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Sechstes Kapitel.
Der Schuhmacher.

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„Guten Tag!“ sagte Monsieur Defarge, indem er auf den weißen Kopf herabsah, der sich tief auf den Schuh herabbückte.

Er hob sich für einen Augenblick und eine sehr schwache Stimme beantwortete den Gruß, als ob sie aus der Ferne käme:

„Guten Tag!“

„Ich sehe, Sie arbeiten immer noch angestrengt.“

Nach einer langen Pause hob der Kopf sich wieder und die Stimme antwortete. „Ja — ich arbeite.“ Diesmal hatten ein Paar hohle Augen den Fragenden angeblickt, ehe das Gesicht sich wieder senkte.

Die Tonlosigkeit der Stimme war Mitleid erregend, und schrecklich. Es war nicht die Tonlosigkeit physischer Schwäche, obgleich lange Einsperrung und karge Kost jedenfalls ihren Theil daran hatten. Ihre beklagenswerthe Eigenthümlichkeit war, daß es die Tonlosigkeit der Einsamkeit und des Nichtgebrauchs war. Sie war wie das letzte schwache Echo eines vor langer, langer Zeit erklungenen Tones. So ganz vollständig hatte er das Leben und das Metall der menschlichen Stimme verloren, daß er auf die Sinne denselben Eindruck machte, wie eine ehedem schöne Farbe, die zu einem kaum sichtbaren fahlen Flecken verblichen ist. So fahl und dumpf war sie, daß sie wie eine unterirdische Stimme klang. So deutlich sprach sie von einem hoffnungslosen und verlorenen Wesen, daß ein verhungerter Reisender, vom langen einsamen Wandern in einer Wüste erschöpft, sich an Heimath und Freunde in einem solchen Tone erinnert haben würde, ehe er sich zum Sterben hinlegte.

Einige Minuten stiller Arbeit waren verstrichen und die hohlen Augen hatten wieder aufgeschaut: nicht mit irgend einer Theilnahme oder Neugier, sondern mit einer stumpfen, mechanischen Wahrnehmung, daß die Stelle, wo der einzige Besuch, von dem sie Etwas wußten, gestanden hatte, noch nicht leer sei.

„Ich möchte etwas mehr Licht herein lassen,“ sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher abgewendet hatte. „Sie können noch etwas mehr ertragen?“

Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne; schaute dann mit dem leeren Blick eines Menschen, der Worte vernimmt, ohne sie zu verstehen, auf den Fußboden auf der einen Seite neben sich nieder; dann ebenso auf die andere Seite; dann sah er den Sprechenden an.

„Was sagten Sie?“

„Sie können etwas mehr Licht ertragen?“

„Ich muß es ertragen, wenn Sie es hereinlassen.“ Er legte den schwächsten Schatten eines Nachdrucks auf das zweite Wort.

Der geöffnete Flügel wurde noch ein Wenig mehr geöffnet und alsdann befestigt. Ein breiter Streifen Licht fiel in die Dachkammer und zeigte den Arbeiter, mit einem halbfertigen Schuh auf dem Schooße, in seiner Beschäftigung innehaltend. Sein Arbeitszeug und verschiedene Stückchen Leder lagen auf dem Fußboden und auf der Bank. Er hatte einen weißen Bart, unordentlich geschnitten, aber nicht sehr lang, hohle Wangen und ausnehmend glänzende Augen. Die Hohlheit seiner Wangen und die Abgezehrtheit seines Gesichts hätten die Augen unter seinen noch dunkeln Augenbrauen und seinem wirren, weißen Haar groß aussehen lassen, wenn sie wirklich anders gewesen wären; aber sie waren von Natur groß und sahen jetzt unnatürlich groß aus. Das gelbe, zerrissene Hemd war vorn auf der Brust offen und zeigte, wie abgezehrt und ausgemergelt sein Körper war. Er selbst und seine alte Jacke von Segeltuch und seine herabhängenden Strümpfe und alle seine armseligen Fetzen von Kleidern waren in der langen Absperrung von Tageslicht und Tagesluft zu einer so stumpfen Eintönigkeit von Pergamentgelb verblichen, daß es schwer war, eines von dem andern zu unterscheiden.

Er hielt die eine Hand zwischen seine Augen und das Licht, und sogar die Knochen derselben schienen durchsichtig zu sein. So saß er da mit starrem, leerem Blick und hatte seine Arbeit unterbrochen. Er sah die vor ihm stehende Gestalt nie an, ohne vorher auf die eine und dann auf die andere Seite neben sich auf den Fußboden zu blicken, als ob er die Gewohnheit verloren, Oertlichkeit und Ton mit einander in Verbindung zu bringen; er sprach niemals, ohne zu vergessen, erst auf diese Weise zerstreut herumzuschweifen und zu sprechen.

„Wollen Sie heute noch die Schuhe fertig machen?“ fragte Defarge und winkte Mr. Lorry, vorzukommen.

„Was sagten Sie?“

„Wollen Sie diese Schuhe heute noch fertig machen?“

„Ich kann nicht sagen, daß ich es will. Ich glaube. Ich weiß nicht.“

Aber die Frage erinnerte ihn an seine Arbeit und er bückte sich wieder über dieselbe.

Mr. Lorry trat jetzt geräuschlos vor, ließ aber die Tochter an der Thür. Als er eine oder zwei Minuten lang neben Defarge gestanden hatte, blickte der Schuhmacher auf. Er verrieth kein Erstaunen über den Anblick einer zweiten Gestalt, aber die unruhigen Finger einer seiner Hände bewegten sich wie bewußtlos nach seinen Lippen, wie er den neuen Ankömmling ansah (seine Lippen und seine Nägel waren von derselben blassen Bleifarbe), und dann sank die Hand auf die Arbeit herab, und er bückte sich wieder über den Schuh. Der Blick und die Handlung hatten nur einen Augenblick in Anspruch genommen.

„Sie haben Besuch, wie Sie sehen,“ sagte Monsieur Defarge.

„Was sagten Sie?“

„Hier ist Besuch.“

Der Schuhmacher blickte wie vorhin auf, aber ohne eine Hand von der Arbeit zu entfernen.

„Hören Sie doch!“ sagte Defarge. „Hier ist Monsieur, der einen gutgemachten Schuh zu beurtheilen versteht, wenn er einen sieht. Zeigen Sie ihm den Schuh, an dem Sie arbeiten. Nehmen Sie ihn, Monsieur.“

Mr. Lorry nahm den Schuh.

„Sagen Sie Monsieur, was für ein Schuh es ist und wie der Verfertiger heißt.“

Es folgte eine längere Pause, als gewöhnlich, ehe der Schuhmacher antwortete.

„Ich vergesse, was Sie mich gefragt haben. Was sagten Sie?“

„Ich sagte, können Sie nicht, um Monsieur zu unterrichten, näher beschreiben, was das für ein Schuh ist?“

„Es ist ein Damenschuh. Es ist ein Promenadenschuh für eine junge Dame. Er ist nach der neuesten Mode. Ich habe die Mode nie gesehen. Ich habe ein Muster in der Hand gehabt.“ Er blickte mit einer vorübergehenden, leisen Regung von Stolz nach dem Schuh hin.

„Und wie heißt der Verfertiger?“ fragte Defarge.

Jetzt, wo seine Hände von keiner Arbeit in Anspruch genommen waren, legte er die Knöchel der rechten in die Hohle der linken, und dann die Knöchel der linken in die Hohle der rechten und strich dann mit einer Hand sich den Bart und so in regelmäßiger Aufeinanderfolge weiter, ohne einen Augenblick Unterbrechung.

Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit herauszureißen, in welche er stets versank, nachdem er gesprochen hatte, war ziemlich dieselbe, wie wenn man einen sehr Schwachen aus einer Ohnmacht zu erwecken hat oder sich bemüht, in der Hoffnung, noch Etwas zu entdecken, die Seele eines rasch Sterbenden aufzuhalten.

„Fragten Sie mich nach meinem Namen?“

„Ja, freilich.“

„Einhundert und Fünf, Nordthurm.“

„Weiter Nichts?“

„Einhundert und Fünf, Nordthurm.“

Mit einem matten Ton, der kein Seufzer und kein Gestöhn war, bückte er sich wieder über seine Arbeit, bis das Schweigen abermals gebrochen ward.

„Sie sind kein gelernter Schuhmacher?“ fragte Mr. Lorry, indem er ihn mit festem Blicke ansah.

Seine hohlen Augen wendeten sich auf Defarge, als wollte er diesem die Frage übertragen; aber da keine Hülfe von dorther kam, wendeten sie sich wieder auf den Fragenden zurück, nachdem sie erst den Fußboden gesucht hatten.

„Ob ich ein gelernter Schuhmacher bin? Nein, ich war kein gelernter Schuhmacher. Ich — ich habe es hier gelernt. Ich habe es mir selbst gelehrt. Ich frug um Erlaubniß —“

Er bekam wieder seinen Anfall von Zerstreuung, der mehrere Minuten dauerte und während dessen er ganz wie vorhin mit den Händen spielte. Endlich wendeten sich seine Augen wieder langsam dem Gesichte zu, von dem sie abgeschweift waren; als sie wieder darauf ruhten, zuckte er zusammen und fing die abgebrochene Rede wieder an, ungefähr wie ein eben Aufwachender auf einen Gegenstand von voriger Nacht zurückkommt.

„Ich fragte um Erlaubniß, es mir lehren zu dürfen und ich erhielt sie nach langer Zeit und nach vielen Schwierigkeiten und ich habe seitdem fortwährend Schuhe gemacht.“

Wie er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, den man ihm abgenommen hatte, sagte Mr. Lorry zu ihm, während er ihn immer noch fest ansah:

„Monsieur Manette, können Sie sich meiner nicht entsinnen?“

Der Schuh fiel dem Gefragten aus der Hand und dieser sah dem Fragenden starr in’s Gesicht.

„Monsieur Manette;“ Mr. Lorry legte seine Hand auf Defarge’s Arm; „können Sie sich nicht auf diesen Mann besinnen? Sehen Sie ihn an. Sehen Sie mich an. Dämmert keine Erinnerung an einen alten Banquier, ein altes Geschäft, an einen alten Diener, an eine alte Zeit in Ihrem Geiste auf, Monsieur Manette?“

Wie der viele Jahre Gefangengehaltene abwechselnd mit starrem Blick Mr. Lorry und Defarge ansah, drängten sich allmälig einige lange verlöschte Zeichen eines lebhaft denkenden Verstandes auf der Mitte der Stirn durch den schwarzen Nebel, der sich auf ihn gesenkt hatte. Sie waren wiederum überwölkt, sie waren schwächer, sie verschwanden; aber sie waren dagewesen. Und genau so wiederholte sich der Ausdruck auf dem schönen jugendlichen Gesicht der Tochter, die an der Wand sich nach einer Stelle hingeschlichen, wo sie ihn erblicken konnte und von wo sie ihn jetzt ansah, anfangs die Hände nur in entsetztem Mitleid erhoben, wenn nicht gar, um ihn entfernt zu halten und sich vor dem Anblick zu bewahren; aber jetzt, nach ihm ausgestreckt und vor heißer Inbrunst zitternd, das gespensterhafte Gesicht an ihre warme junge Brust zu legen und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung wiederzugewinnen — so genau wiederholte sich der Ausdruck (obgleich in deutlicherem Gepräge) auf ihrem schönen jugendlichen Gesicht, daß es aussah, als ob er wie ein sich bewegendes Licht sich von ihm auf sie verpflanzt hätte.

Dafür umfing ihn wieder Finsterniß. Er sah die Beiden immer weniger aufmerksam an und seine Augen suchten in düsterer Zerstreuung den Fußboden und blickten in der alten Weise um sich. Endlich nahm er mit einem tiefen, langen Seufzer wieder seinen Schuh her und ging von Neuem an seine Arbeit.

„Haben Sie ihn wiedererkannt, Monsieur?“ fragte Defarge halblaut.

„Ja; für einen Augenblick. Anfangs hielt ich es für ganz hoffnungslos, aber ich habe ohne alle Frage auf einen einzigen Augenblick das Gesicht gesehen, das ich früher so gut kannte. Still! Wir wollen weiter zurücktreten. Still.“

Sie war von der Wand der Dachkammer ganz nahe an die Bank herangetreten, auf der er saß. Es lag etwas Grauenhaftes in seinem Nichtswissen von der Gestalt, die ihre Hand hätte ausstrecken und ihn berühren können, wie er sich über die Arbeit bückte.

Kein Wort ward gesprochen, kein Geräusch gemacht. Sie stand wie ein Geist neben ihm, und er bückte sich über seine Arbeit.

Endlich traf es sich zufällig, daß er das Werkzeug, das er in der Hand hatte, mit seinem Schusterkneif vertauschen mußte. Er lag auf der Seite der Bank, wo sie nicht stand. Er hatte ihn hergenommen und bückte sich eben wieder, um fortzuarbeiten, als sein Blick auf den Saum ihres Kleides fiel. Er blickte empor und sah ihr Antlitz. Die beiden Andern wollten vorspringen, aber sie winkte ihnen mit einer Bewegung ihrer Hand. Sie hatte keine Angst, daß er mit dem Messer nach ihr stoßen könnte, obgleich sie so Etwas befürchteten.

Er starrte sie mit furchterfülltem Blick an und nach einiger Zeit fingen seine Lippen an, einige Worte zu bilden, obgleich man keinen Laut hörte. Allmälig hörte man ihn im Brausen seines keuchenden und mühsamen Athmens sagen:

„Was ist das?“

Während die Thränen ihre Wangen herabströmten, drückte sie ihre beiden Hände an seine Lippen und warf ihm Küsse zu; dann legte sie dieselben auf ihrer Brust zusammen, als ob sie seinen alten, schwachen Kopf dorthin legte.

„Ihr seid nicht des Kerkermeisters Tochter?“

Sie machte eine verneinende Bewegung.

„Wer seid Ihr?“

Da sie dem Tone ihrer Stimme noch nicht genug zutraute, setzte sie sich auf die Bank neben ihn. Er wich zurück, aber sie legte die Hand auf seinen Arm. Ein seltsamer Schauer durchzuckte ihn, wie sie dies that und man sah, wie er ihn überlief; er legte das Messer sanft hin, wie er sie anstierend dasaß.

Ihr goldnes Haar, welches sie in langen Locken trug, hatte sie hastig zurückgestrichen und es fiel jetzt über ihre Achseln herab. Schüchtern und zögernd streckte er die Hand danach aus, nahm einige Locken davon und musterte sie forschend. Noch während er dies that, verfiel er wieder in seine Zerstreuung und begann mit einem neuen tiefen Seufzer wieder, an seinem Schuh zu arbeiten.

Aber nicht lange. Sie ließ seinen Arm los und legte die Hand auf seine Schulter. Nachdem er zwei- oder dreimal zweifelnd danach geblickt, als ob er sich vergewissern wollte, daß er wirklich dort sei, legte er seine Arbeit weg, griff nach seinem Halse und nahm eine von Alter geschwärzte Schnur mit einem zusammengefalteten Lappen davon ab. Er machte das Packetchen sorgfältig auf seinem Knie auf und brachte den Inhalt heraus; nur eine oder zwei lange goldene Haare, die er vor langer, langer Zeit auf seinem Finger aufgewunden hatte.

Er nahm ihr Haar wieder in die Hand und betrachtete es aufmerksam. „Es ist dasselbe. Wie ist dies möglich? Wo war das? Wie war das!“

Wie der sich zusammenfassende Ausdruck auf seine Stirn zurückkehrte, schien er sich bewußt zu werden, daß er auch auf ihrem Antlitz lag. Er drehte sie voll nach dem Lichte und schaute sie an.

„An jenem Abend, wo man mich hinausrief, hatte sie ihren Kopf auf meine Schulter gelegt, — sie war besorgt über mein Ausgehen, ich jedoch nicht, — und als man mich nach dem Nordthurm brachte, fanden sie diese auf meinem Aermel. „Die werdet Ihr mir doch lassen? Sie können nie die Flucht meines Leibes unterstützen, wohl aber die meines Geistes.“ Das waren die Worte, die ich sprach. Ich erinnere mich ihrer noch recht gut.“

Er bildete die Worte dieser Rede viele Male mit den Lippen, ehe er sie aussprechen konnte. Als er aber laute Worte dafür fand, kamen sie zusammenhängend, obgleich langsam.

„Wie war das? Wart Ihr’s?“

Abermals wollten die beiden Zuschauer vorspringen, wie er sich mit erschreckender Plötzlichkeit gegen sie wendete. Aber sie blieb ganz ruhig sitzen, während er sie fest packte, und sagte nur mit gedämpfter Stimme:

„Ich bitt’Euch, gute Herren, kommt uns nicht zu nahe, sprecht nicht, bewegt Euch nicht.“

„Hört!“ rief er aus. „Wessen Stimme war das?“

Seine Hände ließen sie los, wie er diesen Schrei ausstieß und fuhren in sein weißes Haar, welches sie in wilder Wuth zerrissen. Der Schrei verklang wieder, wie Alles, außer seinem Schuhmachen, sich wieder verlor, und er faltete das kleine Packet wieder zusammen und versuchte es wieder um seinen Hals zu hängen; aber er sah sie immer noch an und schüttelte trübe den Kopf.

„Nein, nein, nein; Ihr seid zu jung, zu blühend. Es kann nicht sein. Seht, was der Gefangene geworden ist. Das sind nicht die Hände, die sie hatte, das ist nicht das Gesicht, das sie kannte, diese Stimme hat sie nie gehört. Nein, nein. Sie war — und er war vor den langsamen Jahren des Nordthurms — Jahrhunderte vorher. Wie heißt Ihr, holder Engel?“

Seinen sanfteren Ton und sein gemildertes Wesen als ein glückliches Zeichen begrüßend, sank die Tochter vor ihm auf die Knie und legte ihm die flehenden Hände auf die Brust.

„O Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr meinen Namen erfahren und wer meine Mutter war und wer mein Vater, und wie ich ihre traurige Geschichte nie gekannt habe. Aber ich kann es Euch jetzt nicht sagen und nicht hier. Alles, was ich hier und jetzt sagen darf, ist, daß ich Euch bitte, Eure Hände auf mein Haupt zu legen und mich zu segnen. Küsset mich, küsset mich! O mein Geliebtester!“

Der Schuhmacher.

Ueber sein winterlich weißes Haupt fielen ihre goldenen Locken, die es erwärmten und erleuchteten, als glänze das Licht der Freiheit auf ihn nieder.

„Wenn Ihr in meiner Stimme — ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich hoffe, es ist so — wenn Ihr in meiner Stimme eine Erinnerung an eine Stimme hört, die Euch einst wie liebliche Musik in’s Ohr klang, so weinet darüber! Wenn Ihr beim Befühlen meines Haares Etwas fühlt, was Euch an ein geliebtes Haupt erinnert, das an Eurer Brust lag, als Ihr jung und frei war’t, so weinet darüber! Wenn ich durch das Hindeuten auf ein Heimwesen, das unser harrt, ein Heimwesen, wo ich Euer mit aller meiner Pflicht und all meinem treuen Dienst gewärtig sein will, die Erinnerung an ein Heimwesen zurückbringe, das verödet blieb, während Euer armes Herz verschmachtete, so weinet darüber!“

Sie hielt ihn fester umschlungen und wiegte ihn an ihrer Brust wie ein Kind.

„Wenn ich Dir, Geliebtester, sage, daß Deine Qual vorbei ist, und daß ich hergekommen bin, um Dich von hier zu erlösen und daß wir nach England gehen, um in Frieden und Ruhe zu leben, und wenn ich dadurch in Dir den Gedanken hervorrufe, daß Dein nützliches Leben mit so frecher Hand brach gelegt worden ist und daß Dein heimathliches Frankreich so grausam an Dir gehandelt hat, so weine darüber! Und wenn ich Dir sage, wie ich heiße und Dir von meinem noch lebenden Vater und meiner verstorbenen Mutter erzähle und Du erfährst dabei, daß ich vor meinem geehrten Vater niederknien und ihn um Verzeihung flehen muß, weil ich nie um seinetwegen den ganzen Tag lang gerungen und die ganze Nacht gewacht und geweint habe, weil die Liebe meiner armen Mutter diese Qual vor mir verbarg, so weine darüber! Beweine sie und beweine mich! Dankt Gott, Ihr guten Herren! Ich fühle seine heiligen Thränen auf meinem Gesicht und sein Schluchzen trifft mich in’s Herz. O seht! Dankt Gott für uns, dankt Gott!“

Er war in ihre Arme gesunken und verbarg das Antlitz an ihrer Brust: ein so rührender Anblick und doch so schrecklich in dem ungeheuren Unrecht und Leiden, das vor ihm her gegangen war, daß die beiden Zuschauer sich das Gesicht verhüllten.

Als die Stille der Dachkammer lange ungestört geblieben war und die stürmisch bewegte Brust und erschütterte Gestalt endlich die Ruhe gewonnen hatte, die allen Unwettern folgen muß — für die Menschheit ein Sinnbild der Ruhe und des Schweigens, in welche der Sturm, genannt Leben, sich schließlich verlieren muß — traten sie heran, um den Vater und die Tochter vom Boden aufzuheben. Er war allmälig auf die Ziegelflur gesunken und lag da in müder Halberstarrung. Sie hatte sich neben ihn gesetzt, so daß sein Haupt auf ihrem Arm liegen konnte und ihre langen Locken ihn wie ein Vorhang vor dem Lichte schützten.

„Wenn wir es,“ sagte sie und reichte ihre Hand Mr. Lorry, wie er sich über sie beugte, nachdem er sich mehrere Male geräuschvoll die Nase geputzt hatte, „ohne ihn zu stören, einrichten könnten, Paris sogleich zu verlassen, so daß er gleich vor der Hausthüre von hier wegführe —“

„Aber, bedenken Sie. Wird die Reise gut für ihn sein?“ fragte Mr. Lorry.

„Gewiß besser, glaube ich, als hier in dieser Stadt zu bleiben, die so schrecklich für ihn ist.“

„Es ist wahr,“ sagte Defarge, der neben dem Alten kniete und zuhörte. „Mehr als das, es ist aus allen Gründen das Beste für Monsieur Manette, wenn er nicht mehr in Frankreich ist. Soll ich einen Wagen und Postpferde miethen?“

„Das ist Geschäft,“ sagte Mr. Lorry und nahm auf der Stelle seine methodischen Manieren wieder an; „und wenn Geschäfte zu verrichten sind, so ist es am besten, ich nehme sie in die Hand.“

„Dann haben Sie die Güte, uns hier zu verlassen,“ drang Miß Manette in ihn. „Sie sehen, wie ruhig er geworden ist und Sie brauchen Nichts zu besorgen, wenn Sie mich mit ihm allein lassen. Warum auch? Wenn Sie die Thür zuschließen wollen, damit wir nicht gestört werden, bezweifle ich nicht, daß Sie ihn bei Ihrer Rückkehr so ruhig finden, wie Sie ihn verlassen haben. Jedenfalls will ich ihn unter meine Obhut nehmen, bis Sie wiederkommen und dann wollen wir ihn sogleich fortschaffen.“

Sowohl Mr. Lorry wie Defarge waren nicht recht geneigt, auf diesen Vorschlag einzugehen und hätten es lieber gesehen, wenn einer von ihnen zurückgeblieben wäre. Aber da nicht nur Pferde und Wagen, sondern auch Reisepapiere zu besorgen waren, und da die Zeit drängte, denn der Tag neigte sich seinem Ende zu, so einigte man sich schließlich dahin, die zu besorgenden Geschäfte zu theilen und fortzueilen, um sie zu verrichten.

Dann, wie der Abend anbrach, legte die Tochter ihr Haupt auf den harten Fußboden dicht neben ihren Vater und bewachte ihn. Die Finsterniß wurde dichter und dichter, und sie lagen Beide still da, bis ein Licht durch die Risse in der Mauer glänzte.

Mr. Lorry und Monsieur Defarge hatten Alles zur Reise fertig gemacht und außer Reisemänteln und Umhüllungen Brod und Fleisch, Wein und heißen Kaffee besorgt. Monsieur Defarge setzte Speisen und Getränke und die Lampe, die er mitgebracht, auf die Schuhmacherbank (es war sonst Nichts in der Dachkammer, als eine Bettmatratze), und er und Mr. Lorry weckten den Gefangenen und halfen ihm auf die Beine.

Kein menschlicher Verstand hätte in dem scheuen, leeren Staunen seines Gesichts die Geheimnisse seiner Seele lesen können. Ob er wußte, was geschehen war, ob er sich besann, was sie zu ihm gesagt hatten, ob er wußte, daß er frei war, das waren Fragen, die kein Scharfsinn hätte lösen können. Sie versuchten, ihn anzureden, aber er war so verlegen und so außerordentlich langsam im Antworten, daß sie über seine Verwirrung besorgt wurden und übereinkamen, vor der Hand keine weiteren Versuche mit ihm zu machen. Er hatte eine heftige scheue Art, den Kopf in die Hände zu nehmen, die man früher nicht an ihm bemerkt hatte. Aber der bloße Klang der Stimme seiner Tochter machte ihm einige Freude und so oft sie sprach, wendete er sich nach ihr hin.

In der unterwürfigen Weise eines Menschen, der seit Langem gewohnt ist, dem Zwange zu gehorchen, aß und trank er, was sie ihm zu essen und zu trinken gaben und legte den Mantel und die andern Umhüllungen an, die sie ihm hinreichten. Er ließ sich es gern gefallen, daß seine Tochter ihren Arm durch den seinigen zog und nahm und behielt ihre Hand in seinen beiden Händen.

Sie fingen an hinabzusteigen; Monsieur Defarge voran mit der Lampe, Mr. Lorry zum Schluß der kleinen Procession. Sie waren noch nicht viele Stufen die lange Haupttreppe hinuntergekommen, als er stehen blieb und das Dach und ringsum die Wände anstarrte.

„Du erinnerst dich des Ortes, Vater? Du erinnerst Dich, hierhergekommen zu sein?“

„Was sagtest Du?“

Aber ehe sie die Frage wiederholen konnte, murmelte er eine Antwort, als ob er sie wiederholt hätte.

„Mich erinnern? Nein, ich erinnere mich nicht daran. Es ist so lange Zeit her.“

Daß er nicht das Mindeste davon wußte, aus seinem Gefängniß nach diesem Hause gebracht worden zu sein, war offenbar. Sie hörten ihn vor sich hinmurmeln: Einhundert und Fünf, Nordthurm; und wenn er sich umsah, suchte er sichtlich die starken Festungsmauern, die ihn so lange eingeschlossen hatten. Als sie den Hof erreichten, veränderte er instinktmäßig seinen Schritt, als erwartete er, auf eine Zugbrücke zu treten; und als keine Zugbrücke kam und er den Wagen auf offener Straße warten sah, ließ er die Hand seiner Tochter fallen und griff wieder nach dem Kopfe.

Es stand kein Gedränge um die Thür; man bemerkte Niemand an den vielen Fenstern; nicht einmal ein zufällig Vorübergehender befand sich auf der Straße. Eine unnatürliche Stille und Verlassenheit herrschten daselbst. Nur Eine Seele war zu sehen und das war Madame Defarge, die gegen das Thürgewände lehnte, strickte und Nichts sah.

Der Gefangene war in den Wagen gestiegen und seine Tochter war ihm gefolgt, als Mr. Lorry’s Fuß auf dem Wagentritt von der mit kläglicher Stimme vorgebrachten Bitte aufgehalten ward, ihm das Schuhmacherhandwerkszeug und die halbfertigen Schuhe mitzugeben. Madame Defarge rief sogleich ihrem Mann zu, daß sie sie holen wolle und ging strickend aus dem Laternenschein durch den Hof. Sie brachte sie sehr bald herüber und reichte sie hinein; — und unmittelbar darauf lehnte sie wieder am Thürgewände, strickte und sah Nichts.

Defarge stieg auf den Bock und sagte dem Postillon: „Nach der Barrière!“ Der Postillon klatschte mit der Peitsche und sie rasselten unter den trübe brennenden, über ihnen sich schaukelnden Laternen hin.

Unter den über ihnen sich schaukelnden Laternen — die immer heller in den bessern Straßen und immer trüber in den schlechtern Straßen sich schaukelten — und vorbei an hellerleuchteten Läden und Kaffeehäusern, fröhlichem Menschengewühl und Theaterthüren nach einem der Thore der großen Stadt. Soldaten mit Laternen standen dort an der Wache. „Ihre Papiere!“ „Hier sind sie, Herr Offizier!“ sagte Defarge, indem er abstieg und ihn ernst bei Seite nahm. „Das sind die Papiere des Herrn, dem mit dem weißen Kopf. Sie sind mir mit ihm übergeben worden im —“ er ließ seine Stimme sinken — die militärischen Laternen bewegten sich aufgeregt, eine von ihnen streckte sich mit einem Arm in Uniform in den Wagen hinein und die zu dem Arm gehörenden Augen sahen sich nicht mit einem alltäglichen oder allnächtlichen Blick Monsieur mit dem weißen Kopf an. „Es ist gut. Kann passiren!“ von der Uniform. „Adieu!“ von Defarge. Und so unter einer bald zurückgelegten Allee von schwächer und schwächer brennenden, sich oben schaukelnden Laternen hinaus unter den großen Sternenhain.

Unter diesem Gewölbe unbeweglicher und ewiger Sonnen, einige so entfernt von dieser kleinen Erde, daß die Gelehrten uns erzählen, es sei zweifelhaft, ob ihre Strahlen sie bis jetzt als einen Punkt im Weltenraume, wo Etwas gethan oder gelitten wird, entdeckt hätten, waren die Schatten der Nacht breit und schwarz. Durch den ganzen, kalten, ruhelosen Zwischenraum bis zum Tagen flüsterten sie abermals Mr. Jarvis Lorry — der dem begrabenen und wiederausgegrabenen Manne gegenüber saß und darüber grübelte, was für geistige Kräfte ihm für immer verloren gegangen und welche der Wiederherstellung fähig sein möchten — die alte Frage zu:

„Ich hoffe, Sie treten gerne wieder in’s Leben ein?“

Und die alte Antwort:

„Das weiß ich nicht.“

Zwei Städte

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