Читать книгу Weihnachtsmärchen - Charles Dickens - Страница 6
Zweite Strophe
ОглавлениеDer erste Geist
Als Scrooge wieder erwachte, war es so finster, daß er das
Fenster kaum von den Wänden seines Zimmers unterscheiden
konnte. Er bemühte sich, die Finsternis mit seinen Katzenaugen
zu durchdringen, als die Glocke eines Turmes in der
Nachbarschaft mit vier Viertelschlägen die volle Stunde
ankündigte. Er lauschte, um die Stundenschläge zu hören.
Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu
sieben, von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg
sie.
Zwölf! Es war zwei vorübergewesen, als er sich zu Bett gelegt
hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen.
Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf!
Er drückte an die Feder seiner Repetieruhr, um die verrückte
Glocke zu kontrol ieren. Ihr kleiner lebhafter Puls schlug zwölf
und schwieg.
»Was! Das ist doch nicht möglich«, sagte Scrooge. »Ich sol den
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
haben? Es kann doch nicht sein, daß der Sonne etwas passiert
und es mittags um zwölf ist?«
Mit diesen unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem
Bett und tappte nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst
wegkratzen und das Fenster mit dem Ärmel seines Schlafrockes
abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch nachher konnte
er nur sehr wenig sehen. Alles, was er bemerkte, war, daß es
noch sehr neblig und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm
hin und her eilender Leute hörte, was doch gewiß vernehmbar
gewesen wäre, wenn Nacht plötzlich den hellen Tag vertrieben
und von der Welt Besitz genommen hätte.
Das war ein großer Trost, weil Bedingungen wie »Drei Tage
nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer
Scrooge oder dessen Order«
und so weiter bloße Vereinigte-Staaten-Sicherheiten wären,
wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.
Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber nach,
konnte aber zu keinem Schluß kommen. Je mehr er nachdachte,
desto verwirrter wurde er, und je mehr er sich bemühte nicht
nachzudenken, desto mehr dachte er nach.
Marleys Geist machte ihm viel zu schaffen. Immer, wenn er nach
reiflicher Überlegung zu dem festen Entschluß gekommen war,
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück
und legte ihm erneut dieselbe Frage vor, die er schon zehnmal
überlegt hatte: »War es ein Traum oder nicht?«
Scrooge blieb in diesem Zustand liegen, bis es wieder drei
Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm
eine Erscheinung mit dem Schlag eins versprochen hatte. So
beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei, und
wenn man bedenkt, daß er ebensowenig schlafen, als in den
Himmel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß,
den er fassen konnte.
21
Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als einmal
vorkam, er müsse unversehens in Schlaf gefal en sein und die
Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die
Glocke.
»Bim, bam!«
»Ein Viertel«, sagte Scrooge zählend.
»Bim, bam!«
»Halb«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!«
»Bim, bam!«
»Drei Viertel«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!« »Voll!« rief Scrooge freudig. »Und weiter nichts!«
Er sprach das, ehe die Stundenglocke schlug, was sie jetzt mit
einem tiefen, hohlen, melancholischen Klang tat. In demselben
Augenblick wurde es hel im Zimmer, und die Vorhänge seines
Bettes wurden geöffnet.
Ich sage euch, die Vorhänge seines Bettes wurden von einer
Hand weggezogen, und sich aufrichtend blickte Scrooge dem
unirdischen Gast, der sie geöffnet hatte, in das Gesicht. So dicht
stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geist neben euch stehe.
Es war eine sonderbare Gestalt, gleich einem Kind, aber doch
eigentlich nicht gleich einem Kind, sondern mehr wie ein Greis,
der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem
Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein
Kind. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern
herabwal te, war weiß, wie vom Alter, und dennoch hatte das
Gesicht keine einzige Runzel, und um das Kinn bemerkte man
den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös, die
Hände ebenso, als läge in ihnen eine ungeheure Kraft. Seine
Füße, zart und fein geformt, waren entblößt, gleich den Armen.
Der Geist trug einen Talar vom reinsten Weiß; um seinen Leib
schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Glanz. Er hielt einen
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit
Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß von
seinem Scheitel ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, der al es
ringsum erleuchtete, und der gewiß die Ursache war, daß der
Geist bei weniger guter Laune einen großen Löschhut, den er
jetzt unter dein Arm trug, als Mütze aufsetzte.
Aber selbst dies war nicht seine seltsamste Eigenschaft. Denn
wie der Gürtel des Geistes bald an dieser Stelle glänzte und
funkelte und bald an jener, und wie das, was im Augenblick hell
gewesen war, plötzlich dunkel wurde, so verwandelte sich auch
die Gestalt selbst, man wußte nicht wie: bald war es ein Ding mit
einem Arm, bald mit einem Bein, bald mit zwanzig Beinen, bald
sah man nur zwei Füße ohne Kopf, bald einen Kopf ohne Leib;
und wie einer dieser Teile verschwand, blieb keine Spur von ihm
in dem dichten Dunkel zurück, das ihn verschlang. Und das
größte Wunder dabei war: die Gestalt blieb immer dieselbe.
»Sind Sie der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt
wurde?« fragte Scrooge.
22
»Ich bin es.«
Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme
sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung.
»Wer und was sind Sie?« fragte Scrooge, schon etwas mehr
Mut fassend.
»Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.«
»Einer lange vergangenen?« fragte Scrooge, seiner zwerghaften
Gestalt gedenkend.
»Nein, einer deiner vergangenen.«
Vielleicht hätte Scrooge, wenn ihn jemand befragt hätte, nicht
sagen können, warum, aber doch fühlte er ein ganz besonderes
Verlangen, den Geist unter seinem Hut zu sehen; und er bat ihn,
sich zu bedecken.
»Was?« rief der Geist. »Willst du so bald mit irdisch gesinnter
Hand das Licht, das ich spende, verlöschen? Ist es nicht genug,
daß du einer von denen bist, deren Leidenschaften diese Mütze
geschaffen haben und mich zwingen, durch lange, lange Jahre
meine Stirn damit zu verhüllen?«
Scrooge entschuldigte sich ehrfurchtsvoll, er habe nicht die
Absicht gehabt, ihn zu beleidigen, und behauptete, nicht zu
wissen, daß er irgend einmal in seinem Leben dem Geist Ursache
gegeben habe, sich zu bedecken. Dann war er so frei, zu fragen,
was ihn hierher führe?
»Dein Wohl«, sagte der Geist.
»Dein Wohl«, sagte der Geist.
Scrooge drückte ihm seine Dankbarkeit aus, konnte sich aber
doch nicht des Gedankens erwehren, daß ihm eine Nacht
ungestörten Schlafes mehr genützt hätte. Der Geist mußte ihn
haben denken hören, denn er sagte sogleich:
»Deine Besserung. Nimm dich in acht!«
Er streckte seine starke Hand aus, als er dies sprach, und ergriff
sanft seinen Arm.
»Steh auf und folge mir.«
Vergebens würde Scrooge eingewendet haben, Wetter und
Stunde seien schlecht geeignet zum Spazierengehen, das Bett sei
warm und das Thermometer ein gutes Stück unter dem
Gefrierpunkt, er sei nur leicht in Pantoffeln, Schlafrock und
Nachtmütze gekleidet und habe gerade jetzt den Schnupfen.
Dem Griff, war er auch sanft wie der einer Frauenhand, war
nicht zu widerstehen. Er stand auf; aber als er sah, daß der Geist
nach dem Fenster schwebte, faßte er ihn flehend bei dem
Gewand.
»Ich bin ein Sterblicher«, sagte Scrooge, »und könnte fal en.«
»Laß meine Hand dich hier berühren«, sagte der Geist, indem er
die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren
die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren
überwinden, als diese hier.«
Als er diese Worte gesprochen hatte, drangen die beiden durch
die Wand und standen plötzlich im Freien auf der Landstraße,
rings von Feldern umgeben. Die Stadt war ganz verschwunden.
Keine Spur war mehr davon. Die Dunkelheit und der Nebel
waren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter
Wintertag und der Boden mit weißem reinem Schnee bedeckt.
»Gütiger Himmel!« rief Scrooge, die Hände faltend, als er um
sich blickte.
»Hier wurde ich geboren. Hier lebte ich als Knabe.«
23
Der Geist schaute ihn mit milden Blicken an. Seine sanfte
Berührung, obgleich sie nur leise und flüchtig gewesen war, bebte
immer noch nach in dem Herzen des alten Mannes. Er fühlte, wie
tausend Düfte die Luft durchwehten, jeder mit tausend
Gedanken und Hoffnungen und Freuden und Sorgen verbunden,
die lange, lange vergessen waren.
»Deine Lippen zittern«, sagte der Geist. »Und was glänzt auf
deiner Wange?«
Scrooge murmelte mit einem ungewöhnlichen Mollton in der
Stimme, es sei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihn zu führen,
Stimme, es sei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihn zu führen,
wohin er wol e.
»Erinnerst du dich des Weges?« fragte der Geist.
»Ob ich mich seiner erinnere?« rief Scrooge mit Innigkeit.
»Blindlings könnte ich ihn gehen!«
»Seltsam, daß du ihn so viele Jahre hindurch vergessen hast«,
sagte der Geist.
»Komm!«
Sie schritten den Weg entlang. Scrooge erkannte jedes Tor,
jeden Pfahl, jeden Baum wieder, bis ein kleiner Marktflecken in
der Ferne mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem hellen Fluß
erschien. jetzt kamen einige Knaben, auf zottigen Ponies reitend,
auf sie zu, die anderen Knaben in ländlichen Wagen laut zuriefen.
Al e waren gar fröhlich und laut, bis die weiten Felder so voll
heiterer Musik waren, daß die kalte, sonnige Luft lachte, sie zu
hören.
»Dies sind nur Schatten der Dinge, die da gewesen sind,« meinte
der Geist,
»sie wissen nichts von uns.«
Die fröhlichen Reisenden kamen näher, und Scrooge erkannte
sie jetzt alle und konnte sie alle beim Namen nennen. Warum
freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein
freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein
kaltes Auge feucht, warum frohlockte sein Herz, als sie
vorübereilten, warum wurde sein Herz weich, wie sie an den
Kreuzwegen voneinander schieden und einander fröhliche
Weihnachten wünschten?
Was gingen denn Scrooge fröhliche Weihnachten an? Der
Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Welchen Nutzen hatte
er wohl jemals davon gehabt?
»Die Schule ist nicht ganz verlassen«, nahm der Geist wieder das
Wort. »Ein Kind, eine verlassene Waise, sitzt noch einsam dort.«
Scrooge sagte, er wisse es. Und er schluchzte.
Sie verließen nunmehr die Heerstraße auf einem wohlbekannten
Feldweg und erreichten bald ein Haus aus dunkelroten
Backsteinen mit einem kleinen Türmchen auf dem Dach und
einer Glocke drin. Es war ein großes Haus, aber jetzt
vernachlässigt und ziemlich verwahrlost, weil die geräumigen
Gemächer wenig gebraucht waren, die Wände feucht und grün,
die Fenster zerbrochen, die Türen morsch und halb zerfallen.
Hühner gluckten und scharrten in den Ställen, und der
Wagenschuppen war mit Gras überwachsen. Auch im Innern
war nichts übriggeblieben von seiner alten Pracht, denn als sie in
den verödeten Hausflur eintraten und durch die offenen Türen in
die vielen Zimmer blickten, sahen sie nur ärmlich ausgestattete,
kalte, große Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft,
kalte, große Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft,
eine frostige Unbehaglichkeit von allzu häufigem Aufstehen bei
Kerzenlicht und nicht al zu reichlichem Essen.
24
Der Geist ging mit Scrooge über den Hausflur nach einer Tür auf
der Rückseite des Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen und zeigte
ihnen einen langen, kahlen, unbehaglichen Saal, den Reihen von
einfachen hölzernen Bänken noch kahler und unbehaglicher
machten.
Auf einer davon saß einsam ein Knabe neben einem schwachen
Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und
weinte, als er sein eigenes, vergessenes Selbst sah, wie es in
früheren Jahren war.
Kein dumpfer Widerhall in dem Haus, kein Rascheln der Mäuse
hinter dem Getäfel, kein Getröpfel des halbgefrorenen
Brunnentrogs hinten im Hof, kein Seufzer in den blattlosen
Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Knarren
der vom Wind hin und her bewegten Tür des Vorratshauses im
Hof, selbst nicht das Knistern des Feuers war für Scrooge
verloren. Alles fiel auf sein Herz wie erweichende Töne und löste
seine Tränen.
Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in ein
Buch vertieftes Abbild. Plötzlich stand draußen vor dem Fenster
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führend.
»Was! Das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es
ist der alte, liebe, ehrliche Ali Baba. Ja, ja, ich weiß es noch.
Einst zur Weihnachtszeit geschah es, daß dieser verlassene
Knabe ganz allein hier saß, und er zum ersten Male wirklich
kam, gerade wie er dort steht. Der arme Junge! Und Valentin«,
fuhr Scrooge fort, »und auch sein wilder Bruder Orson, dort
gehen sie! Und wie heißt doch der, der mitten im Schlaf vor das
Tor von Damaskus gesetzt wurde?
Siehst du ihn nicht? Und der Stallmeister des Sultans, der von
den bösen Geistern auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er ja
auch! Ha, ha, es geschieht ihm schon recht! Wer hieß es ihn
auch, die Prinzessin heiraten wol en!«
Scrooge mit vollem Ernst über solche Gegenstände reden zu
hören und mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden
Stimme, dann auch sein vor Freude aufgeregtes Gesicht zu
sehen: das wäre für seine Geschäftsfreunde in der City gewiß
eine große Überraschung gewesen.
»Da ist ja auch der Papagei«, rief Scrooge, »der mit grünem Leib
und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Robinson, er rief ihn,
als er von seiner Inselumsegelung wieder nach Hause kam
›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume,
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
Bucht. Es gilt das Leben. Hallo, hob, hal o!«
Dann sagte er mit einem schnel en Wechsel der Gefühle, der
seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war: »Der arme
Knabe!«, und er weinte wieder. Dann wischte er sich mit dem
Ärmelaufschlag die Augen, steckte die Hand in die Tasche und
murmelte: »Ich wünschte - aber es ist jetzt zu spät.«
»Was willst du?« fragte der Geist.
»Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang ein Knabe
ein Weihnachtslied vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm
etwas gegeben, weiter war es nichts.«
25
Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann
sagte er: »Laß uns ein anderes Weihnachtsfest sehen.«
Scrooges früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und
das Zimmer etwas finsterer und schwärzer, das Getäfel warf
sich, die Fensterscheiben sprangen, Stücke des Kalkbewurfs
fielen von der Decke und das bloße Lattenwerk zeigte sich: aber
wie das alles geschah, wußte Scrooge ebensowenig wie ihr. Er
wußte nur, daß alles stimmte und sich ganz so zugetragen habe,
und daß er's nun wieder sei, der dort al ein sitze, während die
andern Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen
Weihnachtsfeier.
Weihnachtsfeier.
Er las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und
ab.
Scrooge blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen
Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür.
Da ging sie auf und ein kleines Mädchen, viel jünger als der
Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals, küßte
ihn und begrüßte ihn als ihren
»lieben, lieben Bruder«.
»Ich komme, um dich mit nach Hause zu nehmen, lieber
Bruder!« sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend.
»Dich mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, nach Hause!«
»Nach Hause, liebe Fanny?« fragte der Knabe.
»Ja!« antwortete die Kleine in überströmender Freude. »Nach
Hause und für immer! Der Vater ist so viel freundlicher als sonst,
daß es bei uns wie im Himmel ist. Eines Abends, als ich zu Bett
ging, sprach er so freundlich mit mir, daß ich mir ein Herz faßte
und ihn fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest -, und
er sagte ja, und schickte mich im Wagen her, um dich zu holen.
Und du sollst jetzt dein freier Herr sein«, sagte das Kind und
blickte ihn bewundernd an, »und nicht mehr hierher
zurückkehren; aber erst sol en wir alle zusammen das
Weihnachtsfest feiern und recht lustig sein.«
»Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!« rief der
Knabe aus.
Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte, bis an
seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder
und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie
ihn in kindlicher Ungeduld zur Tür, und er begleitete sie mit
leichtem Herzen.
Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief: »Bringt Master
Scrooges Koffer herunter!« Es war der Lehrer selbst, der
Master Scrooge mit brutal hochnäsiger Herablassung anstierte,
und ihn in großen Schrecken setzte, als er ihm die Hand drückte.
Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes,
fröstelnerregendes Empfangszimmer, an dessen Wänden
Landkarten und in dessen Fenster die Erd- und Himmelsgloben
vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig
leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen
herbei und regalierte die Kinder schonend sparsam mit diesen
auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig
aussehende Magd hinaus, um dem Postillion ein Gläschen
anzubieten, wofür dieser aber mit den Worten dankte, wenn es
von demselben Faß wie das vorige sei, möchte er lieber nicht
kosten. Während dieser Zeit war Master Scrooges Koffer auf
den Wagen 26
den Wagen 26
gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Rührung von
dem Schulmeister Abschied, setzten sich in den Wagen und
fuhren so schnel zum Garten hinaus, daß der Reif und der
Schnee wie Schaum von den immergrünen Gebüschen
hinwegstob.
»Sie war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte
verwelken können«, sagte der Geist. »Aber sie hatte ein großes
Herz.«
»Ja, das hatte sie«, rief Scrooge. »Ich will nicht widersprechen,
Geist. Gott verhüte es.«
»Sie starb als Frau«, sagte der Geist, »und hatte Kinder, glaube
ich.«
»Ein Kind«, antwortete Scrooge.
»Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe.«
Scrooge schien unruhig zu werden und antwortete kurz: »ja.«
Obgleich sie die Schule kaum einen Augenblick hinter s ich
gelassen hatten, befanden sie s ich doch plötzlich mitten in den
lebendigsten Straßen der Stadt, wo schattenhafte Fußgänger
vorübergingen, wo gespenstige Wagen und Kutschen um Platz
stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt
stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt
herrschte. Am Aufputz der Läden sah man, daß auch hier
Weihnachten war; aber es war Abend und die Straßenlaternen
brannten.
Der Geist blieb vor dem Eingang eines Lagerhauses stehen und
fragte Scrooge, ob er dies kenne.
»Ob ich es kenne?« sagte Scrooge. »Hab ich hier nicht gelernt?«
Sie traten ein. Beim Anblick eines alten Herrn in einer
Stutzperücke, der hinter einem so hohen Pult saß, daß er mit
dem Kopf hätte an die Decke stoßen müssen, wäre er zwei Zoll
größer gewesen, rief Scrooge in großer Aufregung:
»Ha, das ist ja der alte Fezziwig, Gott segne ihn, es ist Fezziwig,
wie er leibt und lebt!«
Der alte Fezziwig legte seine Feder hin und sah hinauf nach der
Uhr, deren Zeiger auf sieben stand. Er rieb die Hände, zog seine
geräumige Weste herunter, schüttelte sich vor heimlichem Lachen
von Kopf bis Fuß und rief mit einer behäbigen, voll und doch
mild tönenden heiteren Stimme: »Hallo, dort!
Ebenezer! Dick!«
Scrooges früheres Selbst, jetzt zu einem Jüngling geworden, trat
flink herein, begleitet von seinem Mitlehrling.
»Dick Wilkins, wahrhaftig!« sagte Scrooge zu dem Geist.
»Wahrhaftig, er ist es. Er war mir sehr zugetan, der Dick. Der
arme Dick! Du meine Güte!«
»Hallo, meine Burschen«, rief Fezziwig. »Feierabend heute.
Weihnachten, Dick! Weihnachten Ebenezer! Macht die Läden
zu, schnel ! Ehe einer Jack Robinson sagen kann.« So rief der
alte Fezziwig, munter die Hände zusammenschlagend.
Kaum zu glauben, wie rasch und munter die beiden Jungen
darangingen. Sie liefen mit den Läden hinaus -eins, zwei, drei -
hatten sie eingesetzt - vier, fünf, sechs - sie zugeriegelt und
zugeschraubt - sieben, acht, neun - und kamen zurück, ehe man
zwölf sagen konnte, außer Atem, wie Rennpferde.
27
»Hussahoh!« rief der alte Fezziwig, mit wunderbarer
Geschicklichkeit von seinem hohen Sessel herunterspringend.
»Aufräumen, Jungens, und macht viel Platz! Hussahoh, Dick!
Hallo, Ebenezer!«
Aufräumen! Es gab nichts, was sie nicht wegräumen wol ten
oder wegräumen konnten, wenn der alte Fezziwig zusah. Es war
in einer Minute geschehen.
Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde in die Winkel
geschoben, als sei es für immer aus dem öffentlichen Dienste
geschoben, als sei es für immer aus dem öffentlichen Dienste
entlassen; der Flur wurde gekehrt und gesprengt, die Lampen
geputzt, Kohlen auf das Feuer geschüttet, und der Laden war so
behaglich, so warm und hel wie ein Ballsaal und wie man es nur
an einem Winterabend verlangen konnte.
Jetzt trat ein Fiedler mit einem Notenbuch herein, er kletterte auf
Fezziwigs hohen Stuhl, machte ihn zum Orchester und begann zu
stimmen, als hätte er fünfzigfaches Bauchweh. Dann kam Mrs.
Fezziwig, ein einziges behagliches Lächeln. Dann kamen die drei
Miss Fezziwig, freudestrahlend und liebenswürdig. Dann kamen
die sechs Jünglinge, deren Herzen s ie brachen.
Dann kamen die Burschen und Mädchen, die im Haus einen
Dienst hatten: das Hausmädchen mit ihrem Vetter, dem Bäcker,
die Köchin mit ihres Bruders vertrautem Freund, dem
Milchmann. Dann kam der Bursche von gegenüber, von dem
man sagte, er habe bei seinem Herrn knappe Kost; er versuchte,
sich hinter dem Mädchen aus dem Nachbarhaus zu verstecken,
der man nachwies, sie sei von ihrer Herrschaft an den Ohren
gezogen worden. Sie kamen alle, einer nach dem andern; einige
schüchtern, andere keck, einige mit Geschick, andere mit
Ungeschick, die zerrend und jene stoßend. Dann ging es los,
zwanzig Paare auf einmal, eine halbe Runde hin und zurück, dann
die Mitte des Zimmers hinauf und wieder herab, dann in
zärtlichen Gruppen sich drehend: das alte erste Paar immer an
der falschen Stelle, das nächste erste Paar immer zur falschen
Zeit, bis alle Paare erste waren und kein einziges mehr das letzte.
Zeit, bis alle Paare erste waren und kein einziges mehr das letzte.
Als sie so weit gekommen waren, klatschte der alte Fezziwig
zum Zeichen, daß der Tanz aus sei, in die Hände und rief
»Bravo!«, und der Fiedler senkte sein glühendes Gesicht in einen
Krug Porter, der besonders zu diesem Zweck neben ihm stand.
Aber kaum war er wieder heraus, als er, obgleich noch keine
Tänzer dastanden, wieder aufzuspielen begann, als sei der alte
Fiedler erschöpft nach Hause getragen worden und er ein ganz
frischer, entschlossen, den alten vergessen zu machen oder zu
sterben.
Dann folgten noch mehrere Tänze und Pfänderspiele und wieder
Tänze. Dann kam Kuchen und Negus und ein großes Stück
kalter Braten, und dann ein großes Stück kaltes Siedfleisch und
Fleischpasteten und viel Bier. Aber der Glanzpunkt des Abends
kam nach dem Siedfleisch, als der Fiedler (ein heller Kopf, er
kannte sein Geschäft besser, als ihr oder ich es hätte lehren
können) den Großvatertanz »Sir Roger de Coverley«zu spielen
begann. Da trat der alte Fezziwig mit Mrs. Fezziwig an, und zwar
als das erste Paar. Sie hatten ein gutes Stück Arbeit vor sich,
drei- oder vierundzwanzig Partner, Leute, mit denen nicht zu
spaßen war, Leute, die tanzen wol ten und keine Lust hatten, zu
spazieren.
28
Aber selbst wenn es zweimal, ja viermal soviel gewesen wären,
hätte es der alte Fezziwig mit ihnen aufgenommen und auch Mrs.
Fezziwig. Sie war im vollen Sinn des Wortes würdig, seine
Tänzerin zu sein. Wenn das kein großes Lob ist, so sagt mir ein
größeres und ich will es aussprechen. Von Fezziwigs Waden
schien ein eigener Glanz auszugehen. Sie leuchteten in jedem Teil
des Tanzes wie ein Paar Monde. Ihr hättet zu keiner Minute
voraussagen können, was aus ihnen in der nächsten wird. Und
als der alte Fezziwig und Mrs.
Fezziwig alle Touren des Tanzes durchgemacht hatten, sprang
Fezziwig alle Touren des Tanzes durchgemacht hatten, sprang
Fezziwig so geschickt, als zwinkere er mit den Beinen, und kam,
ohne zu wanken, wieder auf die Füße.
Mit dem Glockenschlag elf war dieser häusliche Ball zu Ende.
Mr. und Mrs.
Fezziwig stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, schüttelten
jedem einzelnen der Gäste die Hand zum Abschied und
wünschten ihm oder ihr fröhliche Weihnachten.
Als alles, außer den zwei Lehrlingen, fort war, wünschten sie
diesen das gleiche. So waren die heiteren Stimmen verklungen,
und die Burschen gingen in ihr Bett, das sich unter einem
Ladentisch hinten im Lagerraum befand.
Während dieser ganzen Zeit hatte sich Scrooge wie ein
Verrückter benommen.
Sein Herz und seine Seele waren bei dem Ball und seinem
früheren Selbst. Er bestätigte alles, erinnerte sich an alles, freute
sich über alles und befand sich in der seltsamsten Aufregung.
Nicht eher als bis die fröhlichen Gesichter seines früheren Selbst
und das Antlitz Dicks verschwunden waren, dachte er daran,
daß der Geist neben ihm stand und ihn anschaute, während das
Licht auf seinem Haupt in voller Klarheit brannte.
»Eine Kleinigkeit war's doch«, meinte der Geist, »diesen
närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.«
närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.«
»Eine Kleinigkeit!« gab Scrooge zurück.
Der Geist bedeutete ihm, den beiden Lehrlingen zuzuhören, die s
ich gegenseitig mit Lobpreisungen Fezziwigs überboten; und als
Scrooge das getan hatte, sprach der Geist: »Nun, ist es nicht so?
Er hat nur ein paar Pfund irdischen Mammons hingegeben;
vielleicht drei oder vier. Ist das so der Rede wert, daß er solches
Lob verdient?«
29
»Das ist's nicht«, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt
und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend.
»Das ist's nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder
unglücklich, unsern Dienst zu einer Lust oder zu einer Bürde, zu
einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen,
seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden
und kleinen Dingen, daß es unmöglich ist, sie herzuzählen: was
schadet das? Das Glück, das er bereitet, ist so groß, als wenn es
sein ganzes Vermögen kostete.«
Er fühlte des Geistes Blick und schwieg.
»Was gibt's?« fragte der Geist.
»Nichts, nichts«, sagte Scrooge.
»Aber doch etwas, wie?« drängte der Geist.
»Nein«, sagte Scrooge, »nein. Ich möchte nur eben jetzt ein paar
Worte mit meinem Kommis sprechen. Das ist al es.«
Sein früheres Selbst löschte gerade die Lampen aus, als er
diesen Wunsch aussprach, und Scrooge und der Geist standen
wieder im Freien.
»Meine Zeit geht zu Ende«, sagte der Geist. »Schnel !«
Dieses letzte Wort war nicht zu Scrooge oder zu jemand, den er
sehen konnte, gesprochen, aber es wirkte sofort. Denn wieder
sah Scrooge sich selbst. Er war jetzt älter geworden -. ein Mann
in der Blüte seiner Jahre. Sein Ges icht hatte noch nicht die
schroffen, rauhen Züge seiner späteren Jahre, aber schon begann
es Anzeichen der Sorge und des Geizes anzunehmen. In seinem
Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges Feuer, das Zeugnis gab
von der Leidenschaft, die dort Wurzeln geschlagen hatte, und
zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fal en
würde.
Er war nicht allein, sondern saß neben einem schönen jungen
Mädchen in Trauerkleidern. In ihren Augen standen Tränen, die
in dem Licht glänzten, das von dem Geist vergangener
Weihnachten ausströmte.
»Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar
»Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar
keiner. Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es
Sie in späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es
versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen.«
»Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?« erwiderte er.
»Ein goldenes.«
»Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!« sagte er. »Gegen nichts ist
sie so hart als gegen die Armut; und nichts tadelt s ie
unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum.«
»Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr«, antwortete sie sanft.
»Al e Ihre andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor
diesem engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre
edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen,
bis Sie ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfül te.
Ist es nicht so?«
»Und wenn es so wäre?« antwortete er. »Wenn ich soviel klüger
geworden wäre, was dann? Gegen Sie bin ich nie anders
geworden.«
Sie schüttelte den Kopf.
30
»Bin ich anders?«
»Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und
zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern
zu können. Sie haben sich aber verändert! Damals, als er
geschlossen wurde, waren Sie ein anderer Mensch.«
»Ich war ein Knabe«, sagte er ungeduldig.
»Ihr eigenes Gefühl sagt Ihnen, daß Sie nicht so waren, wie Sie
jetzt s ind«, antwortete sie. »Ich bin noch dieselbe. Das, was uns
Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren,
muß uns Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr eins sind.
Wie oft ich und wie bitter dies gefühlt habe, will ich nicht sagen;
es ist genug, daß ich es gefühlt habe und daß ich Ihnen Ihr Wort
zurückgeben kann.«
»Habe ich dies jemals verlangt?«
»In Worten? Nein. Niemals.«
»Wie dann?«
»Durch ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn, durch
andere Bestrebungen im Leben und durch andere Hoffnungen -
in allem, was meiner Liebe in Ihren Augen Wert gab. Wenn alles
Frühere nicht zwischen uns geschehen wäre«, sagte das
Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend,
»würden Sie mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiß
nicht!«
nicht!«
Er schien die Wahrheit ihrer Worte wider seinen Wil en
zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte:
»Sie glauben nicht?«
»Gern glaubte ich es, wenn ich könnte«, sagte sie, »Gott weiß es.
Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie
unwiderstehlich sie sein muß. Aber sol ich glauben, daß Sie ein
armes Mädchen wählen würden, wenn Sie heute oder morgen
oder gestern frei wären, Sie, der selbst in den vertrautesten
Stunden al es nach dem Gewinn mißt? Oder sol ich mir
verhehlen, daß Sie gewiß einst sich getäuscht und bittere Reue
fühlen würden, weil Sie für einen Augenblick Ihrem einzigen
leitenden Grundsatz untreu werden? Nein, und deswegen gebe
ich Ihnen Ihr Wort zurück: wil ig und um der Liebe dessentwillen
der Sie einst waren.«
Er wol te sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht fuhr sie fort:
»Vielleicht - der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast
hoffen - wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und
Sie werden dann die Erinnerung daran fallenlassen, wie die
Gedanken an einen nichtigen Traum, aus dem zu erwachen ein
Glück für Sie war. Möge Sie alles Glück auf dem gewählten
Lebensweg begleiten!«
Sie schieden.
Sie schieden.
»Geist«, sagte Scrooge, »zeig mir nichts mehr, führ mich nach
Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?«
»Noch einen Schatten«, rief der Geist aus.
»Nein«, rief Scrooge. »Nein. Ich mag nichts mehr sehen. Zeig
mir nichts mehr.«
31
Aber der erbarmungslose Geist hielt ihn mit beiden Händen fest
und zwang ihn, zu betrachten, was als nächstes geschah.
Sie befanden sich an einem andern Ort, in einem Zimmer, nicht
sehr groß oder schön, aber voller Behaglichkeit. Neben dem
Kamin saß ein schönes junges Mädchen, das der, die Scrooge
soeben gesehen hatte, so ähnlich war, daß er glaubte, es sei
dieselbe, bis er diese, jetzt eine stattliche Matrone, der Tochter
gegenüber sitzen sah. In dem Zimmer war ein wahrer Aufruhr,
denn es befanden sich mehr Kinder darin, als Scrooge in seiner
Aufregung zählen konnte; und hier betrugen sich nicht vierzig
Kinder wie eins, sondern jedes Kind wie vierzig. Die Folge
davon war ein Lärm sondergleichen; aber niemand schien sich
darüber aufzuregen. im Gegenteil, Mutter und Tochter lachten
herzlich und freuten sich darüber, und die letztere, die sich bald in
die Spiele mischte, wurde von den kleinen Schelmen gar
grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines
grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines
dieser Kinder zu sein, obgleich ich nie so ungezogen gewesen
wäre! Nein, nein! Für al e Schätze der Welt hätte ich nicht diese
Locken zerdrückt und zerwühlt; und diesen lieben, kleinen Schuh
hätte ich nicht entwendet, selbst um mein Leben zu retten. Im
Scherz ihre Taille zu messen, wie die dreiste junge Brut tat, hätte
ich nicht gewagt aus Furcht, mein Arm würde zur Strafe krumm
und nie wieder gerade wachsen. Und doch, wie gern, ich gestehe
es, hätte ich ihre Lippen berührt; wie gern sie ausgefragt, damit
sie s ich geöffnet hätten; wie gern hätte ich die Wimpern dieser
niedergeschlagenen Augen betrachtet, ohne ein Erröten
hervorzurufen; wie gern dieses wogende Haar gelöst, von dem
eine einzige Locke ein unschätzbares Andenken gewesen wäre:
kurz, wie gern hätte ich das kleinste Vorrecht eines dieser
Kinder gehabt, mit der Bedingung, Manns genug zu bleiben, um
seinen Wert zu fühlen.
Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Tür laut, was einen so
allgemeinen Ansturm hervorrief, daß sie mit lachendem Gesicht
und zerknülltem Kleid in der Mitte eines lärmenden Haufens nach
der Tür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Hause
kam in Begleitung eines mit Weihnachtsgeschenken beladenen
Mannes. Aber nun das Geschrei und das Gedränge und der
Sturm auf den verteidigungslosen Träger! Wie sie an ihm auf
Stühlen hinaufstiegen, in seine Taschen guckten, die
Papierpäckchen raubten, an seiner Halsbinde zupften, an seinem
Halse hingen, ihm auf den Rücken trommelten oder an die Beine
stießen - alles in unwiderstehlicher Freude! Dann die Ausrufe der
stießen - alles in unwiderstehlicher Freude! Dann die Ausrufe der
Verwunderung und des Frohlockens, mit denen der Inhalt jedes
Päckchens begrüßt wurde! Die schreckliche Kunde, daß das
Kleinste ertappt worden sei, wie es die Puppenbratpfanne in den
Mund gesteckt und wohl gar das hölzerne Huhn samt der
Schüssel hinuntergeschluckt habe! Die große Beruhigung, als
man entdeckte, daß es falscher Alarm gewesen war! Die Freude
und die Dankbarkeit und das Entzücken! Dies alles übertrifft alle
Beschreibung. Es muß genügen, zu wissen, daß die Kinder und
ihre Freunde endlich aus dem Zimmer kamen und über eine
Treppe in den obersten Stock hinaufgingen, wo sie zu Bett
gebracht wurden und blieben.
32
Und als Scrooge jetzt sah, wie sich der Herr des Hauses, die
Tochter zärtlich an seine Seite geschmiegt, mit ihr und ihrer
Mutter an seinem eigenen Herd niedersetzte; und wie er dachte,
daß ihn ein solches Wesen ebenso lieblich und hoffnungsfroh
hätte Vater nennen und wie der Frühling im öden Winter seines
Lebens hätte sein können, da wurden seine Augen wirklich
trübe.
»Belle«, sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner Gattin wendend,
»ich sah heut nachmittag einen alten Freund von dir.«
»Wer war es?«
»Rate mal.«
»Wie kann ich das? Ach, jetzt weiß ich schon«, fügte sie sogleich
hinzu, lachend, und auch er lachte. »Mr. Scrooge.«
»Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Kontorfenster vorüber;
und da kein Laden davor war und Licht brannte, mußte ich ihn
sehen. Sein Kompagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er war
sehen. Sein Kompagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er war
allein. Ganz allein in der weiten Welt, glaube ich.«
»Geist«, rief Scrooge mit bebender Stimme, »führe mich weg
von diesem Ort.«
»Ich sagte dir, daß dies Schatten gewesener Dinge sind«, sagte
der Geist. »Gib nicht mir die Schuld, daß sie sind, wie sie sind.«
»Führe mich weg«, rief Scrooge aus. »Ich kann es nicht
ertragen.«
Er wandte sich dem Geist zu, und wie er sah, daß er ihn mit
einem Gesicht anblickte, in dem sich auf eine seltsame Weise all
die Gesichter zeigten, die er bisher gesehen hatte, rang er mit
ihm.
»Verlaß mich, führ mich weg. Verfolge mich nicht länger.«
In dem Kampf, wenn es ein Kampf genannt werden kann, wie
der Geist, ohne sichtbaren Widerstand seinerseits, von den
Angriffen seines Gegners unberührt blieb, bemerkte Scrooge,
daß das Licht auf seinem Haupt hoch und hel brannte, und in
einem dunklen instinktiven Gefühl jenes Licht sei mit des Geistes
Einfluß auf ihn verbunden, ergriff er den Löschhut und stülpte ihn
auf des Geistes Haupt.
Der Geist sank zusammen, so daß der Löschhut seine ganze
Gestalt bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit seiner ganzen
Kraft niederdrückte, konnte er das 33
Licht nicht ganz verbergen, das darunter hervor- und mit hellem
Schimmer über den Boden floß.
Er fühlte sich erschöpft und von einer unüberwindlichen
Schläfrigkeit befallen und wußte, daß er in seinem eigenen
Schlafzimmer war. Er gab dem Löschhut einen letzten Druck und
fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, bevor er in tiefen Schlaf
sank.
34