Читать книгу Ehre, wem Ehre gebührt - Charlie Meyer - Страница 5

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Bonnie verbrachte eine grausame Nacht auf dem Boden vor dem Kamin. Das haltlose Schluchzen verebbte bald, aber die Erinnerung an Quentins zerschmetterten Schädel blieb. Blut, Hirn und Haare. Immer wieder schüttelte es sie vor Grauen. Dazu kam der Schmerz, sich nie mehr in seinen starken Armen geborgen zu fühlen, die Erkenntnis, nach nur zwei Monaten Witwe geworden zu sein, ihre Wut auf die Gräfin und Leonard, ihre Scham, sich so ohne Gegenwehr das Heft aus der Hand hatte nehmen lassen, und der unbeschreibliche Horror, ihr Mann hätte vielleicht überlebt, wenn sie nur sofort, beim ersten Wort dieser alten Schreckschraube, aufgesprungen und zum Stall hinübergerannt wäre. Entsetzen und Gewissensqual, Wut und Angst kreisten unablässig durch ihren Kopf. Ihre Augen schmerzten vom Weinen und dem unablässigen Starren in die hoch auflodernden Flammen im Kamin, die sie Scheit für Scheit nährte, ohne die Kälte aus den Knochen zu bekommen. Bei der ersten Morgendämmerung, als sich der Himmel hinter den Windmühlenflügeln, die nun stillstanden wie Quentins Herz, aufhellte und rosa verfärbte, um schließlich doch nur hinter grauem Nebel zu verschwinden, hielt sie nichts mehr im Haus.

Sie schlüpfte in ihre Gummistiefel und Quentins dicken Parka und stapfte zwischen Herrenhaus und Verwalterhaus hindurch und an Leonards Geflügelmenagerie vorbei. Ein Schlängelpfad führte in den verwilderten Garten, in dem, wie überall auf Gut Lieberthal, das Unkraut mannshoch wucherte. Die Gänse schnatterten entsetzt und flohen in die hinterste Ecke, als sie das Gehege passierte. Die Enten blieben todesmutig hocken, die Schnäbel unter die Flügel gesteckt. Ganz vorn, direkt neben der Tür, stand der Hauklotz zum Schlachten mit der dunkel gebeizten Oberfläche und den eingetrockneten Blutschlieren. Jenseits des Geheges begann die große, halbrunde und halb verfallene Terrasse mit dem bröckelnden Mäuerchen, das von Brennnesseln und dornigen Ranken überwuchert war und nahtlos in den Unkrauturwald überging, den erst die Gutshofmauer zwanzig Meter weiter begrenzte.

Bonnie nahm den Weg durch das rückwärtige kleine Tor in der Mauer zum Fluss hinunter. Nebel hing über den Flussauen, den Wiesen und Weiden. Einmal glaubte sie durch das Grau die Silhouette eines Ponys hinter einem Weidezaun zu erkennen, aber als sie mit flatterndem Magen ein zweites Mal hinblickte, war da wieder nichts als eine graue Nebelwand. Ein Pony, das tötete, nahm auf dem Rittergut Lieberthal eine höhere Stelle ein als die Witwe dessen, den es getötet hatte, soviel war ihr mittlerweile klar geworden. Es gehörte zur Familie, während sie nach wie etwas behandelt wurde, das die Katze ins Haus getragen hatte.

Sollte sie Uschi bitten, zu kommen? Sich Beistand für die Beerdigung holen? Eine schnoddrige Berliner Schnauze, die der Gräfin Kontra gab und mit ihrer Unverblümtheit Helene in abgrundtiefe Verlegenheit stürzen würde? Nein, besser nicht. Es war vielleicht einfacher, den Horror ohne beste Freundin durchzustehen. Auf sich selbst gestellt, widerstanden Körper und Geist eher der Versuchung zusammenzuklappen und als heulendes Elend an einer vertrauten Schulter herumzuhängen. Außerdem gehörte Uschi, finanziell gesehen, zur Spezies der Pleitegeier. Sie war keine Diplom-Bibliothekarin wie Bonnie, sondern nur Bibliotheksassistentin, verdiente nicht gerade üppig, gab aber ihr Gehalt in einer Geschwindigkeit wieder aus, die schon an Panik vor einem Bankencrash grenzte. Und sie gab es fast ausschließlich für Kleidungsstücke und Körperschmuck wie Zungenpiercing und Pobackentattoos aus. Je schriller, desto schöner. Zurzeit waren ihre Haare neonorange. Bonnie stellte sich das gesammelte Storkenburg’sche Entsetzen angesichts des schillernden Paradiesvogels vor, während sie durch das kniehohe Gras der beinahe zugewachsenen Feldwege stapfte. Nach einer Weile bog sie auf den Trampelpfad ein, der von der Straße zum Fluss hinunterführte. Am Tag ihrer Ankunft war sie genau hier mit Quentin übermütig über die Wiesen getollt. Später waren sie lachend und erschöpft zwischen Mohn und Kornblumen, zwischen Schafgarbe und Wiesenschaumkraut zu Boden gesunken und hatten sich geliebt.

Sie biss sich auf die Lippen und schniefte laut. Kein Taschentuch im Parka. Na und?, dachte sie schluchzend und aufsässig und schniefte extra laut. Sollten doch dem gräflichen Drachen die Ohren abfaulen. Was kümmerte sie das? Von sofort an würde sie schniefen, wo und wann es ihr passte, und wer sich daran störte, sollte ihr gefälligst aus dem Weg gehen. Sie trat voll Zorn nach einem Stein auf dem Weg und schrak zusammen, als eine fette graue Kröte quer über ihre Füße hopste. Alles war noch grau in dieser Stunde nebeligen Zwielichtes. Selbst der Fluss floss grau und träge der See zu, während Bonnie zusammengesunken auf einem Baumstumpf hockte und aufs Wasser starrte. Ab und an tauchten zwischen vorüberziehenden Nebelschwaden bizarr geformte Trauerweiden am anderen Flussufer auf und versanken dann wieder im Nichts.

Sie fror, stülpte sich die Kapuze über den Kopf und schnupperte hoffnungsfroh am dicken, karierten Futter. Nichts. Gar nichts. Nicht einmal der Hauch eines Geruches, der sie an Quentin erinnerte. Kein Aftershave, kein Eau-de-Toilette, nicht einmal Schweiß. Der Parka roch nur muffig. Nass geworden und im Garderobenschrank unzureichend getrocknet.

Während die Nebelschwaden durchscheinender wurden, dachte sie an Berlin und ihre erste Begegnung mit Quentin. Es war im Großen Tiergarten gewesen, zur Rosenblüte, und ihm war die Rolle des ritterlichen Helden und ihr die der bedrohten Jungfrau zugefallen, auch wenn Letzteres nicht ganz wörtlich zu nehmen war. Ein Stricher entblößte sich vor ihr, um zu beweisen, was für aufrechte Freuden sie bei einem Nümmerchen hinter dem nächsten Busch erwartete. Ein arbeitsloser Tischler, der, wie sie später erfuhr, tagtäglich seine Runden durch den Tiergarten drehte und diverse Liebesdienste anbot. Ein Opfer der neuen Sozialreformen, dem plötzlich die staatliche Beihilfe versagt wurde, weil es da seine Frau gab, die verdiente. Seine Frau, eine Friseurin, die der Staat kurzerhand dazu verdonnerte, ihren Gatten finanziell zu unterhalten. Dieser Tischler jedenfalls stieg neben ihr vom Fahrrad und fragte sie nach dem Weg zum Potsdamer Platz. Während sie ihn ihm beschrieb, wandte er sich einen Moment lang von ihr ab, und als er sich wieder umdrehte, stach ihr unter aus offener Hose sein erigiertes Glied entgegen.

Quentin, der querfeldein über eine Wiese gejoggt kam und unmittelbar vor ihnen auf den Weg stürmte, hatte er nicht kommen sehen. Quentins Faust ebenfalls nicht. Er lag auf dem Rücken, bevor er das Werkzeug seiner Dienstleistung wieder in die Hose zurückstopfen konnte. Nach dem ersten Schock und der überstürzten Flucht des panischen Tischlers war Bonnie in hysterisches Gelächter ausgebrochen.

»Oje, tut mir schrecklich leid. Ich hoffe, der Kerl war nicht ihr bester Freund«, hatte Quentin in gespielter Zerknirschung gesagt und sie mit seinen kornblumenblauen Augen angelächelt. »Aber bei uns auf dem Land gibt es leider nur diese eine Antwort auf ein derart unentschuldbares Verhalten einer Dame gegenüber. Das geht da noch zu wie im Wilden Westen.« Er trug ein ledernes Handtäschchen an einer Schlaufe ums Handgelenk und einen Fotoapparat um den Hals. Sie war vor Lachen beinahe erstickt, aber bevor er sich pikiert davonschleichen konnte, hatte sie es geschafft, ihm gebührend zu danken.

Danach war eins zum anderen gekommen. Ihr gemeinsamer Weg aus dem Tiergarten, wobei er drohend die Büsche musterte, als ob hinter jedem ein geschäftstüchtiger Stricher lauere, ihr kurzer Stopp an dem Polizeiwagen, in dem ein Uniformierter in ein Döner Kebab biss, die Jacke schon mit Soße und Tomatenstückchen bekleckert, und ohne großes Interesse Quentins empörten Worten lauschte. Es folgten die Fetuccini im Marlene am Potsdamer Platz, schräg gegenüber des Musicaltheaters und schließlich, zum Abschluss des Tages, ein 3-D-Film über Dinosaurier im I-Max, alberne Pappbrillen auf der Nase. Beim Abschied gab sie ihm ihre Telefonnummer, obgleich er durchblicken ließ, dass er wohl keine Zeit für eine Verabredung finden werde, er müsse schon am nächsten Tag nach Hohenfurt zurück. Nur ein Wochenende in Berlin. Das war an einem Sonntag gewesen. Enttäuscht fragte sie ihn, was noch auf seinem Besichtigungsplan stünde, und als ihm spontan Flughafen Tegel entfuhr, musste sie sich auf die Lippen beißen um nicht mit einem Toll, da komm ich mit herauszuplatzen. Obgleich sie genau genommen Flughäfen ebenso wenig abgewinnen konnte wie Bahnhöfen, es sei denn, man fuhr sie gezielt an, um zu verreisen. Aber sie drängte sich ihm dann doch nicht auf und sah mit Befremden eine gewisse Erleichterung in seiner Miene auftauchen. Wieder nichts, hatte sie frustriert gedacht, der Typ will dich nur noch loswerden.

In der U-Bahn, auf dem Weg nach Kreuzberg, war er ihr trotzdem nicht aus dem Kopf gegangen. Sein offenes Wesen, sein Humor, die kräftige Gestalt in Lederjacke und Cordhosen, der dichte goldblonde Schopf, die kornblumenblauen Augen, eine Faust, die nicht zögerte, einer bedrängten Frau beizustehen ... Beim dritten sehnsuchtsvollen Seufzer hatte ihr Nachbar, ein übergewichtiger Türke, sie angesprochen: »Deutsche Männer nix gut in Liebe«, und seinen Neffen Murad angepriesen wie Sauerbier. Noch so ein Ladenhüter wie du, hatte sie voll Selbsthass gedacht und war am Kottbusser Tor in einer so sichtbar miesen Laune ausgestiegen, dass ein Obdachloser, der ihr den Straßenfeger verkaufen wollte, hurtig den Rückzug antrat. Später taten natürlich noch Quentins vollständiger Name und sein Adelstitel ein Übriges, aber das war erst viel später, unmittelbar vor der Hochzeit gewesen: Quentinius Albertus Baron von Storkenburg vom Rittergut Lieberthal bei Hohenfurt. Tatsächlich kannte sie bis zu seinem Heiratsantrag nur seinen Vornamen. Quentin. Quentin, der Sohn des Bauern Sowieso. Hatte sie zumindest angenommen. Doch dann kniete er plötzlich vor ihr, eine rote Rose in der Hand, und begann: »Ich Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ...« Und dann kam all der romantische Quatsch, bei dem sie vorm Fernseher genervt nach der Fernbedienung suchte und nun, da es ihr selbst geschah, mit Tränen der Rührung in den Augen Ja doch, ich will hauchte. Von diesem Moment an hatte sie sich übrigens auch eingeredet, von Anfang an diese jahrhundertelang geprägte Souveränität der Feudalherren aus seinen klaren Zügen gelesen zu haben. Hatte sie jemals geglaubt, dem Sohn eines simplen Bauern gegenüberzustehen?

Aber was auch immer sie sich einbildete oder tatsächlich herauslas, sie liebte ihn vom ersten Faustschlag an.

Er rief dann doch abends an und lud sie zum Essen ins Hotel Adlon am Brandenburger Tor ein. Allerdings trafen sie sich dann doch nur in einem Steakhaus am Kudamm, weil sie sich dem Adlon an diesem Tag nicht gewachsen fühlte. Ihr kleines Schwarzes sei leider gerade, in der Reinigung, der zahllosen Champagner- und Kaviarflecken wegen. Er hatte am Telefon so ansteckend gelacht, dass sie lautlos und hingerissen den Hörer küsste.

Nach dem Essen fuhren sie mit einem Taxi zu ihr nach Kreuzberg, wo Bonnie in einer Zweizimmerwohnung am Planufer wohnte, mit Blick auf den Landwehrkanal. Bis Mitternacht tranken sie Wein im Garten der Pizzeria nebenan. Er erzählte von seinem Leben auf dem Land, und natürlich nahm sie an, er lebe auf einem Bauernhof. Großer Gott, dachte sie irgendwann mal mittendrin, ich habe mich in einen Bauern verliebt. Wenn ich nicht aufpasse, melke ich demnächst morgens um fünf die Kühe, rühre bei der Hausschlachtung Blutwurst an und bringe zehn rotbackige Kinder zur Welt. Aber dann schwärmte er von seiner Holländermühle, erzählte von den Späthippies im Aussiedlerhof, von den schönen alten Fachwerkhäusern in Hohenfurt, den Hügeln und Wäldern rund um die Stadt, und von einem hinterhältigen Haflingerpony namens Brutus. Ihre zunehmende Faszination hatte die Bedenken schließlich überwogen.

Stattdessen verschluckte sie sich vor Lachen am Wein, als er schilderte, wie ihn sein Pony schon zweimal quer über den Hof gejagt hätte. Erschrocken klopfte er ihr auf den Rücken, und sie war trotz ihrer Atemnot nahe daran gewesen, ihm auf der Stelle die Kleider vom Leib zu reißen. Sie lachte und hustete, bis ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und nun hockte sie am Ufer des Flusses und heulte, weil ihn dasselbe Pony umgebracht hatte. Wie hieß es so treffend? Ironie des Schicksals.

Der Nebel hing nur noch als hauchdünner Schleier über dem Wasser. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten ihren Rücken, und schließlich fand sie in der Hosentasche ihrer Jeans doch noch ein tränennasses Taschentuch der vergangenen Nacht und schnäuzte sich lautstark. Zwei Enten glitten vom Ufer in den Fluss, der nun nicht mehr silbergrau glitzerte, sondern als braune träge Masse, schlammgesättigt nach den starken Regenfällen der letzten Woche, das Tal hinunterfloss.

Nach dem Wein an jenem ersten Abend hatten sie sich auf ihrem niedrigen Futon geliebt. Ganz sachte und behutsam, weil er plötzlich so unsicher wirkte, und ihr das Gefühl vermittelte, sich auf ein weitgehend unbekanntes Terrain zu wagen. Auch das noch, war es ihr durch den Kopf geschossen, und von dieser Sekunde an war sie ihm mit Haut und Haaren verfallen gewesen. Sie hatte ihn gestreichelt und seine nackte Haut mit den Lippen liebkost, manchmal sogar seine Hand geführt, bis sie in einem gemeinsamen Höhepunkt zusammenfanden. Das zweite Mal im Morgengrauen war der Liebesakt heftiger ausgefallen, und hatte in ihr das stolze Gefühl zurückgelassen, in ihm eine Lust ohne Ängste geweckt zu haben. Als sie später aufwachte und ein Sonnenstrahl seinen verwuschelten Schopf golden aufleuchten und die weißen makellosen Zähne zwischen den leicht geöffneten Lippen wie Perlen blitzen ließ, hätte sie ihm am liebsten eine überdimensionale Sträflingskugel aus Eisen ums Fußgelenk gekettet, dass er es bloß nicht wagte, ihr abzuhauen.

Aber er lief nicht weg. Er änderte einfach seine Pläne und blieb. Als er fünf Tage später kniete er mit dieser albernen Rose zwischen den Zähnen vor ihr und sie sagte Ja. Zum ersten Mal nannte er ihr seinen vollen Namen und erzählte von dem Rittergut derer von Storkenburg. Sie sah ihn als Ritter in glänzender Rüstung, sich selbst als strenge aber gütige Gutsherrin an seiner Seite über Haus und Gesinde wachen, und der Reiz, in ein Märchen einzuheiraten, von dem jedes kleine Mädchen träumte, tat ein Übriges. Sie sah sich quasi als Scarlett O‘Hara, seine Hand an ihrem Ellenbogen, in einem Ballkleid eine imposante Freitreppe hinunterschreiten, während ihr aus der großen Halle der geladene Adel bewundernd applaudierte. Sie sah sich mit Quentin in zufriedenem Glück das Füllhorn des Lebens leeren, bis sie dereinst, weißhaarig und gebeugt ...

Bis dass der Tod euch scheide, und das Märchen zu Ende ist. Aber eigentlich, in gewisser Weise, hatte sie das Märchenbuch bereits kurz nach Ankunft wieder zugeklappt. Leise und heimlich versteht sich. Es langte schließlich, wenn sie sich selbst auslachte.

In einem Punkt, so musste sie sich gleich als Erstes bei ihrem Eintreffen auf Gut Lieberthal, wenn auch widerwillig, eingestehen, hatte Quentin sie schamlos belogen. Dieser Punkt hieß Wilhelmina Magdalena Elisabeth Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß. Bonnie warf Steinchen in die braune Brühe zu ihren Füßen. Niemand, nicht einmal ein taubstummer Blinder, würde in Versuchung geraten, die alte Gräfin mit einer gütigen Großtante aus einem Märchen zu verwechseln. Ihr hatte mitnichten das Wohlwollen aus dem greisen Antlitz geleuchtet, als sie, Bonita Alvarez, Tochter einer deutschen Fabrikarbeiterin und eines mallorquinischen Lebenskünstlers, achtundzwanzig Jahre alt, nur mäßig hübsch und angestaubte Bibliothekarin, als Quentins rechtmäßig angetraute Ehegattin und Erbin vor den gräflichen Lehnstuhl trat.

Bis zu ihrem Tod würde sie das Entsetzen im Gesicht der Greisin nicht vergessen, dieses Entsetzen, dass sich ganz schnell in gnadenlose Ablehnung, ja sogar Abscheu verwandelte. Ihre ersten kalten Worte an Quentin Darf ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen, mein Junge, das aufgeregte Gemurmel aus der Bibliothek, während sie gegenüber im kleinen Salon auf der äußersten Kante des Kanapees hockte, sein halbes Lächeln und der eisige Blick der Gräfin, als er später bei einem improvisierten Festessen die Ente tranchierte. Nicht einmal das Strahlen seiner kornblumenblauen Augen hatte Bonnies spontane Wut mildern können. Wenn sie ehrlich war, grollte sie Quentin noch immer für die erlittene Demütigung. Mal ganz davon abgesehen, dass sich das Märchengut ihrer Träume in der Realität als marode Bruchbude entpuppte, die offenbar nur die Furcht vor der gestrengen Gräfin davon abhielt, einfach in sich zusammenzuklappen. Aber das war das bei Weitem geringere Übel gewesen.

»In einer Woche seid ihr mich endlich los«, murmelte sie und schlug die Kapuze des Parkas zurück. »Spätestens.«

Nur wohin auf die Schnelle? Zu ihren Eltern konnte sie schlecht ziehen. Zwischen Quentins und ihrer Kindheit gab es eine Parallele. Auch ihr Vater hatte sie früh zur Waise gemacht. Als sie acht war, fällte er mit dem Familienauto, einem Ford Transit, einen dicken Ahorn am Rand der Landstraße und gab sich alle Mühe, mit einem Schlag die gesamte Familie Miguel Alvarez auszulöschen. Die Leichen von Diego und Nando, den elfjährigen Zwillingen, seiner Frau Magda und schließlich auch seine eigene musste die Feuerwehr mit riesigen Metallscheren aus dem Wrack schneiden. Jahre später hörte Bonnie ihre Großmutter am Telefon zu jemandem sagen, ein Feuerwehrmann habe damals gewitzelt, es sei für alle Beteiligten sinnvoller, den blutenden Metallklumpen in Gänze zu begraben. Bonnie überlebte den Untergang ihrer Familie nur, weil sie kurz vor dem Ausflug Windpocken bekam und ihrer Großmutter zur Pflege übergeben wurde. Derselben Großmutter, die sie dann auch groß zog und, als hätte sie nur darauf gewartet, am Tag ihrer Volljährigkeit tot umfiel.

Aber Uschi nahm sie bestimmt für zwei oder drei Wochen auf und gab ihr Zeit, sich wieder eine eigene Bude zu suchen. Bonnies Stelle in der Lichtenradener Hauptbücherei war für ein Jahr eingefroren worden, hatte ihr die Freundin erzählt. Im öffentlichen Dienst in Berlin gab es mal wieder eine Haushaltssperre mit den üblichen Forderungen nach Einsparungen. Es würde schwer sein, als Bibliothekarin eine neue Stelle zu finden, immer mehr der kleinen Stadtteilbüchereien wurde geschlossen. Sie würde ihre Wertpapiere verkaufen müssen. In ihrer verliebten Kurzsichtigkeit hatte sie ihr Sparbuch abgeräumt und das Geld Quentin gegeben. Und der investierte es in einen Motor für die holländische Windmühle, damit er sie auch bei Flaute betreiben konnte. Nein, schalt sie sich gleich darauf. Keine verliebte Kurzsichtigkeit sondern Liebe und die Verwirklichung eures gemeinsamen Traumes. Gemeinsam jedenfalls in ihren Planungen, in der Realität hatte Quentin sie seltsamerweise gar nicht so gern in der Windmühle gesehen. Jedenfalls nicht sonntags, wenn die Touristen kamen. Anfangs war sie gekränkt gewesen und plagte sich eine Weile mit Begriffen wie Loslassen und Freiräumen ab, bevor sie die Leine endlich lockerer ließ. Allerdings nur an den Mühlentagen, ansonsten nahm sie jede Gelegenheit wahr, der Gegenwart der alten Gräfin zu entfliehen, indem sie Quentin folgte.

Bekamen Witwen nach nur zweimonatiger Ehe Witwenrente? Eher wohl nicht. Ihr war, als habe sie etwas von einem Jahr gelesen. Na ja, zumindest blieb ihr das Arbeitslosengeld als Grundlage für einen Neuanfang. Nicht dass es ausreichen würde, sie hatte nur auf einer Zweidrittelstelle als Bibliothekarin gearbeitet, aber es schwächte zumindest ihre Existenzängste ab.

Trotzdem: sie brauchte einen neuen Job, und das so schnell wie möglich.

Vielleicht gehörst du zu den armen Irren, die den Tod magisch anziehen, dachte Bonnie deprimiert. Jeder, der in deinen Sog gerät, gibt den Löffel ab. Vater, Mutter, Oma, die Zwillinge und nun auch noch Quentin, dein Ehemann. Als Nächstes kommt dir wahrscheinlich Uschi im Bahnhof Zoo entgegengerannt, stolpert, stürzt auf die Gleise, und der nächstbeste ICE donnert über sie hinweg. Wahrscheinlich gibt es nur ein einziges Lebewesen im gesamten Sternenrund, das sich von dir nicht unter die Erde bringen lässt. Den alten Drachen, die Gräfin. Sie wird ewig leben, oder, falls sie doch irgendwann als älteste Frau des Universums stirbt, als Geist zurückkehren und allen Storkenburgs, den jetzigen wie den kommenden, gnadenlos im Nacken sitzen.

Quentin war noch einmal nach Gut Lieberthal zurückgekehrt, damals im Juli, nachdem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Das Aufgebot hing bereits im Kreuzberger Standesamt am Mehringdamm aus, als Quentin nach Hohenfurt fuhr, die Seinen vorzubereiten. Als er zwei Wochen später zur Trauung nach Berlin zurückkehrte, hatte sie gewissermaßen die Schotten schon dichtgemacht. Die Wohnung aufgelöst, die Stelle gekündigt, sich von ihren Freunden verabschiedet, die Koffer gepackt und das große goldene Märchenbuch ihrer Zukunft auf Seite eins aufgeschlagen. Erst kurz vor ihrer Ankunft in Hohenfurt, sechs Stunden nach der eher nüchternen Trauung, gestand ihr Quentin mit seinem liebenswertesten Jungenlächeln, das er ein wenig geflunkert habe. Denn eigentlich wisse in Hohenfurt gar niemand von seiner Verehelichung. Der Schock über seine Lüge hielt auch noch an, nachdem er ihr seine Gründe dargelegt hatte.

Es ging dabei um die Schonung seiner Großtante Mina. Sie sei fünfundachtzig, gesundheitlich angeschlagen und viel zu gebrechlich, um zu einer Hochzeit nach Berlin zu reisen. Aber wenn sie wüsste, dass ihr Lieblingsneffe heiratete, dann würde sie sich eben derart grämen, nicht dabei sei zu dürfen, dass ihr ohnehin schon angegriffenes Herz weiteren Schaden nehmen könne. Er habe ihr die Enttäuschung ersparen wollen, und darüber hinaus seinen Cousin nebst Familie nicht eingeweiht, damit sich die arme Großtante Mina nicht später als Einzige hintergangen fühle. Wo er doch ihr Lieblingsneffe sei.

Was für eine hanebüchene Lüge, die eine wie die andere! Doch zu dem Zeitpunkt, frisch verheiratet und bis über beide Ohren verliebt, schluckte Bonnie sie und machte sich erst später klar, dass Quentin mit keinem Wort erklärt hatte, warum er eigentlich sie, seine angetraute Ehefrau, ebenfalls belogen habe.

Die Wahrheit sah wohl eher so aus, dass er Auseinandersetzungen gern aus dem Weg ging. Zu Hause aus Furcht vor der spitzen Zunge seiner Großtante, im fremden Berlin aus Angst vor einem ersten Ehekrach. Sie lernte ziemlich schnell, dass er mit Vorliebe den Weg des geringsten Widerstandes wählte, die Leute dann jedoch vor vollendete Tatsachen stellte und lächelnd die Schelte kassierte. Nicht einmal die Behauptung mit dem Lieblingsneffen stimmte. Seit Bonnie auf dem Gut weilte, hatte Gräfin Wilhelmina Quentin die kalte Schulter gezeigt und liebte es, ihn ihr gegenüber als Trottel zu bezeichnen. Sollte er jemals ihr Lieblingsneffe - oder besser Lieblingsgroßneffe - gewesen sein, dann lag diese Liebe wohl schon ein paar Jahre zurück. Bonnie wurde das Gefühl nicht los, dass die Verächtlichkeit der Gräfin Quentin gegenüber nichts mit seiner Mesalliance zu tun hatte. Oder nur wenig. Ihre Wurzeln mussten irgendwo tiefer liegen, das spürte sie ganz deutlich.

Ein Schwan flog über das Wasser und folgte eine ganze Weile den Windungen des Flusses. Es tropfte aus seinem Gefieder, und die Sonne verwandelte die Tropfen für kurze Zeit in funkelnde Diamanten, bevor sie auf der braunen Brühe des Flusses aufschlugen.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr - Viertel vor acht. Noch ein paar Mal tief durchatmen, die Tränen runterschlucken und dann zurück in die Hölle. Die Beileidsbekundungen der Verwandten entgegennehmen, falls denn welche auftauchten, was seit ihrer Anwesenheit noch nicht passiert war, und sich den stechenden Augen der Gräfin stellen. Mit ihr zusammen die Formalitäten des Begräbnisses regeln. In die Stadt fahren und beim Bestatter vorsprechen. Einen Sarg aussuchen. Einen Sarg für Quentin mit seinen kornblumenblauen Augen, die er niemals wieder öffnen würde. Ein Spitzenkissen für seinen zerschmetterten Kopf auswählen. Von ihm Abschied nehmen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Wollte sie das wirklich? Mit dieser Schreckschraube im Rücken, die ihr noch schnell ein Taschentuch zusteckte, damit sie nicht schnüffelte? Unter Leonards verächtlichen Blicken zusammenbrechen und sich schluchzend über den Toten werfen? Wollte sie wirklich von ihm wie ein triefender Mehlsack zum Auto zurückgeschleppt werden? Sie konnte schon die kalte Stimme der Gräfin dem Bestatter gegenüber hören: »Ich muss mich für die fehlende Contenance der Witwe entschuldigen. Mir scheint, das Proletariat neigt in derartigen Fällen zu übertriebener Melodramatik.« Es war ihr schon das eine oder andere Mal durch den Kopf gegangen, ob sie sich mit ihrer Verehelichung vielleicht in eine dieser bemitleidenswert tragischen Romanfiguren von Courths-Mahler verwandelt hatte. Armes, unbedarftes bürgerliches Ding heiratet reichen Erben und wird gnadenlos schikaniert. Nur gab es auf Gut Liebenthal nicht einmal den Anflug von Reichtum, man schlug sich mehr schlecht als recht durch den Alltag.

Sie stand von ihrem Baumstumpf auf und starrte auf die Trauerweiden am jenseitigen Ufer. Nein, sie glaubte nicht, ihren toten Mann ein zweites Mal sehen zu wollen. Das erste Mal, erschlagen und blutig im Stroh, reichte für den Rest ihres Lebens. Sie hatte nie zuvor dem Antlitz des Todes gegenübergestanden und seine unverhohlene Brutalität hatte ihr den Atem geraubt. Sie wollte nur noch eins. Das Bild ihres toten Ehemanns im Stroh gegen das eines lebenden und lachenden Quentin austauschen. Sie wollte ihn sich vorstellen, wie er ihr bei einem Glas Wein gegenübersaß und wie er vor Lachen kaum ein Wort über die Lippen bekam. Wie er mit verwuschelten Haaren und einem schlaftrunkenen Lächeln auf den Lippen neben ihr aufwachte. Wie er mit der Rose zwischen den Zähnen vor ihr kniete und die magischen Worte sprechen: Ich, Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ....

Nein, sein Kopf war nicht zerschmettert, er lag in keinem Sarg. Er war nicht tot. O nein, sie würde nicht zulassen, dass weder der Quentin im Stroh noch dieser geschminkte Klon im Sarg den lebenden verdrängte.

Die Nebelschwaden über dem Wasser hatten sich jetzt vollständig aufgelöst, und hinter den Trauerweiden am anderen Flussufer schien in der klaren Luft der Berg ganz nah. Die Spitzen der Fichten oben auf der Kuppe wirkten gegen den noch weißlichen Himmel wie die Zähne eines Sägeblattes. Dort oben, wo die Raubritter derer von Weißenstein hinter den dicken Zinnen ihrer Burg auf Schiffe gelauert hatten, die den Fluss hinuntergetrieben kamen, damals im Mittelalter. Quentin hatte es ihr erzählt. Kam eins, rissen sie an einem Seil, das vom Berg herunter quer über den Fluss bis zu einem hölzernen Turm hinter dem Herrenhaus derer von Storkenburg auf Gut Lieberthal gespannt war. Im Turm bimmelte die Alarmglocke, und vom Gut stürzten bewaffnete Ritter und Knappen zum Fluss hinunter und in die Kähne. Wer von den Schiffern nur seine Waren und nicht auch das Leben verlor, wagte sich kein zweites Mal zwischen Gut und Burg hindurch. Auch auf Gut Lieberthal hausten demnach damals nicht die edlen Ritter heroischer Sagen, sondern schnöde Banditen, die sich ihre Fress- und Saufgelage mit Überfällen finanzierten.

Die Weißenstein’sche Burg gegenüber war längst von den napoleonischen Truppen geschleift. Ebenso wie die Hohenfurter Befestigungsanlagen. Obgleich Hohenfurt beim ersten Anblick einer französischen Uniform hastig kapitulierte und toter Mann spielte, ließ Napoleon ebenso hastig alles dem Erdboden gleichmachen, hinter dem sich die Hohenfurter verschanzen könnten, falls sie jemals ihren Mut wiederfänden: Mauern, das Fort auf dem nahe gelegenen Kaninchenberg, Stadttürme und sogar die alte Garnisonskirche am Stadtrand. Nur die Wälle, die erdenen Fundamente der geschleiften Stadtmauern, überdauerten die Jahrhunderte. Heute umkreisten auf ihnen Touristen die Altstadt, blickten auf den Flussbogen und fühlten sich ergriffen, weil sie auf historischem Boden herumspazierten. Quentin und sie waren am Tag nach ihrer Ankunft ebenfalls um die Stadt spaziert, und sie hatte sich vorgestellt, wie der Wall unter den Stiefeln tausender Soldaten erbebte, als die napoleonischen Truppen mit Rammbock und Gebrüll die Festungsmauern schleiften.

Ein Kieselstein flog dicht an ihrem Ohr vorbei und platschte ins Wasser. Bonnie schrak aus ihren Träumen auf und fuhr herum. Robin, Leonards zwölfjähriger Sohn, zielte mit einer Zwille auf sie und brüllte: »He du, die Mumie will dich sehen.«

In unseren Kreisen sagt man nicht he du, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor, und Mumie zu einer altehrwürdigen Großgroßtante schon gar nicht. Doch der nächste Stein traf sie am Hals und ihr verging das Grinsen. Es tat weh. Nicht nur körperlich. Schon wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Um Himmels willen, schalt sie sich, er ist nur ein kleiner, dummer Bengel und weiß gar nicht, was er tut. Sie starrte ihn stirnrunzelnd an. Richtig, nur ein kleiner dummer Bengel in Sweater und Gummistiefeln. Ein wohlwollendes Schicksal hatte ihm die zarteren Knochen und feineren Gesichtszüge seiner Mutter verpasst und den grobschlächtigen Vater einfach außen vor gelassen. Allerdings war er, was sein verächtliches Verhalten ihr gegenüber betraf, ganz eindeutig Leonards Sohn. Wieder hob er die Zwille.

»Ich warne dich, Robin. Wag es ja nicht oder du landest im nächsten Kuhfladen und zwar in einem ganz frischen.«

Robin grinste, zog das Gummi durch und ließ es los. Der Kiesel zischte zwar knapp an ihrer Wange vorbei, aber sie flippte trotzdem aus. Es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit einem Wutschrei stürzte sie vorwärts, die Hände zu Fäusten geballt. Der Junge blickte ihr ungläubig entgegen, dann warf er sich herum und nahm brüllend die Beine unter die Arme. Gegen einen panischen Zwölfjährigen hatte Bonnie natürlich keine Chance, aber sie holte alles aus sich heraus. Für wenige Momente verlieh ihr die Wut Flügel, und sie sprintete zwischen den noch immer nebelverhangenen Wiesen und Weiden hindurch, und ignorierte das laute Keuchen aus ihrer schmerzenden Kehle. Was sie letztendlich stoppte, war das schrille Wiehern eines Ponys. Brutus! Er trabte aus dem Nebelschleier einer Weide bis dicht hinter den tickenden Elektrozaun, warf den Kopf auf und ab und wieherte höhnisch. Bonnie stolperte und fiel auf die Knie. Tränenblind blieb sie hocken, während Robins Gebrüll leiser und leiser wurde, und Brutus in ihrem Rücken sie noch immer verhöhnte.

Wie zum Teufel hatte es geschehen können, dass die goldene Taschenuhr, das teure Erbstück, im Stroh zu Hufen dieses verdammten Ponys gelandet war? Quentin hatte sie wohl kaum vor Brutus Nase hin- und hergeschwenkt, weil er ihn hypnotisieren wollte, während der Hengst rasend vor Wut die Latten des Verschlages zusammentrat. Wieso war Quentin überhaupt im Stall gewesen? Wieso nicht drüben in der Mühle? Einfach nur, um den Hengst zu reizen? Was für ein hirnverbrannter Unsinn! Quentin hätte sich nie so weit erniedrigt, ein Tier zu quälen. Weder passiv durch provokatives Herumstehen noch aktiv, in welcher Form auch immer. Rätsel, auf die sie brennend gern eine Antwort hätte. Was von dem Augenblick an geschah, als die Taschenuhr - wie auch immer es geschah - im Stroh landete, war klar. Quentin wollte sie rausholen, bevor das Pony sie zertrat. Oder jemand aus der Sippe der Storkenburgs sein Missgeschick mitbekam. Wird schon gut gehen.

Oben verschwand Robin gerade durch die kleine Pforte im Mauerwerk und begann lauthals zu heulen. Die Gänse und Enten untermalten sein Gezeter mit aufgeregtem Schnattern. Bonnie kam wieder auf die Füße und wappnete sich gegen neue nervenzehrende Kämpfe mit ihrer angeheirateten Verwandtschaft. Ein Gutes war, es würden wohl die letzten Kämpfe mit dieser Sippschaft sein. Bald war sie weg. Sie kniff die vom Weinen schmerzenden Augen zusammen und spähte hangaufwärts.

Die Rückseite des Herrenhauses wirkte selbst in dieser einigermaßen freundlichen Morgenbeleuchtung erschreckend trostlos. Wie ein Gefängnis oder eine Irrenanstalt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Fenster schnitten, eins neben dem anderen, ohne Schnickschnack und Einfassungen einfach nur dunkle Rechtecke aus der glatten Fassade. Es gab keine Erker oder Balkone, keine Friese oder wenigstens mit Geranien bepflanzte Blumenkästen, sondern nur Reihe um Reihe rechteckige dunkle Fenster, die ihr so schwarz und unfreundlich entgegenstarrten, wie die Menschen, die hinter ihnen lebten. Zwischen den Rechtecken große Flecken roten Mauerwerks, wo der Putz in ganzen Fladen von der Wand gebröckelt war. Während vorn wilder Wein die ganze rechte Seite des Gutshauses überzog und zumindest bei anfälligen Gemütern einen Hauch von Romantik aufkommen ließ, stürzte die rückwärtige kahle Fassade ausnahmslos jeden Betrachter in tiefe Depressionen. Die Regenrinne, an einer Dachecke losgerissen, wies wie eine Rutschbahn schräg nach unten. Die halb verfallene Mauer mit dem rostigen kleinen Tor, die auf der Rückseite das Grundstück abschloss, ließ wohl keinen Zweifel mehr an der pekuniären Situation des Rittergutes übrig. Das Gesamtbild ließ sie frösteln.

Von vorn wirkte das Herrenhaus durch den wilden Wein und den halbrunden, von vier kannelierten Säulen getragenen Balkon im ersten Stockwerk, der ehemaligen Beletage, freundlicher, wenn auch nicht weniger marode. Die eigentliche Farbe der maroden Schindeln auf dem hohen barocken Walmdach ließ sich nicht mehr ausmachen. Das Haus selbst sah grau und schmutzig aus, und auf dem von Fresken-Löwen gehaltenen Sandsteinwappen über dem mächtigen Eichenportal war die Jahreszahl abgeplatzt. Verfall, wohin man blickte. Gut Lieberthals Blütezeit mit ausschweifend tafelnden Rittersleuten lag offenbar schon Jahrhunderte zurück. Heute reichte das Geld nicht einmal aus, den Verfall aufzuhalten, geschweige denn, auch das Gutshaus restaurieren zu lassen. Aus demselben Grund waren auch das Kavaliershaus und die große Weizenscheune, die Anfang der sechziger Jahre durch Brandstiftung in Flammen aufgingen, nie wieder aufgebaut wurden. Nahezu ein Drittel der kleinen verspielten Zinnen auf der vorderen Gutshofmauer war abgebrochen, und die Flügel des Eingangstores unter dem hohen Bogen mussten dringend entrostet und neu gestrichen werden. Einfach alles musste dringend entrostet und neu gestrichen werden.

Eine Bruchbude, dachte Bonnie traurig. Marode, verwahrlost und nur noch durch blaublütigen Stolz zusammengehalten. Von Grund auf restauriert, könnte die ganze Anlage ein kleines, wenn auch seltsames Juwel werden. Was ihr an Gut Lieberthal gefiel, war die Unmöglichkeit, es nach all den Jahrhunderten der Kriege, Brände, Plünderungen und dem Wiederaufbau einer einzigen architektonischen Epoche zuzuordnen. Die Storkenburgs der letzten fünfhundert Jahren hatten auf Einheitlichkeit wenig Wert gelegt. Erweitert wurde im Stil der jeweiligen Epoche. So schufen die Gutsbesitzer im Laufe der Zeit ein architektonisches Mosaik, das für Architekturstudenten eine perfekt Examensaufgabe darstellte. Die kleine, marode Kapelle mit dem Riss in ihrem Tonnengewölbe und den dicken Mauerquadern war eindeutig romanisch, die Spitzbögen der Fenstereinfassungen im Verwalterhaus gotisch, wohingegen seine Stufengiebel der Renaissance entstammten. Barocke Kapitelle der kannelierten Säulen, ein klassizistisch schlicht gehaltenes Portal. Rundbogige Fenster mit spitzbogigen Einfassungen rahmten barocke Pfeiler, und das Stallgebäude auf der rechten Hufeisenseite der Gutsanlage war reines Fachwerk. Dunkle verwitterte Balken durchzogen grau verfärbten Putz.

Gleich bei ihrer Ankunft hatte sie es bis in die Haarspitzen gereizt, sich Malermeister Storcks Anhänger auszuleihen und den nächstgelegenen Baumarkt leer zu kaufen. Aber das Wohl des Gutes lag nun nicht mehr in ihrem Zuständigkeitsbereich. Sollte sich die Gräfin nebst Anhang ihren Raubvogelkopf zerbrechen. Sie, Bonnie, würde noch heute anfangen, ihre Sachen zu packen und sich mit Uschi in Berlin in Verbindung setzen.

Auf dem Pflaster des Hofes parkte dieselbe schwarze Limousine wie am Vortag. Der alte Herr namens Anton schien der Gräfin erneut seine Aufwartung zu machen. Sein Chauffeur hielt, wie gehabt, in tadelloser Haltung und schwarzem Anzug neben der Fahrertür Wache und würdigte sie keines Blickes.

»Du mich auch«, murmelte Bonnie böse und schleuderte in der Eingangshalle - die Storkenburgs sprachen vom Entree - die Gummistiefel von den Füßen.

Das Abstrafungskomitee empfing sie bereits dort unten. Die Gräfin, dürr und winzig, und wie am Vortag von Kopf bis Fuß in schwarzes Musselin und Brüsseler Spitze gehüllt, wartete in geradezu aristokratischer Pose am Fuße einer der beiden seitlichen Treppen hoch n die Beletage. Leonard, einen Arm um die Schultern seines Sohnes gelegt, der Rotz und Tränen heulte, versperrte Bonnie den Weg ins Esszimmer. Aus der Küche klapperte so penetrant das Geschirr, als wolle auch Helene ihre - wenn auch unsichtbare - Rolle in dieser Schmierentragödie herausstreichen.

»Darf ich fragen, was diese Aufmachung zu bedeuten hat?« Gräfin Wilhelminas scharfe Stimme verloren sich in der Akustik der großen Halle zu ungewohnter Piepsigkeit. Ihr kalter Blick nicht. Er umfing Bonnie von Kopf bis Fuß. Die ungekämmten kupfernen Locken, die vom Weinen rot geränderten Augen, die rote Nasenspitze, der Schlabberpullover, die hochgekrempelten Jeans und die dicken Wandersocken, die sie in den Gummistiefeln getragen hatte.

»Ich war spazieren«, entgegnete sie trotzig. »Oder ist das in euren Kreisen ebenfalls verpönt?«

»Durchaus nicht. In unserem Kreisen ist lediglich Liederlichkeit im Aussehen verpönt. Wie kannst du es wagen, dich ausgerechnet heute in einem derartigen ... Aufzug der Öffentlichkeit zu präsentieren? Du schadest damit der Reputation deines Mannes.«

»Du meinst, eine höhere Reputation macht ihn wieder lebendig?«, fragte Bonnie scharf zurück, während ihr schon wieder das Wasser in die Augen schoss.

»Sei nicht albern, aber die Storkenburgs haben einen ausgezeichneten Ruf zu verlieren, und ich werde dafür sorgen, dass nicht du es sein wirst, die ihn zerstört. Es wäre mir persönlich lieber, dich hinter verschlossenen Türen und Fenstern auf dem Gut zurückzulassen, aber es gehört sich nun mal, dass du im Bestattungsinstitut anwesend bist. Wenn du dich also auf deine Pflicht besinnen könntest, Helene hat dir passende Trauerkleidung auf dem Bett bereitgelegt. Und beeil dich bitte, die Limousine wartet bereits vor den Stallungen.«

»Na toll«, brachte Bonnie mühsam über die Lippen und wandte sich dann, weiß vor Zorn, Leonard zu. »Was ist mit dir, wolltest du mir ebenfalls noch etwas mitteilen?«

»Ja, will ich in der Tat. Wenn ich das nächste Mal höre, dass du meinen Jungen geschlagen hast, findest du dein Gepäck auf der Straße wieder. Noch vor der Beerdigung, damit das klar ist.« Seine Stimme grollte von den Wänden wider. Aus der Sicherheit seines Armes heraus grinste Robin sie hämisch am, bevor er erneut losheulte und sich die Wange hielt.

»Das kannst du dir sparen, ich reise freiwillig und mit dem größten Vergnügen ab. Aber falls dein missratener Sohn vorher noch einmal seine Zwille auf mich richtet, wird er schneller laufen müssen als heute. Wenn ich ihn erwische, bringe ich ihm bei, wie man in meinen Kreisen unverschämte Kinder bestraft. Also halt ihn von mir fern und jetzt gib mir gefälligst den Weg frei Bevor ich irgendwohin fahre, verehrte Gräfin Wilhelmina, werde ich mich an den Küchentisch da drin setzen und eine Tasse Kaffee trinken.« Sie trat, die Fäuste in die Seiten gestemmt, direkt auf Leonard und Robin zu, bebend vor Zorn und wild entschlossen, sie einfach über den Haufen zu rennen. Doch Leonard tat ihr den Gefallen nicht. Er wich in letzter Sekunde aus, den Filius am Kragen.

Die Gräfin in ihrem Rücken gab einen erstickten Ton von sich, der nur eines Vokals bedurfte, um das ganze Ausmaß ihrer Entrüstung preiszugeben. Leonard hingegen brüllte sie an: »Fang besser schon an zu packen, denn sobald sich die Gruft hinter deinem Trottel von Ehemann geschlossen hat, stehst du vor dem Tor.«

Sie fuhr herum und brüllte zurück. »Gut, okay! Das kommt mir ausgesprochen entgegen. Ich könnte es auch kaum aushalten, mit einer Intelligenzbestie wie dir unter einem Dach zu leben. Wie hoch sagst du ist dein IQ?«

Helene, wie immer scheu wie ein Reh, räumte gerade das einsame, nicht genutzte Gedeck vom zerkratzten Küchentisch, das wohl für sie, Quentins Witwe, gedacht gewesen war, und Bonnie war mit einem Satz neben ihr und riss ihr die leere Kaffeetasse aus der Hand. »Danke vielmals, dass du noch diese zwei Minuten hast warten können. Wirklich sehr zuvorkommend. Weißt du, Helene, in eure Familie eingeheiratet zu haben, wird mir auf ewig ein unauslöschliches Erlebnis bleiben. Survival-Training auf einem heruntergekommenen Rittergut. Klasse!« Sie füllte sich Kaffee aus der Glaskanne der Kaffeemaschine ein, ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf einen Stuhl plumpsen, stützte die Ellenbogen auf, die Tasse wenig kniggemäßig in beiden Händen, und verbrannte sich beim ersten Schluck den Gaumen. Nach Helenes hastiger Flucht aus dem Raum war der breite Kronleuchter mit den elektrischen Kerzen in eine sanfte Schwingung geraten. Bonnie folgte dem Hin und Her mit nassen Augen und wartete darauf, dass der Hypnotiseur endlich neben sie trat und sie mit einem Schnippen des Fingers aus diesem Albtraum in die Wirklichkeit zurückholte. Dass sie voll Energie und Vorfreude auf den Tag die Füße aus dem Bett schwang, aus dem Fenster ihrer Wohnung am Planufer sah und bei dem vertrauten Anblick des Landwehrkanals mit seinen Brücken und Schwänen drei Etagen tiefer erleichtert seufzte. Dass sie Uschi anrief und sich für den Abend mit ihr auf eine Pizza Frutti di Mare und ein Kristallweizen in der Pizzeria nebenan verabredete. Dass die Kollegen eine E-Mail auf den Weg schickten, der Betrieb in der Bücherei bräche ohne sie zusammen.

Dass sie einfach nur aufwachen und dann wieder neu einschlafen und neu träumen durfte. Eine neue Chance bekam. Doch es kam niemand, sie zu wecken. Der Albtraum ging weiter.

Ehre, wem Ehre gebührt

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