Kopf und starrte den Menschen, der zu ihm gesprochen hatte, ausdruckslos an, tat ein paar Schritte nach vorne und fiel ohnmächtig zu Boden. Die irrsinnige Alte war zu sehr damit beschäftigt, den Verlust ihres Mantels (den ihr der Leichenbestatter wieder abgenommen hatte) zu beklagen, um dem Mann irgendwelche Beachtung zu schenken, weshalb man eine Kanne kaltes Wasser über ihn schüttete. Als der Mann zu sich kam, geleiteten sie ihn vorsichtshalber vom Friedhof, schlossen das Tor und zerstreuten sich in alle Richtungen.

»Nun, Oliver«, fragte Mr. Sowerberry auf dem Heimweg, »wie hat es dir gefallen?«

»Ganz gut, Sir, danke«, erwiderte Oliver recht zögerlich. »Eigentlich überhaupt nicht, Sir.«

»Ach, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen«, meinte Sowerberry. »Halb so schlimm, wenn du erst einmal daran gewöhnt bist, mein Junge.«

Oliver überlegte, ob Mr. Sowerberry wohl sehr lange gebraucht habe, um sich daran zu gewöhnen, hielt es aber für besser, diese Frage nicht zu stellen, also ging er mit zur Werkstatt zurück und bedachte dabei alles, was er gesehen und gehört hatte.

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

Подняться наверх