Читать книгу Ehre, wem Ehre gebührt - Charlie Meyer - Страница 4

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»Um Himmels willen, nun lassen Sie doch endlich die Discobeleuchtung abstellen. Die Neugierigen kommen schon von der Landstraße auf den Hof gefahren.« Gräfin Wilhelminas Stimme zitterte noch immer, aber der Cognac hatte den grauen, eingefallenen Wangen wieder einen rötlichen Schimmer verliehen. Helenes Versuch, ihn ihr wie Hustensaft auf einem Löffel einzuflößen, war allerdings an den tödlichen Blicken der Gräfin gescheitert. Die Warnlampen von drei Polizeiwagen und zwei Ambulanzen rotierten auf dem Gutshof durch die Dunkelheit des angebrochenen Abends. Ein paar Neugierige sammelten sich schon unter dem efeubewachsenen Torbogen und tuschelten aufgeregt miteinander. Vorbeikommende Autofahrer traten angesichts des vielversprechend dramatischen Anblickes abrupt das Bremspedal durch. Ein Motorradfahrer jagte heran und geriet in gefährliche Bedrängnis, als der Opel vor ihm zu stoppen versuchte. Ein Unfall schien vorprogrammiert.

Wenigstens hatte der Regen aufgehört.

Gräfin Wilhelmina stieß sich von der Fensterbank ab und sank seufzend in ihren Lehnsessel zurück. Bonnie hockte mit angezogenen Beinen auf dem Kanapee und zitterte in der Wärme des prasselnden Kaminfeuers. Ein schmächtiger Polizist stand an der Tür des Damensalons und ließ den alten Mann nicht aus den Augen, der, vornübergebeugt auf einen Stock gestützt, in einem der ächzenden Rokoko-Sesselchen saß und Gräfin Wilhelmina ruhig ins Gesicht blickte. Eine Handbewegung, beinahe wie nebenbei, und der Polizist schlüpfte auf den Korridor hinaus, und zehn Sekunden später erlosch im Hof die Illumination. Nur aus der offenen Stalltür fiel noch ein Lichtschein auf das Pflaster. Im Halbdunkel neben der Tür war Brutus an einem eisernen Ring angebunden und wurde von zwei Polizisten aus sicherer Entfernung misstrauisch bewacht. Etwas weiter, auf Höhe von Malermeister Strucks Lagerraum, ließen sich gerade noch die dunklen Umrisse einer schwarzen Limousine nebst ihres geduldig wartenden Chauffeurs erkennen. Er lehnte an der Fahrertür, und ab und an glomm die Glut seiner Zigarette auf.

Der schmächtige Polizist huschte ins Zimmer zurück und sah mit sich zufrieden aus.

»Ein tragischer Unfall, Mina.« Die Stimme des kahlköpfigen alten Herrn klang ruhig, auch wenn das betagte Alter sie ein wenig krächzen ließ. Er mochte schon an die neunzig sein, und die Auffälligkeit seiner Züge stand der der Gräfin in nichts nach. Eingefallene Wangen, aufgeworfene Lippen und eine kurze breite, ausgesprochen schiefe Nase, die darauf schließen ließ, dass er irgendwann in seiner stürmischen Jugend leichtfertig die Deckung gelüftet hatte, als eine Faust auf sein Gesicht zuschoss. Auf der Nasenwurzel hockte eine Schildpattbrille mit fingerdicken Gläsern, die seine Augen grotesk vergrößerten. Er trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Anzug, und der Knoten seiner Krawatte saß tadellos.

»Noch einmal, mein aufrichtiges Beileid.«

»Danke, Anton.«

»Doktor Helming glaubt, dein Großneffe habe schon nach dem ersten Huftritt das Bewusstsein verloren. Wenn es dir ein Trost ist, er musste nicht weiter leiden. Der Tod trat rasch ein. Quentin von Storkenburg ist friedlich gestorben.«

Friedlich, dachte Bonnie fassungslos und versuchte das Klappern ihrer Zähne einzustellen. Friedlich mit eingeschlagenem Kopf. Was für ein schöner Tod.

»Ich möchte ihn so schnell wie möglich begraben. Wann, Anton? Übermorgen? In drei Tagen?«

Bonnie schnappte nach Luft.

Der Alte wiegte bedächtig seinen kahlen Kopf und streifte den schmächtigen Polizisten auf der Türschwelle mit einem scharfen Blick. Die verschnörkelte Rosenholztür klappte leise zu, die Stelle auf der er eben noch gestanden hatte, verwaiste zum zweiten Mal an diesem Abend.

»Das ist heutzutage etwas komplizierter als zu unseren Zeiten, Mina. Natürlich war der Tod deines Großneffen nur ein unseliger, bedauernswerter Unfall. Allerdings steht der neue Pathologe im Spital zum Heiligen Jacobus in dem Ruf, ein sehr gewissenhafter, penibler Mensch zu sein. Wie du weißt, hat sich sein Vorgänger, der alte Kramer, nun endgültig berenten lassen. Er sagt, er will nie wieder erleben, dass sich eine Leiche auf einer seiner Rolltragen plötzlich aufsetzt und zu sprechen anfängt. Es war natürlich nur einer der Krankenhauspfleger, der in der Pathologie sein Nickerchen gehalten hat, aber der alte Kramer kann seitdem das Zittern seiner Hände nicht wieder abstellen. Und der Neue - wie gesagt ... Es ist ein unglücklicher Zeitpunkt, Mina.«

»Papperlapapp! Der Junge verdankt seinen Tod zwar seiner eigenen, dummen Trotteligkeit, aber ich werde trotzdem zu verhindern wissen, dass man ihn wie ein geschlachtetes Schwein aufschneidet und ausweidet. - Ach herrje! Anton, würden Sie meiner Großnichte bitte Cognac nachschenken? Vielen Dank, sehr aufmerksam. Kind, trink aus und geh zu Bett. Was getan werden muss, kannst du getrost mir überlassen.«

Bonnie hielt sich an dem bauchigen Glas fest und schluckte gegen das Würgen an. Schreckte die alte Schachtel denn vor nichts zurück?

»Nun, Bonita? Tu, was ich dir sage. Es geschieht zu deinem Besten.«

Bonnie schüttelte nur heftig den Kopf. Sprechen konnte sie nicht. Sobald sie den Mund öffnete, würde sie den beiden Alten, die da so unverschämt über ihren Kopf hinweg bestimmten, als sei sie ebenfalls gestorben, den Eintopf vom Mittagessen auf die Füße spucken. Aber selbst, wenn sie der nachdrücklichen, gräflichen Aufforderung hätte folgen wollen, gehörten zur Ausführung der Absicht noch immer zwei stand- und schrittfeste Beine. Ihre waren aus Wackelpudding und bis auf Weiteres unbrauchbar. Die Gräfin und der Besuch blickten sie unter zwei paar erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen an. Was?, dachte sie voll Hass. Soll ich euch dafür, dass mich endlich mal jemand beachtet in diesem Zimmer, um die dürren Hälse fallen? Dankbar dafür, dass ihr mich für eure obskuren Absprachen aus dem Weg haben und wie ein Kind zu Bett schicken wollt?

Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, von diesem Anton, der zur Gräfin Mina sagen durfte, ein paar kondolierende Worte gehört zu haben. Der Gräfin gegenüber schon, aber sie, die Witwe desjenigen, um den sie eben so unverfroren feilschten, hatte sich mit einem feuchten Händedruck und einem auf trübsinnig verdunkelten Blick begnügen müssen. Herausfordernd, auf der brüchigen Kante ihrer Fassung balancierend, streckte sie Kinn und Unterlippe vor. Mit mir nicht! Nicht so!

»Wie du willst.« Gräfin Wilhelmina wandte ihre kalten Augen von ihr ab, sah den alten Herrn wieder an und hob fragend die Augenbrauen.

»Es ist spät, Mina. Wir sollten uns morgen in Ruhe darüber unterhalten.« Er stützte sich mit beiden Händen auf dem silbernen Knauf seines Stockes ab und stemmte sich mühselig in die Höhe. »Zeit, dass ein alter Mann wie ich ins Bett kommt.« Er verzog die dicken Lippen zu einem resignierten Lächeln.

»Nein, Anton, nicht morgen. Jetzt! Ich werde keinen Pathologen in die Nähe des Jungen lassen, ob mit oder ohne deine Hilfe. Das Bestattungsinstitut Noblesse wird sich um ihn kümmern, und damit ein für alle Mal. Basta! Morgen früh wähle ich in der Stadt den Sarg aus, und in spätestens drei Tagen setzen wir Quentin in der Familiengruft bei. Seinem Titel und Stand entsprechend. Der Arzt soll mir den Totenschein ausstellen. Sofort! Und schick endlich die Sanitäter und Polizisten nach Hause, es gibt hier nichts mehr für sie zu tun.«

»Du überschätzt meinen Einfluss, liebe Freundin.«

»Nein. Ich kenne das Ausmaß deines Einflusses nur zu genau. Die Erfüllung meines Wunsches kostet dich nicht mehr als ein Fingerschnippen. Aber vielleicht reizt es dich auch, mir diesen Gefallen abzuschlagen. Nun?«

Der alte Herr ergriff die knochige Hand, die ihm entgegengehalten wurde, mit der eigenen knochigen Hand und führte sie an die dicken Lippen. Die Gräfin verzog kaum merklich das Gesicht über seinem Hinterkopf, während er mit seltsamer, fast schon höhnischer Miene ihre faltigen Finger anlächelte. »Ich nehme an, bei dem Wagen, der eben auf den Gutshof gefahren kommt, handelt es sich bereits um Abgesandte des fraglichen Bestattungsinstitutes? Meine Hochachtung, Mina. Du verschwendest keine Zeit und triffst rasche Entscheidungen. Eine Eigenschaft, die ich durchaus zu schätzen weiß. Ich vermisse diesen Charakterzug bei vielen meiner Geschäftspartner. Leider, leider. Aber dafür sind wir beide uns umso ähnlicher, meine liebe Mina. Wirst du dich für Rosenholz oder Mahagoni entscheiden?« Wieder lächelte er. Der Widerschein des Kaminfeuers färbte seine Glatze und den silbernen Schnurrbart rot. Altersflecken übersäten Gesicht und Hände.

Die Gräfin ignorierte seine letzte Frage. »Ja, ich war so frei, das Institut telefonisch zu verständigen. Unmittelbar, nachdem ich dich um Beistand gebeten hatte.« Sie blickte ihn gerade und stolz an. Von bettelnder Unterwürfigkeit keine Spur.

»Gute Nacht, Mina.« Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, während sich die Flammen des Kamins in seinen Brillengläsern spiegelten. Doch dann deutete er lediglich in Bonnies Richtung eine Verbeugung an, murmelte kaum verständlich Frau von Storkenburg, und humpelte über die unregelmäßige Teppichschicht zum Ausgang. Der zweimal des Zimmers verwiesene Polizist wartete jenseits der Türschwelle. Sein treuherziger Dackelblick ließ vermuten, dass man ihn auch die Treppe hätte hinunterwerfen dürfen, ohne, dass er beleidigt gewesen wäre.

»Ich kümmere mich um das Problem. Das Geschäftliche besprechen wir ein anderes Mal.«

Die Gräfin nickte stumm, senkte jedoch rasch ihre Augen, in denen es zornig aufblitzte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihre eiserne Beherrschung ins Wanken geraten zu sein.

Bonnie starrte sie verwirrt an. Ganz offensichtlich hasste Gräfin Wilhelmina diesen Mann, den sie unmittelbar nach Quentins Unfall eigenzüngig herzitiert hatte, aus vollstem Herzen. Was ging hier vor?

»Wer war das?«, stieß sie mühsam hervor. Noch immer wühlte die Übelkeit in ihren Gedärmen. Sie trank einen Schluck und hielt die Luft an. Der Cognac setzte ihre Kehle in Flammen, aber nach dem dritten Nachschenken hatte wenigstens das unkontrollierte Zittern aufgehört. Der Alkohol verwischte bereits ihre Gedanken.

»Ein ... Freund, der sich um alles kümmern wird. Zerbrich dir nicht den Kopf. Man wird uns nicht weiter belästigen, und Quentin bekommt eine standesgemäße Beisetzung. Geh zu Bett, du kannst nichts weiter tun.« Gräfin Wilhelminas stechender Blick musterte sie, und einen Moment lang glaubte Bonnie, Mitleid aus diesem Blick zu lesen. Aber warum waren ihr die Worte ein Freund so zögerlich über die Lippen gekommen?

»Hör auf mich wie ein unmündiges Kind zu behandeln. Ich will wissen, wer der Mann eben war, und ich will wissen, wieso ihr alles so einfach über meinen Kopf hinweg entscheidet.« Das Zittern setzte erneut ein, aber diesmal war es das Zittern hilfloser Wut. Sie umschlang ihre Beine und presste das Kinn auf die Knie. »Quentin ... er war mein Mann, ich meine ...« Ihre Stimme versagte, und sie schloss die Augen.

»Ich tue lediglich, was getan werden musste«, hörte sie die Gräfin scharf erwidern. »Quentin war nicht ausschließlich nur dein Ehemann. In erster Linie war er Quentin Baron von Storkenburg, der Gutsherr auf Gut Lieberthal, und ich werde - auch in seinem Namen - nicht zulassen, dass man ihn verstümmelt zur letzten Ruhe bettet. Ich gehe doch mal davon aus, du lehnst derart unsinnige Obduktionen ebenfalls ab? Neumodischer Nonsens, nichts weiter. Tröstet es etwa eine trauernde Tochter, zu wissen, dass die Leber ihres Vaters zwei Pfund wog? Sie will sie schließlich nicht kaufen und braten. Papperlapapp, all das! Also: Anstatt grundlos aufzubegehren, solltest du dankbar sein, dass dir in diesen schweren Stunden geholfen wird. Und nimm um Himmels willen endlich die Beine vom Kanapee. Wie kann sich eine junge Dame derart herumfläzen. Setz dich vernünftig hin, und ich möchte die nächsten Tage keinesfalls sehen, dass du noch einmal in diesen grässlichen Jeans vor Gästen erscheinst. Zieh ein schwarzes Kleid an, so wie es sich gehört. Solltest du keines besitzen, leih dir etwas Passendes von Helene. Ihr dürftet eine ähnliche Größe haben. Morgen rufe ich bei Ringwald an und bitte ihn, mit seiner Kollektion von Trauerkleidern vorbeizuschauen. Leider Gottes wirst du in den nächsten Tagen als Quentins Witwe im Licht der Öffentlichkeit stehen, was ich keineswegs billige. Dein Benehmen und deine Haltung entbehren jeglicher Würde.« In all der Aufregung hatte Gräfin Wilhelmina Zeit gefunden, ihr graues Hauskleid gegen schwarzen Musselin mit einem hohen schwarzen Stehkragen aus Brüsseler Spitze einzutauschen. »Ich schäme mich für dich und ...«

Die Tür sprang auf, und Leonards bäuerische Gestalt füllte den Rahmen aus. Er fuhr sich verlegen über die braunen Stoppeln auf seinem Kopf. Wie üblich war ihm der Bund seiner ausgebeulten Cordhose unter den Bauch gerutscht, und wie üblich zerrte er wild am Gürtel. Stärker als sonst gaben seine Gesichtszüge der Schwerkraft nach. Alles hing nach unten. Augen- und Mundwinkel, Nase und Kinn. Selbst seine dunklen Augenbrauen bildeten über der Nasenwurzel die Spitze eines steil abfallenden Daches. Es war Bonnie unklar geblieben, ob seine Miene einen natürlichen Trübsinn widerspiegelte, oder ob sich der Trübsinn erst ausbildete, wenn er seinen Tränensäcken und Hängebacken allmorgendlich vor dem Spiegel gegenüberstand. Das einzig Anziehende an Leonard, zumindest in Bonnies Augen, waren seine Hände. Wohlgeformt, schmal und mit zartgliedrigen Fingern. Bei der Grobschlächtigkeit seines übrigen Körpers fielen sie sofort auf, doch Leonard pflegte sie, aus welchem Grund auch immer, meist tief in den Hosentaschen zu versenken, was dem Rutschen seiner Hosen außerordentlichen Vorschub leistete. »Alle weg! Die Leute von Noblesse haben ... ihn mitgenommen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über das stoppelige Kinn.

»Ausgezeichnet. Der Totenschein?«

»Es gab keine Probleme.«

Die Gräfin erhob sich mühsam. »Nun, Kinder, für heute ist alles getan. Leonard, hilf mir die Treppe hinauf und dann schließ bitte das Hoftor und leg die Kette vor. Ist Brutus versorgt?«

»Ich habe ihn auf die Weide gebracht und dann das Tor gleich verschlossen. Ich hoffe nur, dieses Schwein von Pferdeschlitzer ist heute Nacht nicht unterwegs, aber unten diesen Umständen konnte ich ihn schlecht im Stall ...«

»Willst du damit sagen, dieses ... dieses Biest ist immer noch hier?« Bonnie traute ihren Ohren kaum. Sie sprang mit einem Satz vom Kanapee und ging ein paar schnelle Schritte auf Leonard zu. »Schaff es auf der Stelle weg, Leonard!« Ihre Stimme steigerte sich zur Hysterie. »Ruf den Abdecker an oder schnapp dir, verdammt noch mal, das nächste Gewehr und knall es ab. Das Vieh hat Quentin getötet! Meinen Mann!« Tränen rannen ihr über die Wangen.

Leonard blickte ihr unbehaglich entgegen und suchte mit einem fragenden Seitenblick bei seiner Großtante um Unterstützung.

»Reiß dich zusammen, Bonita. Ein Tier tötet nicht mit Vorsatz. Ich werde mitnichten zulassen, dass Brutus für etwas bestraft wird, was allein dein Mann verbockt hat. Kannst du mir einen vernünftigen Grund nennen, was er in der Box eines Ponys zu suchen hatte, das ihn auf den Tod nicht leiden mochte?« Mit hochgereckter Nase stellte sich die Gräfin vor Bonnie auf. Sie reichte ihr gerade mal bis zum Kinn.

»Das spielt doch keine Rolle. Er ...«

»Es spielt keine Rolle?«, höhnte die alte Frau. »Dein Mann geht zu einem Pony in den Stall, von dem er genau weiß, dass es ihm mit Sicherheit die Pest an den Hals wünscht. Dann, als ob dieser Beweis seiner Trotteligkeit noch nicht ausreicht, lässt er sich - ganz offenbar ohne Widerstand - von demselben Pony den Schädel zertrümmern. Dabei macht er dich nach nur zweimonatiger Ehe zur Witwe, und Gut Lieberthal verliert seinen Gutsherren. Für nichts und wieder nichts. Sieh den Tatsachen ins Auge. Brutus ist kein Mörder. Wenn überhaupt von Mord die Rede ist, dann wohl nur in Form eines Selbstmordes aus Dummheit. Alles, was du im Augenblick möchtest, mein liebes Kind, ist Rache. Auge um Auge und Zahn um Zahn wie im Alten Testament, nicht wahr? - Das Pony bleibt - und damit Punktum.« Sie zögerte einen Moment und biss sich auf die Lippe. »Die letzte Entscheidung trifft selbstverständlich der Erbe von Gut Lieberthal. Quentins Nachfolger als Gutsherr. Leonard, was geschieht mit Brutus?«

»Er bleibt selbstverständlich. Es ist dein Pony, Großtante Mina. Ein Teil der Familie, gewissermaßen.« Es blitzte triumphierend in seinen Augen. Seine Schultern strafften sich, und er wandte sich Bonnie zu. »Brutus hat Quentin auch gar nicht grundlos angegriffen. Er ist schließlich nicht tollwütig oder so. Aber als ich ihn vorhin trocken rubbelte, hat der Racker plötzlich die Ohren angelegt und sogar nach mir ausgeschlagen. Nach mir, wohlgemerkt. Dabei striegele und füttere ich ihn schon seit zwanzig Jahren. Um ein Haar hätte er mich erwischt. Ich konnte gerade noch zur Seite springen. Hey, dachte ich, jetzt hat’s ihn doch erwischt. Das Viech ist durchgeknallt. Aber als ich mich vorsichtig wieder anpirsche, um das olle Handtuch aufzuheben, das er mir aus der Hand getreten hatte, da sehe ich doch diesen dicken Dorn in seiner Kruppe stecken. Einen Mordsdorn und ganz schön tief im Fleisch. An Brutus‘ Stelle hätte ich auch einen Rappel bekommen. Dieser Dorn hier, sehr ihr?« Er hielt etwas in die Höhe, was Bonnie durch ihren Tränenschleier nicht erkennen konnte. »Schätze mal, Brutus hat sich in der Streu gewälzt und den Dorn dabei eingefangen. Obgleich ...« Er blickte den Dorn zwischen seinen Fingern stirnrunzelnd an, doch dann hellte sich sein Gesicht wieder auf. Ihm war offenbar ein neuer aufmunternder Gedanke gekommen. »Übrigens weiß ich jetzt auch, warum mein Cousin so dämlich war, sich in die Box zu wagen.«

»Nun?« Die Gräfin schnalzte unwillig mit der Zunge. »Nimm dir ein Taschentuch und hör auf zu schnüffeln, Bonita. So etwas gehört sich nicht.«

»Ich hab‘ im Stroh die hier gefunden.« Er ließ eine goldene Taschenuhr an goldener Kette zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. »Das viel gepriesene Erbstück der Storkenburgs. Seit Karl dem Großen von Generation zu Generation weitervererbt.« Seine Stimme klang beleidigt. Er war offenbar leer ausgegangen, obgleich sein Vater und der von Quentin Zwillinge gewesen waren, also beide der Hauptlinie des Geschlechtes entstammten. »Warum er so schluderig mit ihr umgegangen ist, dass sie in der Box lag, weiß ich nicht. Auf jeden Fall lag sie drin und er wollte sie wohl wieder rausholen. Schätze mal, er hat dem Racker einen Schlag auf die Kruppe gegeben, damit er mit der Hinterhand herumtritt und dabei die Stelle mit dem Dorn getroffen.« Er blickte Beifall heischend die Gräfin an. »Wenn ich dir einen Dorn in die Pobacke rammen würde, dann würdest du auch ausflipp ...«

Weiter kam er nicht.

»Schon gut, ich verstehe. Mäßige dich!«, unterbrach Gräfin Wilhelmina hastig, bevor ihr Großneffe das Gleichnis weiter ausschmücken konnte. »Die Uhr in der Box erklärt das Unglück zur Genüge. Darüber hinaus sehe ich mich gezwungen, dir zuzustimmen, Leonard. Wenn dieses wertvolle Erbstück im Stroh vor Brutus‘ Hufen lag, dann kann es dein Cousin nicht mit der Hochschätzung in Ehren gehalten haben, die ihm gebührt. Deiner Bemerkung, die Taschenuhr stamme aus der Zeit Karls des Großen, entnehme ich jedoch, dass deine Geistesgaben in der Schule nicht ausreichend gefördert wurden.« Sie schwieg einen Moment und schüttelte ganz leicht den Kopf. »Nein, wahrscheinlich habe ich unrecht. Mir scheint eher, alle Storkenburg’schen Männer haben sich bei der Verteilung der Geistesgaben nicht gerade vorgedrängelt. Statt das Geschlecht derer von Storkenburg nach allen Kräften erhalten zu wollen, treiben sie es mit Macht auf den Abgrund zu und arbeiten an ihrer eigenen Ausrottung. Dass du lachst, Leonard, beweist meine Theorie zur Genüge.« Sie funkelte ihren Großneffen eisig an, und das Grinsen erstarb ihm auf den Lippen. »Dein Vater, der Allmächtige gebe auf ihn Obacht, war nicht weniger ein Hohlkopf als alle anderen, Quentins Vater eingeschlossen. Wie kann man bei Nacht und Nebel und ohne Weg und Steg mit einem Traktor eine steile Wiese hinunterfahren? Betrunken! Weißt du eigentlich, dass er den abgebrochenen Steuerknüppel noch in der Hand hielt, als man ihn und seinen toten Zwillingsbruder unter dem Traktor hervorzog? Sobald ich das Geld aufgebracht habe, unsere Kapelle da draußen wieder instand zu setzen, werde ich für dich und deinen Sohn eine Messe lesen lassen, mein lieber Großneffe Leonard. Ich werde wohl Gottes Hilfe benötigen, den Rest der Storkenburgs am Leben zu halten.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Armer dummer Quentin. - Nun, das Unglück ist geschehen, wir können es durch unnötiges Lamentieren nicht wieder rückgängig machen. Das Rad des Schicksals ist gnadenlos in seinem Lauf. Gib mir deinen Arm, Leonard.« An der Tür wandte sie sich noch einmal Bonnie zu, die noch immer mit geballten Fäusten und tränenüberströmt in der Mitte des Salons stand. »Der Arzt hat dir Schlaftabletten hiergelassen, mein Kind. Ich habe Helene angewiesen, dir zwei neben ein Glas Wasser auf das Nachttischchen zu legen. Scheu dich nicht, sie zu nehmen. Die nächsten Tage werden hart für uns alle, und du wirst deinen Schlaf brauchen.«

»Ich versteh das nicht. Warum war er denn überhaupt im Stall? Er hätte in der Mühle sein müssen. Die Flügel haben sich gedreht. Es war doch Sonntag. Mühlentag!«

»Gute Nacht, Bonita.«

Ehre, wem Ehre gebührt

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