Читать книгу Ehre, wem Ehre gebührt - Charlie Meyer - Страница 6

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»Oberst und Polizeipräsident a. D. Anton Baron von Weißenstein«, lautete die gleichmütige Antwort des Chauffeurs auf Bonnies Frage nach dem Besitzer der Limousine. Mit seinem langen Pferdegesicht sah er Fernandel ähnlich, und dass er ihr tatsächlich antwortete, erstaunte sie. Hinter Gräfin Wilhelmina und Leonard in seinem zu engen schwarzen Anzug schloss sich gerade lautlos die Tür des Bestattungsinstitutes. Es lag inmitten der Fußgängerzone zwischen Juwelier und Hochzeitsausstatter in bester Gesellschaft. Unbedarfte konnten die Schaufensterdekoration auf dem weißen Spitzensatin durchaus für eine kostbare Sammlung Deckelvasen in künstlerisch zusammengestelltem Ensemble halten. Vor der silbernen Urne in der Mitte drapierte eine einzelne blutrote Rose, deren wie zufällig abgefallenes Blütenblatt neben der ansonsten prallen Blüte von matt glänzenden Perlen beweint wurde. Von echten Perlen, so wie es aussah.

Trotz Fahrverbot in der Fußgängerzone stieß sich die Obrigkeit nicht an der langen schwarzen Limousine des Barons vor dem Bestattungsinstitut. Zwei Politessen schlenderten plaudernd vorbei, die Blicke konzentriert in weite Fernen gerichtet. Über der Tür des Ladens stand in schnörkeliger Silberschrift lediglich Noblesse. In stiller aber panischer Verzweiflung suchte Bonnie nach einem Weg, nicht dort hinein zu müssen. Die Augen des Chauffeurs musterten sie emotionslos im Rückspiegel. Hoch erhobenen Kopfes stieg sie aus dem Wagen, ging die paar Schritte zur Eingangstür, und während sie noch mit sich kämpfte, öffnete sich die Tür von innen und der Inhaber des Bestattungsunternehmens Noblesse leitete Bonnie mit gekonnten Bücklingen in sein Institut.

Gräfin Wilhelmina und Leonard saßen auf zierlichen Stühlen mit geschwungen Beinen und empfingen sie schweigend.

Hingegen geriet die Begrüßungs- oder Einleitungsrede des Bestatters zu einer nicht enden wollenden Laudatio auf den Verstorbenen. Seine Plattitüden wie selbst im Tode noch ein Bild von einem Mann oder in der Blüte seiner Jahre aus einer Zukunft gerissen, wie sie nicht hoffnungsvoller hätte sein können, zerrten unerträglich an Bonnies Nerven. Sie versuchte wegzuhören, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber diese halbe Stunde im Bestattungsinstitut Noblesse geriet zu einer Tortur, die ihr nie aus der Erinnerung kommen sollte. Später führte die Gräfin die Verhandlungen. Sie erteilte die Anweisungen zur Beerdigung, bestimmte den Blumenschmuck und händigte dem Bestattungsunternehmer die Liste der Gebetenen für die Beisetzung aus. Hinz und Kunz waren unerwünscht. Bei dieser Gelegenheit besprach sie kurz mit Leonard die Gästeliste für das abendliche Buffet auf Gut Lieberthal. Sie wählte die Musik für die Trauerfeier aus, gab den Namen des gewünschten Pfarrers bekannt sowie die Hauptpunkte seiner Predigt.

Bonnie, unfähig auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, schluckte an dem Mühlstein in ihrem Hals und rang mühsam nach Fassung. Immer wieder schweiften ihre Blicke im Raum umher, wusste sie doch Quentin mit seinem zerschmetterten Hinterkopf in allernächster Nähe. Als die Gräfin entschied, es sei Zeit, Abschied von Quentin, Baron zu Storkenburg, zu nehmen, brach sie in ein derart verzweifeltes Schluchzen aus, dass es kam, wie es kommen musste.

Der eilends in den Laden zitierte Chauffeur mit dem Pferdegesicht brachte sie zur Limousine zurück und bugsierte sie auf den Rücksitz, wo er ihr eine Packung Kleenex in die Hand drückte. Währenddessen betraten die Gräfin und ihr bürstenhaariger Großneffe Leonard den das Aufbahrungszimmer. Als sie der Bestatter zehn Minuten später unter den Bücklingen des Bestatters auf die Straße geleitete, waren Bonnies Tränen versiegt, und sie hing nur mehr erschöpft in einer Ecke der Polster und ließ den stummen Tadel ebenso stumm über sich ergehen.

Es gab nichts mehr aufzubegehren. Was die Schicksalsgöttinnen und Wilhelmina Magdalena Elisabeth Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß bestimmten, wagte kein gewöhnliches Menschenkind infrage zu stellen. Ihr Zorn vom Morgen war zu einem Häufchen widerspruchsloser Hilflosigkeit zusammengeschmolzen. Ihr Kopf schmerzte, ihre Augen brannten und das Wollkleid juckte. Dann begannen auch noch ihre Kiefermuskeln zu zucken, so sehr presste sie die Zähne zusammen, aus Angst noch einmal vor der blaublütigen Verwandtschaft die Haltung zu verlieren. Mit knirschenden Zähnen hockte sie in ihrer Ecke der Limousine, als sie durch die verwinkelten Gassen der Altstadt mit ihren schiefen Fachwerkhäusern kurvten, während Leonard, der ihr auf der Bank gegenübersaß, demonstrativ zwischen Bonnie und Gräfin hindurch aus dem Rückfenster spähte. Einmal sah sie ein leises Lächeln über seine Züge huschen. Lebte er sich schon in seine neue Rolle als Rittergutsbesitzer ein?

Mit zusammengepressten Zähnen folgte sie ihm Minuten später auf den städtischen Friedhof. Gräfin Wilhelmina wartete im Auto, während Quentins grobschlächtiger Cousin mit knapper Handbewegung auf die schwere schwarze Grabplatte mit dem Familienwappen wies, die die Gruft der Storkenburgs abdeckte und von einem pathetisch blickenden Engel in menschlicher Größe bewacht wurde. Er war schon beinahe grün vor Patina und hielt das Wappenschild der Familie in Händen. Ein diagonal geteiltes Schild. Zwei gekreuzte silberne Lilien auf blauem Grund oben links, ein blauer Löwe auf Silber unten rechts. Über beidem ein Helm, den mächtige Federn zierten. Ein stolzes Wappen, das jedoch, wie der Engel, dringend einer liebevollen Aufbesserung bedurft hätte.

Hinter der Grabplatte ragte schwarzer Marmor in Form einer dreischiffigen Basilika auf, deren Mittelschiff die beiden nach außen hin schräg abfallenden Seitenschiffe um einen geschwungenen Spitzbogen überragte. Von allen drei Teilen leuchteten ihr in Goldgravur die Namen der in der Gruft unter der Grabplatte beigesetzten Mitglieder des Adelsgeschlechtes derer von Storkenburg entgegen. Das älteste Begräbnis datierte aus dem Jahr 1832. War nicht Goethe in dem Jahr gestorben? Ob die Kollegen in der Lichtenrader Bücherei manchmal an sie dachten? Bonnie schluckte und zwang sich, auch die anderen Daten und Namen zu lesen, aus Pietät vor den Verstorbenen oder weil sie dachte, Leonard und die Gräfin erwarteten dies von ihr - sie wusste selbst nicht warum. Sie umklammerte die Spitzen des schmiedeeisernen Gitters, das die Grabstelle weiträumig umgab und in dem in regelmäßigen Abständen und abwechselnd die beiden Heroldsbilder des Wappenschildes auftauchten: Lilie und Löwe als Symbole von Reinheit und Wehrhaftigkeit. Wo ruhten diejenigen, deren Todesjahr vor 1832 lag? In der Gruft unter der maroden Gutskapelle? Sie war nie über die Absperrung gestiegen aus Angst, die Kapelle krache just in diesem Moment in sich zusammen.

Die Namen der toten Frauen und Männer auf den drei Marmorplatten der Basilika lasen sich wie der Index eines Adelsverzeichnisses. Bonnie fiel auf, das vor Quentin kein einziger Spross der Familie Storkenburg, egal ob Männlein oder Weiblein, unter seinem Stand, sprich eine Bürgerliche oder einen Bürgerlichen, geheiratet hatte. Möglicherweise hielten sie sich aus diesen Kreisen Liebhaber oder Mätressen, doch geehelicht wurde ausnahmslos adlig. Mit mit dem Namen Laetitia Eulalia, Baronin von Storkenburg, geborene Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß gesellte sich zu der Schar niederer Freifrauen und Baroninnen, Freiinnen und Baronessen 1938 so etwas wie Hochadel. Quentins Großmutter lag also hier, die lächelnde junge Frau vom Ölbild im Damensalon, Gräfin Wilhelminas Schwester, die nur Monate nach der Geburt von Quentins Mutter an Schwindsucht gestorben war. Die letzten beiden Namen auf den Marmortafeln lauteten Roland von Storkenburg und Justus von Storkenburg, Quentins und Leonards Väter also, die Zwillingsbrüder.

Quentins Mutter lebte vielleicht noch, aber laut Quentin wurde auf Gut Lieberthal eher kollektiver Selbstmord begangen als ihr Name ausgesprochen. Elisabeth von Storkenburg, geb. Freiin von Rosenthal, war kurz nach dem vierten Geburtstag ihres einzigen Sohnes am Hohenfurter Bahnhof mit leichtem Gepäck - dem Familienschmuck - in einen Zug gestiegen und an irgendeinem Schnittpunkt des europäischen Schienennetzes wieder ausgestiegen, um mit zweiundzwanzig Jahren ein neues, ein gräfinnenloses Leben zu beginnen. Bonnie konnte es ihr nicht verdenken. Übel nahm sie ihr allerdings, einen so kleinen, leicht beeinflussbaren Knaben zwischen den Zähnen des Drachen zurückgelassen zu haben. Obgleich offenbar ein Teil der gräflichen Erziehung einfach an ihm abgeprallt sein musste. Der Teil mit dem Dünkel beispielsweise.

Als sie sich nach Leonard umdrehte, marschierte er bereits wieder den Hauptweg zum Friedhofstor hinunter, vor dem, schwarz, fett und makellos poliert, die überlange Limousine parkte. Bonnie, so plötzlich allein zwischen den Gräbern, starrte der gedrungenen Gestalt mit den hängenden Schultern nach und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihm alle Charaktereigenschaften fehlten, Quentins Platz als Gutsherr des Rittergutes Lieberthal auszufüllen. Er wies absolut nichts auf, was ihn zu einem Repräsentanten einer stolzen Dynastie befähigte. Weder Charme, noch Selbstbewusstsein, weder Redegewandtheit noch Menschenkenntnis. Vor allem kein Quentchen Humor. Quentin war es ein Leichtes gewesen, Menschen jeglicher Couleur und Herkunft um den Finger zu wickeln und mit ihnen zusammen zu lachen. Leonard würde ihnen auf die Füße treten mit seinen klobigen Gummistiefeln, die für schlammige Felder, nicht jedoch für das Parkett der Diplomatie gedacht waren.

Sie beobachtete, wie er sich schwerfällig auf den Beifahrersitz der Limousine zwängte, und fragte sich plötzlich, warum keiner von beiden neben ihr stand. Steckte eine Absicht dahinter? Sollte sie vielleicht sogar öffentlich zur Schau gestellt werden als die komische Witwe, über die man schon seit Wochen tratschte. Quentins Mesalliance? Wollte man sie der Lächerlichkeit preisgeben in ihrem schwarzen Wollkleid mit dem unmöglichen Hut?

Was sollte sie hier? Mit dem Engel Zwiesprache halten und ihm sagen, dass seine grünen Patinaflügel dringend einer Bürste bedurften? Sich bei den aristokratischen Geistern, die sie jetzt sicherlich aus angemessener Entfernung missbilligend musterten, dafür entschuldigen, Quentin - einen Adeligen hoch über ihren eigenen Kreisen - zu sich herabgezogen zu haben? Einen naiven unbedarften Landjunker bezirzt, verführt und schließlich soweit verhext zu haben, dass er sie in einem Anfall geistiger Umnachtung ehelichte? Von einer Sekunde zur anderen beobachtete sie sich selbst, wie sie da vor dem mit einer dicken Kette gesicherten Tor der Grabstelle stand und die Namen anstaunte. Aber war das wirklich sie, diese Frau mit dem verschwollenen Gesicht, in diesem formlosen schwarzen Wollkleid mit schwarzem Spitzenkragen, das in Schnitt und Kragen fatal dem der Greisin in der Limousine ähnelte? Dieses eingeschüchterte Wesen mit den kupferroten Locken, die sie auf Befehl einer Fremden, die ihr gar nichts zu befehlen hatte, unter einem altmodischen Pott von Hut hochgesteckt trug, damit sich niemand in der Trauer an dem Rot störe? Trug sie wirklich ein Kleid von Helene, einen Hut von Helene, eine dicke, schwarze Strumpfhose von Helene und diese soliden schwarzen Birkenstock-Halbschuhe von Helene? Erst brüllte sie sie in der Küche an, weil sie ihr die Kaffeetasse vor der Nase abräumte, dann ließ sie sich von derselben Person widerstandslos als Aschenputtel verkleiden. Kaum zu glauben. Seit Quentins Unfall spielten ihre Emotionen verrückt. Manchmal, von einer Sekunde zur anderen, rettete sich ihr Geist aus der grausamen Wirklichkeit in ein Paralleluniversum hinüber, in dem es keine Schmerzen gab. Ihr Körper blieb und ließ sich willenlos herumschubsen. In diesem Augenblick jedoch, als sie sich als die schwarze hässliche Krähe mit diesem schrecklichen Pott auf ihrem rotem Kopfgefieder sah, zu der sie geworden war, fragte sie sich, ob ihr Geist nicht schon für immer umgezogen war. Vielleicht hatte er nur eine Marionette zurückgelassen, deren Fäden eine stolze alte Frau mit mittelalterlichem Ehren- und Moralkodex in ihren Fingern hielt.

Bonnie atmete tief durch.

»Ihr könnt mir kreuzweise den Buckel runterrutschen«, sagte sie ruhig.

Sie war das nicht, dieses gebrochene, kleinmütige und schwarz gewandete Wesen vor dem Grab. Das war nicht die Bonita Alvarez aus Berlin. Nicht einmal ein Abklatsch von ihr. Nur ein verkleideter, willenloser Klon, der eine ganze Familie auf sich herumtrampeln ließ, nur weil ihn der Tod ohnehin schon zu Boden gezwungen hatte. Sie war beileibe keine Schönheit mit dem breiten Mund und den Pfunden zu viel auf den Hüften, aber unter dicken Schichten schwarzer Wolle verstecken, brauchte sie sich nun wirklich nicht. Vor allem aber hatte sie es nicht nötig, ihre Trauer um Quentin mit irgendwelchen veralteten Ritualen wie schwarz tragen in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Und weiterhin seine bösartige Familie auf sich herumtrampeln zu lassen, war nichts als eine charakterlose Manifestation ihres Selbstmitleides.

»Dann wollen wir mal!« Sie blickte grimmig den Patinaengel an, und der schaute aus seinem grünen Gesicht so duldsam zurück, dass sie ihn am liebsten getreten hätte. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie den Weg zum Tor zurück mehr rannte, als ihrer Trauer entsprechend würdig schritt. Fernandel, der Chauffeur, riss ihr unbewegten Gesichtes die Fondtür der Limousine auf. Bonnie dankte stumm nickend, beugte sich in den Wagen und angelte nach ihrer Umhängetasche auf dem Sitz.

»Darf ich fragen ...«, setzte die Gräfin eben an, als ihr Bonnie mit einer unwilligen Handbewegung das Wort abschnitt und Leonard anfauchte, der verblüffend reaktionsschnell ebenfalls nach der Tasche langte.

»Wenn du sie auch nur mit deinem kleinen Finger anrührst, Cousin Leonard, dann werde ich bei der Beerdigung einen Skandal provozieren, von dem sich euer blaues Blut bis zum Sankt Nimmerleinstag nicht mehr erholt. Ich könnte strippen. Ich könnte durchsickern lassen, wir beide, du und ich, hätten ein Verhältnis.« Sie stockte. »Nein, auf das Zweite verzichte ich dankend, aber irgendetwas Nettes wird mir schon einfallen. Also lass die Finger von der Tasche! - Und Sie verziehen sich gefälligst wieder hinter Ihr Lenkrad, Herr Chauffeur!« Er stand noch immer hinter ihr, aber wie zufällig näherte sich seine Hand ihrem Ellenbogen. Bei ihren Worten zog er rasch die Finger zurück und entfernte sich rückwärts, aber in seinen traurigen Hundeaugen blitzte es amüsiert auf.

Bonnie schlug vor der Hakennase der Gräfin die Fondtür zu, aber unmittelbar danach senkte sich lautlos die getönte Scheibe ab, und die Hakennase tauchte wieder auf. Empört zitternd.

»Hat dein seltsames Gehabe einen triftigen Grund oder beabsichtigst du uns lediglich zu brüskieren? Ich befehle dir, auf der Stelle wieder einzusteigen. Du verursachst bereits jetzt einen Skandal.«

»Ich werde einkaufen gehen, Gräfin«, entgegnete Bonnie mit fester Stimme. »Und zwar allein. Zum Gut zurück nehme ich den Bus oder ein Taxi. Vielleicht trampe ich auch oder leihe mir in der Stadt das nächstbeste Fahrrad auf. Auf Wiedersehen, und ich hoffe, nicht so bald.«

Sie blickte sich nicht um, als ihr die Limousine im Schritttempo die Friedhofsstraße hinunterfolgte, die Hakennase der Gräfin noch immer im offenen Fenster. An einem Zebrastreifen wechselte sie vor dem silbernen Kühlergrill mit der zierlichen Galionsfigur die Seite und tauchte in das Grün eines Parks ab. Nachdem sie eine Weile kreuz und quer durch den Park gehetzt war, auf ihrer Flucht vor der Realität, blieb sie keuchend vor Atemlosigkeit neben einer Bank stehen. Nein, dachte sie, nicht setzen, nicht denken und trauern, sich ablenken und handeln. Die Lähmung überwinden, wieder die aktive Frau werden, die sie vor ihrer Ankunft in diesem Restposten des Mittelalters gewesen war. In ihr eigentliches Ich zurückschlüpfen, und die Dämonen aus ihrem Kopf vertreiben.

Unter den befremdlichen Blicken jener Hohenfurter und Touristen, die die Zeit fanden aufzublicken zwischen ihrem Gehetze vom Bäcker zum Friseur oder vom Museum zum Mittagessen, hetzte sie mit heißen Wangen die Fußgängerzone hinunter. Als sie ein Bekleidungsgeschäft fand, dessen Schaufensterauslagen dem Kreditrahmen ihres Kontos angemessen schienen, blieb sie aufatmend stehen. In Berlin hätte man sie vielleicht für einen Grufti mit Geschmacksverirrung gehalten und nicht weiter beachtet. In einer Kleinstadt wie Hohenfurt jedoch würde sie, so wie sie augenblicklich herumlief, als Anblick des Jahres in die Annalen eingehen. Schlimmer noch: als Helenes Klon.

Sie hoffte inbrünstig, niemand möge sie von ihren Spaziergängen und Shopping-Touren mit Quentin wiedererkennen. Doch plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie in den zwei Monaten ihrer Ehe kaum Bekanntschaften geschlossen hatte. Seit ihrer Ankunft hatte es auf Gut Lieberthal keine Einladungen gegeben, ergo war sie auch nicht zu Gegenbesuchen eingeladen worden. Aber auch die wenigen Male, die sie mit Quentin durch die Fußgängerzone geschlendert war, hatten sie selten jemanden getroffen, mit dem er ein paar Worte wechselte. Oder sie als seine frisch gebackene Ehefrau vorstellte. Namentlich und per Handschlag kannte sie nicht mehr als vier oder fünf Hohenfurter, ohne den Eindruck gewonnen zu haben, es handele sich um enge Freunde ihres Mannes. Oder überhaupt um Freunde. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob er vielleicht gar keine gehabt hatte.

Nachdenklich zwängte sie sich an hastenden Hausfrauen, müßigen Touristen und Ständern der neusten Kollektion Hohenfurter Wintermäntel vorbei, und bedachte die wenigen Leute, die sie kritisch musterten, mit ihrem grimmigsten Blick. Aufrecht bleiben, Bonita, nur keine Schwäche zeigen. Allerdings knickte ihr Stolz dann doch ganz schnell ein, als sie der Blick eines großen, schlaksigen Mannes streifte, der auf einem der runden Ständer vor den Umkleidekabinen die Blusen Karussell fahren ließ. Er blickte auf, als sie sich näherte, und es war diese schnelle Abfolge unverhüllter Emotionen auf seinem Gesicht, die ihr die Schamröte in die Wangen trieb. Offenbar hatte er jemand anderes erwartet. Seine Frau vielleicht, die aus einer der Umkleidekabinen trat, sich endlich für eine der Blusen entschieden hatte und Komm Schatz, wir gehen sagen würde. Daher spiegelte seine Miene im ersten Moment pure Erleichterung wider. Als er seinen Irrtum bemerkte und stattdessen einer schwarzen Krähe mit grimmigem Blick gegenüberstand, entgleisten seine Züge in unverhohlenes Entsetzen.

»Gütiger Himmel«, stammelte er mit dröhnendem Bass und hielt den Blusenständer abrupt an. Er trug Jeans und ein weißes Hemd, und das blauschattige Kinn mit den schwarzen Stoppeln ließ vermuten, dass er schon seit Tagen vergeblich nach seinem Rasierapparat suchte. Seine glatten Haare waren pechschwarz, nachlässig aus der gebräunten Stirn nach hinten gekämmt und hingen ihm bis auf die Schultern. Bonnies erster Eindruck war der eines großen, ungepflegten und sehr müden Mannes, dem ohne ihr schockierendes Auftreten binnen Sekunden die Augen zugefallen wären.

Drei Tage durchgefeiert, dachte sie mit einem Anflug von Neid und schob das Kinn nach vorn. »Und?«, fragte sie patzig. »Noch nie einen Grufti gesehen oder gibt es in Hohenfurt keine Exoten wie uns? Sollten Sie vorhaben, vor Schreck umzukippen, muss ich Sie warnen. Mein Erste-Hilfe-Kurs liegt schon Jahre zurück. Wenn ich jetzt mal bitte an die Blusen dürfte?«

»Grufti?« Er stolperte rückwärts. »Großer Gott, tut mir leid, ja ... ich meine nein, ... ich meine doch natürlich, aber noch keinen Grufti mit einem derartigen ... Pott auf dem Kopf!«

Ihre Hand zuckte nach oben, doch dann ließ ihr kläglicher Rest von Stolz nicht zu, dass sie sich vor seinen Augen den grässlichen Hut von den Haaren riss. Sie beschied ihn lediglich mit einem wütenden Blick, während sie sich in Gedanken in den Allerwertesten trat. Hätte sie nicht wenigstens den Hut abnehmen und die schwarzen wollenen Strümpfe ausziehen können, bevor sie sich in Hohenfurts beliebteste Einkaufsstraße wagte? Doch dann lächelte sie majestätisch und widmete sich den Blusen. Hier kam Aschenbrödel, die Filzpantoffeln der bösen Stiefschwester gegen einen gläsernen Schuh auszutauschen.

Der Mann hinter ihr räusperte sich und versuchte vergeblich seinem dröhnenden Bass ein Flüstern aufzuzwingen. Seine Worte dröhnten durch den Verkaufsraum, und etliche Köpfe wandten sich zu ihnen um.

»Entschuldigen Sie, ich vermute, Sie sind in Trauer und ... und so. Ich meine, Herr Jesus, wo habe ich nur meine Manieren, mein herzliches Beileid, ich wollte ihnen bestimmt nicht auf die Füße treten, aber finden Sie Ihr Outfit nicht etwas übertrieben. Ich meine selbst für einen Grufti ... Dieser ... na ja, ich weiß nicht, wie ich ihn bezeichnen soll.« Er deutete auf ihren Hut, und Bonnie beschlich das ungemütliche Gefühl, er provozierte sie bewusst, um die Umstehenden zu unterhalten. Vielleicht war er einer dieser Möchtegernkomiker, die auf Kleinkunstbühnen auftraten. Seine schwarzen Augen funkelten vor Willkür. »Glauben Sie bitte nicht, ich möchte sie anbaggern, was bei einer trauernden Frau natürlich mehr als unpassend wäre, aber …«

»Dann lass es und halt die Klappe, Schatz!« Eine langbeinige Blondine in weißem Hosenanzug trat aus einer der Umkleidekabinen und pfefferte ihm einen Push-up-BH vor die Brust. »Du zahlst.«

»Sicher«, seufzte er und zwinkerte Bonnie zu. »Ich bin ja auch von uns beiden der Krösus. Wiedersehen. Äh - vielleicht versuchen Sie es mal mit einem Kleiderstoff, der nicht von allein steht. Ein netter Sommerstoff. Crêpe de Chine oder Satin oder so. Und nehmen Sie den Nachttopf vom Kopf.« Ein feister Mann in ihrer Nähe verschluckte sich vor Lachen.

»Wieso nicht gleich Seide?«, fragte sie bissig zurück, wütete gegen sich selbst für dieses mickrige, einfallslose Gegenfeuer und wünschte sich eine Pumpgun in Händen.

»Nein, keine Seide. Seide ist etwas für alte, verknöcherte Gräfinnen.«

Während Bonnie entgeistert seinem schmalen, ein wenig gebeugten Rücken nachstarrte, zog ihn die Blondine energisch zur Kasse. Bonnie war ihr überaus dankbar, obgleich sie Frauen, die in Kleidung und Aussehen Barbie idealisierten, nicht ausstehen konnte. Aber immerhin hatte diese Barbie ihren Ken fest im Griff.

Bonnie wählte mit moralischer Unterstützung ihrer Umkleidekabinennachbarin ein schwarzes Hemdblusenkleid aus, das Oberteil mit schmalen silbergrauen Streifen, der Rock glockenförmig ausgestellt. Ein breiter silbergrauer Gürtel betonte ihre Taille. Nach der Beerdigung würde sie das Kleid mit farbigem Gürtel und Halstuch kombinieren können. Sie fand noch einen engen schwarzen Rock, der auf die Hälfte herabgesetzt war und eine Handbreit über den Knien endete. Dazu eine Bluse, dessen gedämpfter Grünton hervorragend mit ihren roten Locken kontrastierte. Rock und Bluse behielt sie gleich an und ließ das Hemdblusenkleid, Helenes furchterregendes Wollkleid mit dem Spitzenkragen, den grässlichen Hut und die dicke Strumpfhose einpacken. Zum Abschied fragte sie die Verkäuferin nach einem Schuhgeschäft und verließ erleichtert den Laden. Die Zeiten, in denen trauernde Witwen ein Jahr lang in Sack und Asche durch die Straßen schlichen, waren gottlob vorbei. Die Seelenqualen Trauernder gingen niemanden etwas an.

Der Schuhverkäufer konnte sein gequältes Lächeln nicht schnell genug verstecken, als Bonnie Helenes solide Treter von den Füßen streifte und gegen elegante Pomps eintauschte.

In der warmen Mittagssonne setzte sich Bonnie in ein Straßencafé, dorthin, wo sie dem Trubel am nächsten war und bestellte Lauchcremesuppe mit frischem Baguette. Obgleich sie seit vierundzwanzig Stunden keinen Bissen mehr zu sich genommen hatte, musste sie Löffel für Löffel zum Mund zwingen. Ihr schmerzender Magen rebellierte, sie drohte vor Schwäche zu kollabieren, doch ein kleiner boshafter Wicht hinter ihrer Stirn verweigerte ihr die Nahrung. Tote konnten schließlich auch nicht mehr essen.

Was willst du eigentlich?, dachte sie gleich darauf. Dich zu Tode hungern, um gemeinsam mit Quentin begraben zu werden?

Quentin! Sein Lachen! Wieder schoss ihr das Wasser in die Augen, und ihre Umgebung verschwamm hinter dem Tränenschleier. Sie krallte sich die Fingernägel in die Hand, um nicht laut loszuheulen. Als die Sicht wieder klarer wurde, versuchte sie sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.

Die Fußgängerzone rahmten hohe, schmale Fachwerkhäuser mit steilen Giebeln. Verspielte Erker, Verzierungen und in die Giebelbalken geschnitzte Sprüche wechselten mit schnörkellosen Fassaden. Kein Haus glich dem anderen, kein Giebel endete auf der Höhe seines Nachbargiebels. Keiner der verzierten Türstürze fand seinen Zwilling, kein Fachwerk glich in seiner Anordnung schwarzer Balken und weißer Gefache dem Haus nebenan. Keine der Inschriften in den Balken über den Türen wiederholten sich. Gottesfürchtige Sprüche in Niederdeutsch, die Namen der Erbauer, das Zeichen ihrer Zunft - Dat is Timmermann - erbaut im Jahre des Herren Anno Domini 1413 oder 1543 oder wann auch immer. Darüber und darunter geschnitzte Fächerrosetten, Puttenköpfe, szenische Darstellungen biblischer Geschehnisse. Die Musen, die Tugenden, die vier Evangelisten und Christus selbst, geschnitzt, gemalt und kommentiert. Die Eckhäuser an den Einmündungen der schmalen Kopfsteinpflastergassen in die Fußgängerzone hielten sogar mit zwei reich geschmückten Giebelseiten Hof, wobei auf jeder Seite das jeweils höhere Stockwerk das darunterliegende um eine Handbreit überragte.

Ein paar Backsteinhäuser im für die Gegend typischen Stil der Weserrenaissance durchbrachen das mittelalterliche Bild hie und da. Dort, wo Brände Lücken hinterlassen hatten, vermutete Bonnie und kniff die Augen gegen das gleißende Sonnenlicht zusammen. Pilaster und Säulen mit dorischen, korinthischen, oder ionischen Kapitellen zierten die reich gegliederten Giebel mit ihren filigranen Seitenbegrenzungen. Waagerechte Bänder, schwere Gesimse und Frieszonen lockerten die massiv wirkenden Stockwerke unter dem Giebel auf.

Gemauerte, im Zickzack angeordnete Blumenrabatten mit noch bunter Sommerbepflanzung - Männertreu, Levkojen und Margeriten - ließen die triste Betondecke der Fußgängerzone freundlicher erscheinen. Das Kopfsteinpflaster war schon in den fünfziger Jahren herausgerissen worden, allerdings mehr durch ein peinliches Missverständnis. Quentin hatte ihr die Geschichte erzählt, als sie zum ersten Mal Arm in Arm durch die Fußgängerzone schlenderten.

Eine Amerikanerin war auf dem Kopfsteinpflaster umgeknickt und hatte sich den Fußknöchel gebrochen. Im Krankenhaus stellte sich heraus, das es Mabel Eisenhower war, die kleine Schwester von Dwight D., also reichte der Commander der Fourth Division aus den Boston Baracks des nahe gelegenen Kasernenstützpunktes offiziell Beschwerde bei der Stadt ein. Der Stadtrat schicke ein Entschuldigungstelegramm ins ferne Amerika. Das Pflaster, auf dem Mabel Eisenhower umgeknickt war, wurde herausgerissen und durch flache Steine ersetzt. Wochen später kam eine Antwort. Amerika akzeptiere die Entschuldigung der Hohenfurter Stadtväter und hoffe, dass nicht noch eine Amerikanerin zu Schaden komme. Darüber hinaus aber fühle es sich aus pädagogischen Gründen verpflichtet, Deutschland und den in Deutschland stationierten GI’s mitzuteilen, dass Dwight D. Eisenhower keine Schwester namens Mabel habe.

In höheren Kreisen sprach man nicht gern über diese Peinlichkeit, aber im Volksmund hatte sich eingebürgert, man gehe auf der Mabel einkaufen. Man treffe sich auf der Mabel in dem und dem Lokal. Man parke in einer Seitengasse der Mabel.

Bonnie ließ gedankenverloren die Blicke schweifen und zwang Löffel für Löffel an die Lippen. Nach der Suppe ließ das innere Zittern ein wenig nach. Sie bestellte sich einen Kaffee und knabberte an dem harten süßen Keks, der neben der Tasse auf dem Unterteller lag. Eine Touristengruppe blieb schräg gegenüber stehen, die Rücken zu ihr, die Gesichter nach oben gerichtet, und sie lauschte mit halbem Ohr den Erklärungen des Stadtführers, der auf ein gelb gestrichenes Fachwerkhaus deutete und irgendetwas von einem gotischen Treppenfries im Tragbalken erzählte, von grünen Dachreitern und neuzeitlichem Schnitzwerk. Von Muschelornamenten und Schmuckbalken mit Drachen und medusenartigen Menschenhäuptern, von vorkragenden Obergeschossen und obeliskenartigen Säulchen. Die gesamte Altstadt sei in den siebziger Jahren restauriert worden, erklärte er mit der Gleichgültigkeit eines Routiniers, der gerade den zehntausendsten Touristen durch die Straßen führt. Dann senkten sich aller Augen und Köpfe wieder, und die Gruppe schob sich weiter.

Bonnie fühlte sich einsamer denn je. Ausgeschlossen von dem bunten Treiben, zum Zuschauen verdammt und ohne Hoffnung auf die Zukunft. Sie zahlte mit fahrigen Bewegungen, sprang auf und stürzte sich entschlossen in die Menschenmenge. Die Beerdigung war bereits in zwei Tagen. Mittwochmorgen zehn Uhr, die formelle Trauerfeier mit geladenen Gästen und einem kalten und warmen Buffet vom Catering Service am selben Abend im Ballsaal von Gut Lieberthal. Es wurden einhundertfünfzig Gäste erwartet, und niemand hatte sie gefragt, ob es ihr recht sei. Die Gräfin hatte beschlossen, und so ward es Gesetz. Die Honoratioren von Hohenfurt - in ihrer Zahl eher unbedeutend - sahen sich ebenso gezwungen, ihre schwarzen Anzüge auszubürsten wie die Verwandtschaft und der befreundete Adel.

Einfach abhauen, dachte Bonnie voll Verlangen, jetzt, auf der Stelle. Fersengeld geben. In den nächstbesten Zug springen.

Aber diesen letzten Triumph gönnte sie weder der Gräfin noch dem Rest von Quentins dünkelhafter Verwandtschaft. Sie würde das Begräbnis mit Würde durchstehen, aber auf der abendlichen Trauerfeier mit Buffet durften sie ihrethalben eine schwarz gekleidete Schaufensterpuppe in einen der Fauteuils entlang der Spiegelwände platzieren. Oder einen Clown engagieren, der die Gäste mit den von ihr erwarteten Showeinlagen unterhielt, sich Champagner ins Gesicht spritzte und über die eigenen Füße stolperte. Vielleicht den Clown aus dem Kaufhaus mit seiner Barbiepuppe. Die Witwe jedoch würde auf der Party ihren Auftritt versäumen, weil sie in ihre Kreise zurückkehrte.

In einem kleinen geduckten und schmucklosen Fachwerkhaus, dem einzigen in der Zeile, dem ein Stockwerk fehlte und das sich ausnahm wie ein Bettler unter Krösussen, fand sie ein Reisebüro. Ein melodisches Glockenspiel kündigte ihren Eintritt an, und sie kaufte für Mittwoch eine Rückfahrkarte nach Berlin, Abfahrt dreizehn Uhr dreißig. Morgen würde sie die gepackten Koffer in der Gepäckaufbewahrung des kleinen Bahnhofs abliefern und sich gleich nach der Beerdigung ins nächstbeste Taxi werfen.

Als sie am Bestattungsinstitut vorbeikam, stockte ihr Schritt. Quentin lag hinter der Schnörkelschrift Noblesse und den cremefarbenen Jalousien. Durch ihre Auflehnung und den Kaffee gestärkt, spielte sie tatsächlich mit dem Gedanken, dem Tod nun doch noch gegenüberzutreten. War es nicht einfach nur bequem und feige sich zu drücken? Hätte Quentin gewollt, dass sie sich überwand? Jetzt könnte sie es tun, Abschied nehmen, und zwar ohne Beisein der Gräfin. Ohne Leonards spöttische Blicke im Rücken. Niemand würde sehen, wenn sie die Fassung verlor und wie ein Schlosshund losheulte. Niemand würde es hören, wenn sie Quentin beschimpfte, weil er für den Preis einer goldenen Taschenuhr sein Leben verspielt und sie im Kreis seiner unmöglichen Familie allein zurückgelassen hatte.

Die Tür mit der herabgelassenen Jalousie spiegelte ihre Gestalt wider. Eine mittelgroße, nicht ganz schlanke Frau mit roten Locken in grüner Bluse und schwarzem Rock. In einer Hand die vollgestopfte Papiertragetasche des Modegeschäftes, in der anderen eine Plastiktüte mit Helenes soliden Tretern im Schuhkarton. Trotz wild klopfenden Herzens musste sie lächeln. Eine junge Witwe, die mal eben zwischen Kaufhaus und Kaffee ihren toten Mann besichtigen geht. Ich war gerade in der Nähe, Schatz, und da dachte ich, ich schau einfach mal vorbei ...

Sie stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und betrat hoch erhobenen Kopfes das Büro des Bestatters mit seiner silbergrauen Polstergarnitur auf lindgrünem Teppichboden. Ein fünfarmiger Kronleuchter aus Glasplättchen hing tief herab. Der schmächtige Mann hinter dem Schreibtisch sprang auf die Beine und hastete um seinen Arbeitsplatz herum. Es war nicht der schwatzhafte Chef, und der große Stein auf ihrem Herzen bröckelte ein wenig.

»Gnädige Frau, womit kann Ihnen das Institut Noblesse dienen?« Er hörte sich an wie ein Kosmetikberater, und während er dienerte, blickte er irritiert auf die Plastiktüten.

»Ich möchte zu meinem Mann«, stieß Bonnie hervor.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber zurzeit ist niemand außer meiner Wenigkeit anwesend. Ich nehme an, Sie wollten sich mit Ihrem Gatten bei uns treffen, um die Bestattung Ihres Herrn Vater oder Ihrer Frau Mutter zu regeln? Ich kann Ihnen versichern, die lieben Verschiedenen werden bei uns in den besten Händen sein und ...«

Sie unterbrach ihn mit heftigem Kopfschütteln, und er zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Nein«, stieß sie heiser hervor. »Nein, es geht nicht um meine Eltern. Ich ... was ich wollte ist ... ich meine, mein Mann ist da hinten ...« Ihre Stimme versagte, und bevor sie erneut hilflos in Tränen ausbrach, schob sie mit einem gepressten Tschuldigung schniefend den verdutzten Bestattergehilfen zur Seite und drückte die Klinke einer Tür hinunter, dessen schwarz gerahmtes Inlett das Relief einer brennenden Kerze zierte.

Der Angestellte packte sie am Ärmel, aber sie schüttelte seine Hand ab und fuhr herum.

»Quentin von Storkenburg ist mein Ehemann«, brachte sie mühsam über die Lippen, hörte seine gestammelte Entschuldigung und riss die Tür auf. Die Flammen der vier weißen Kerzen in ihren silbernen Haltern an den Ecken des Sarges flackerten im Luftzug und eine verlosch. Quentin lag in einem Rosenholzsarg auf weißem Damast und hielt eine weiße Lilie zwischen den gefalteten Fingern. Die weiße Kappe, die seinen zerschmetterten Hinterkopf bedeckte, hob sich vom Spitzenkissen kaum ab. Er trug einen schwarzen Smoking mit Samtaufschlägen und eine schwarze Fliege auf weißem Hemd. Wangen und Lippen blühten wie nie zuvor im Leben, seine Stirn schien braun gepudert, aber das Schlimmste war, dass er lächelte. Er lächelte, als sie sich mit einem Herzen näherte, das jeden Moment zu zerspringen drohte. Er lächelte, als sie neben ihm stand. Er lächelte immer noch, als sie sich zaghaft über ihn beugte und ihm fassungslos ins Gesicht starrte. Das sollte Quentin von Storkenburg sein? Ihr Quentin? Sie starrte auf das verzerrte Lächeln, die angemalten Lippen und die getuschten Wimpernfächer der geschlossenen Lider. Sie starrte auf seine angemalten Apfelbäckchen, runde, rote Rougeflecken rechts und links der Nase, und das wütende, hilflose Entsetzen raubte ihr das letzte Bisschen Fassung. Sie fuhr zur Wand herum und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die mit weißem Damast bespannte Mauer.

»Alles in Ordnung?«, fragte die Stimme des Angestellten dumpf durch die Tür.

»Alles bestens!«, brüllte sie außer Kontrolle zurück. Der Angestellte schien ihr dann auch nicht zu glauben. Sekunden später hörte sie jenseits der Tür aufgeregtes Murmeln und wusste, jetzt telefonierte er mit seinem Chef. Oder mit der alten Schreckschraube von Gräfin. Oder mit den Männern vom Landeskrankenhaus und riet ihnen, eine Zwangsjacke mitzubringen.

Raus, dachte sie, nichts wie weg. Doch gegen ihren Willen wandte sie sich noch einmal um und blickte auf das fremde Wesen, das Quentin sein sollte.

»Nicht böse sein, Liebling, wo immer du jetzt auch bist«, flüsterte sie, während ihr kalte Schauer den Rücken hinunterliefen, »der Kerl da im Sarg bist du jedenfalls nicht. Das ist nur ein grotesk geschminkter Clown, der mich täuschen soll. Ein grinsender Zombie.« Sie biss sich auf die Lippen und kämpfte gegen das Schluchzen an. »Wie konnten dir diese Idioten so etwas nur antun?«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte aus dem Aufbahrungsraum. Der Angestellte im Büro blickte von seinem Telefongespräch alarmiert auf. Die Tür fiel ihr aus der Hand, und als sie den ganzen Bogen beschrieb und gegen die Wand neben dem Rahmen krachte, erloschen die noch brennenden Kerzen am Sarg. Bei dem Krach ließ der Mann den Hörer sinken und etwas wie Grauen breitete sich in seinen Zügen aus. Fürchtete er die Rache des in seiner Ruhe gestörten Toten? Oder die Rache einer erbosten Gräfin, die ihm die Schuld in die Schuhe schob. Bonnie nahm sich keine Zeit für Erklärungen. Sie sauste an ihm vorbei. Raus aus dem Laden, weg vom Zombie. Die Plastiktüte mit Helenes Schuhen fiel ihr aus der Hand, als sie die Tür nach draußen aufriss. Egal. Sollten sie sie doch in einen der Särge stopfen und begraben. Hier liegen die Schuhe von ... Den Rest konnten wir nicht finden.

Sie stolperte aus dem Laden, stürmte tränenblind um eine Hausecke und stieß so hart mit jemandem zusammen, dass sie aufschrie und das Gleichgewicht verlor. Auch der andere geriet ins Straucheln. Einen Moment lang klammerten sie sich schwankend aneinander wie zwei Sumoringer, dann riss sich Bonnie unwillig los und trat zurück. Vor ihr stand ein Mann, der sich mit verzerrtem Gesicht das Kinn rieb.

»Gütiger Himmel«, dröhnte eine Stimme, die sie nur allzu gut kannte und nie wieder zu hören gehofft hatte. »Als Stürmer beim Football wären Sie der Stolz Ihrer Mannschaft, glauben Sie mir. Wissen Sie was, ich gebe Ihnen meine Handynummer. Bevor wir uns das nächste Mal begegnen, einfach kurz anklingeln lassen, dann besorge ich mir ein paar Schutzpolster. Das eine oder andere Teil meines Körpers ist ausgesprochen empfindlich.« Er schielte an sich herab und kreuzte die Beine.

Bonnie lief puterrot an. Mit dem Handrücken wischte sie sich unwillig über die nassen Wangen.

Ausgerechnet der Hüne mit dem Dreitagebart aus dem Modegeschäft. Es gab fünfunddreißigtausend Hohenfurter, davon, statistisch im Bundesdurchschnitt gesehen, achtundvierzig Prozent Männer, was immerhin etwa sechzehntausendachthundert mögliche Zusammenstoßpartner ergab. Aber sie stieß ausgerechnet mit diesem Alleinunterhalter zusammen. Es musste keine Pumpgun sein, eine Uzi tat es auch.

»Hi«, brachte sie dümmlich hervor, während ihr Kopf zu dröhnen begann. Sie konnte die Beule an der Stirn förmlich wachse hören.

Er rieb sich noch immer das Kinn und stand mit gekreuzten Beinen. Sein Begleiter feixte breit. Einen Kopf kleiner als der angeschlagene Hüne schien er in seinem schwarzen Maßanzug mit dem blütenweißen Hemd und der silbergrauen Krawatte geradewegs einem teuren Designerkatalog entsprungen. Er wirkte deplatziert neben dem schwarzen T-Shirt, den stone-washed Jeans und den in Sandalen steckenden Barfüßen des Mannes neben ihm.

Vor allem, weil seine teure Ausstaffierung die unglückliche Formung seiner Züge noch unterstrich. Seine Nase war kurz und breit - knubbelig -, die Lippen ein wenig aufgeworfen, und die Augen unter der hohen Denkerstirn brauchten starke Brillengläser, um sie zwinkernd zu mustern. Durch seine Ohren, groß und abstehend, schien die Sonne. Der verbleibende Rest seiner blondwolligen Haare war bereits auf den Hinterkopf gerutscht. Er war beileibe nicht hässlich, aber er erinnerte Bonnie an eine Comicfigur, bei der die markanten Gesichtszüge überproportional herausgearbeitet waren. Eine Karikatur. Als ob er dies wüsste und weiter unterstreichen wollte, hatte er sich unter seiner Knubbelnase einen Schnurrbart wachsen lassen, wie sie in bayrischen Meisterschaften prämiert wurden. Dick, grotesk über die Wangen hinaus abstehend und die Enden zu hochstehenden Widderschnecken eingezwirbelt.

Bonnie sah ihn nur kurz an und gleich darauf wieder weg. Verlegenes Lachen kitzelte ihr in der Kehle.

»Entschuldigen Sie«, wandte sie sich an den Komiker neben ihm, obgleich sie keineswegs vorgehabt hatte, sich zu entschuldigen. Ihr fiel nur nichts anderes ein, um ihr innerliches Kichern im Zaum zu halten. »Ich schätze mal, unser Zusammenstoß war meine Schuld. Ich hatte einen Moment lang nicht aufgepasst, weil ich ...«

»Wie auch?«, grollte der Macho zurück und betastete so sorgfältig sein Kinn, als vermisse er eines seiner Grübchen. »Bei der Überfunktion ihrer Tränendrüsen benötigen sie Scheibenwischer vor den Augen. Ein Rettungsboot im Rucksack wäre auch nicht schlecht, falls Ihnen demnächst das Wasser bis zum Hals steht. Ich muss schon sagen, Sie legen es darauf an. Erst zwingen Sie mit ihren Wollschichten mein ästhetisches Empfinden in die Knie und bei unserer nächsten Begegnung geben Sie sich alle Mühe, mich mitten auf der Straße flachzulegen. Was kommt morgen? Ich bin es zwar gewohnt, dass Frauen um meine Aufmerksamkeit buhlen, aber Sie sollten die Auswahl Ihrer Methoden noch einmal überdenken. Nicht jeder Mann steht auf so was.« Er kratzte sich im Nacken und musterte sie spöttisch. »Schade, dass ich keine Zeit habe, sonst könnten wir Ihre weiteren, mich betreffenden Pläne bei einem Kaffee ausdiskutieren. Für jetzt habe ich blöderweise einen Termin. Schon den Zweiten in dieser Woche, aber was nimmt man als viel beschäftigter Unternehmer nicht alles in Kauf.«

»Armer Kerl!« Sein Begleiter grinste von einem durchscheinenden Ohr zum anderen und zwinkerte Bonnie verschwörerisch zu. »Hör endlich auf, dir selbst auf den Schwanz zu treten und stell dich dem rauen Leben. Nehmen Sie den Kerl bloß nicht ernst. Der Hunger hat sein Gehirn verwirrt. Er ist nur ein armer Kunstmaler, der sich von Brotrinde ernährt und nur dann seine Staffelei verlässt, wenn man ihm eine Lammkeule unter die Nase hält oder einen Feuerwerkskörper unter seinem A... äh, sorry, Popo entzündet. Ihn außerhalb seiner Wohnung anzutreffen, ist, als ob Sie einem Bunyip oder Wolpertinger über den Weg laufen. So märchenhaft unwahrscheinlich, als ob ihm seine Verlobte plötzlich erlauben würde, sich endlich die Haare schneiden zu lassen. Haben Sie Mitleid mit diesem armen, verblendeten Jungen, denn er weiß nicht, was er sagt.«

»Halt bloß die Klappe, du Dummschwätzer. Du setzt eine fünfundzwanzigjährige Freundschaft aufs Spiel und riskierst nicht nur den unversöhnlichen Hass deines zukünftigen Schwagers, sondern vor allem den deiner Schwester. Wetten, das wagst du nicht?«

Sein Begleiter lachte, und das Lachen modellierte sein breites, durch eine tiefe Furche geteiltes Kinn noch stärker heraus. Einen kurzen Moment lang grübelte sie darüber nach, an wen sie dieser Mann mit seiner Knubbelnase erinnerte, dann verlor sie den Gedanken wieder im Gewirr ihrer Emotionen. Er war ihr sympathisch, auch wenn sie Zuzwinkern normalerweise als Zumutung empfand.

Sie ertappte sich beim Mitlachen, bekam prompt Schuldgefühle und biss sich auf die Lippe. Trauernde Witwen lachten nicht in der Öffentlichkeit. »Es tut mir leid, dass ich Sie angerempelt habe«, murmelte sie hastig. »Ich muss jetzt leider weiter, ich habe noch einen Termin einzuhalten.«

»Na hoffentlich ist Ihrer erfreulicher als meiner«, seufzte er und klappte unter dem Rippenstoß seines Freundes abrupt zusammen. »Urgh! - O Mann - äh - leben Sie wohl und - äh - danke!«

»Wofür?«

Er hüstelte. »Dass Sie wenigstens mein ästhetisches Empfinden nicht länger piesacken. Die neuen Klamotten stehen Ihnen nicht übel.«

»Komm du Großmaul, sonst führ ich dich am Ohrläppchen ab. Ich muss mich wirklich für diesen Kerl hier entschuldigen, Gnädigste, aber Analphabeten tun sich eben schwer mit den Anweisungen des Freiherrn von Knigge.« Wieder vibrierten die gezwirbelten Widderschnecken an seinen Bartenden vor Vergnügen.

»Und das gibt nun ein Mensch von sich, der Austern mit Essig beträufelt und Schnecken in Worcestersoße dippt. Pfui Deibel.«

»Nagel dich selbst ans Kreuz, du Blödmann.«

Das Geplänkel ging weiter. Einer suchte den anderen an Esprit zu übertreffen, und die kleinen Gemeinheiten flogen in der Geschwindigkeit geschmetterter Tennisbälle hin und her. Ein Wortgefecht, wie es sich nur gute Freunde leisten können. Bonnie vermutete jedoch bald, dass die Kabbelei gewissermaßen ihr zu Ehren abgehalten wurde. Beide hatten offenbar ein Publikum gesucht und gefunden.

Schließlich packte der schlaksige Hüne den Kleineren am Nacken und führte den sich heftig Sträubenden einfach ab. Bonnie blickte ihnen hinterher und schüttelte den Kopf. Pubertäres Geschwafel, dachte sie spöttisch. Die beiden sollten sich als Komikerduo beim Film bewerben. Stan und Ollie. Sie lächelte ein zweites Mal. Pat und Patachon? Nein, besser: Don Quijote und Sancho Panza. Was für eine Art von Freundschaft mochte sie miteinander verbinden? Hatten sie schon zusammen im Sandkasten gespielt oder dieselbe Berufsausbildung durchlaufen? Eine Eigenschaft verband sie mit Sicherheit. Sie strahlten mehr Selbstbewusstsein aus als Tschernobyl tödliche Strahlung nach seinem Super-GAU. Ebenso gut hätten sie sich Schilder auf die Rücken pappen können: Hohenfurter und Zugereiste - ihr könnt uns alle mal.

Irgendwie beneidenswert. Sie schlenderte durch die engen verwinkelten Gassen der Altstadt mit ihren krummen Fachwerkhäusern, weg vom Trubel der Fußgängerzone, und fühlte sich klein, hässlich und bemitleidenswert. Sie dachte an ihre mehr oder minder unbeschwerte Lässigkeit, mit der sie ihr Leben früher gemeistert hatte, und kam sich wie ein Wurm im Schnabel eines Raben vor. Würde er ihn schlucken oder in der Mitte durchbeißen? Ein Entkommen schien kaum möglich, auch wenn sie Hunderte von Kilometern zwischen sich und Gut Lieberthal brachte. Es kam ihr plötzlich vor, als schmiede ihr die Zeit hier in Hohenfurt eine eiserne Sträflingskugel an den Fuß. Wenn sie nicht Obacht gab, würde sie sich später in Berlin darüber wundern, dass sie nicht vorwärtskam.

Noch zwei Tage bis zur Beerdigung, achtundvierzig Stunden, in denen voraussichtlich unzählige Von‘s und Zu‘s über das Rittergut herfielen wie hungrige Heuschrecken über eine Wüstenoase. Geladene Verwandte und Freunde der Gutsbewohner, alles, was Rang und Namen hatte, um - wenn denn schon nicht ihr - so doch der Gräfin zu kondolieren. Vielleicht waren sie mittlerweile auch neugierig genug, das Kalb mit den zwei Köpfen besichtigen zu wollen. Jetzt, wo es quasi schon geschlachtet war. Es konnte immerhin sein, das es noch ein letztes Schauspiel bot und sich kreischend die Haare raufte.

Am späten Nachmittag bestellte sie sich in einem kleinen Lokal mit rustikalen Holzmöbeln eine Zwiebelsuppe und ein Glas Wein und kämpfte um jeden Bissen. Ihr Bus, der die Dörfer nördlich von Hohenfurt abklapperte, fuhr erst in einer Stunde vom ZOB ab, dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, wie die fünf Parkbuchten für Busse hinter dem Wall großspurig genannt wurden. Sie hatte sich im Reisebüro erkundigt. Er fuhr nur zweimal pro Tag, frühmorgens und gegen Abend, und man musste dem Busfahrer Bescheid sagen, dass er am Gut halten sollte, sonst brauste er, wie gewöhnlich, einfach vorbei. Es gab keine reguläre Haltestelle. Bonnie war froh, wenigstens die Kosten fürs Taxi einzusparen. Die neuen Kleidungsstücke und ihre Zugfahrkarte nach Berlin hatten ihr Monatslimit an Ausgaben schon weit überschritten.

Sie löffelte die Suppe und grübelte ins Leere. Nur einmal schreckte sie hoch, als sie aus dem Augenwinkel einen langen schwarzen Schatten am Fenster vorübergleiten sah. Die Weißenstein’sche Limousine? Kurvte Fernandel auf der Suche nach ihr kreuz und quer durch die Stadt? Im Auftrag der Gräfin, bevor sie die angeheiratete Verwandtschaft vollends blamierte? Vielleicht durchkämmte ohnehin schon die Nationalgarde die Straßen, und eine Hundemeute schnüffelte sich auf ihrer Spur heran, mit dem Baron vorweg, im roten Rock auf hohem Ross. Als die Zeit gekommen war, zahlte sie und ging ungehindert ihrer Wege. Weder Hunde noch Gardisten stürzten sich auf sie.

Der Überlandbus, gelb und schlammbespritzt, stand schon in seiner Bucht des ZOB in den Startlöchern. Sein Fahrer, ein kleiner spilleriger Kerl auf einem dicken Kissen, starrte sie überrascht an, als sie einstieg und noch überraschter, als sie kundtat, am Gut wieder auszusteigen. Sein Mund, der sich öffnete und dann wieder wortlos schloss, veranlasste Bonnie nach hinten durchzugehen. Ihr war nicht nach Reden, schon gar nicht darüber, was es mit ihr und dem Gut auf sich hatte. Zehn Minuten nach der regulären Zeit, als sich partout kein zweiter Fahrgast einfinden wollte, heulte der Motor auf, das Getriebe kreischte in höchster Qual. Der Bus schoss aus seiner Parkbucht, verfehlte knapp einen Mann im Rollstuhl auf einem Zebrastreifen, und in weniger als zwei Minuten war Hohenfurt nur noch eine kleine Ansammlung verträumter Fachwerkhäuser im Rückspiegel.

Bonnie fühlte sich im Bus seltsam heimisch. Zwischen zwei Sitzen steckte eine zusammengeknautschte Bierdose, der Kunststoff der Sitzes vor ihr war aufgeschlitzt und das Fenster so zerkratzt wie das Eis einer Schlittschuhbahn am Ende des Winters. Mit anderen Worten, dieser Überlandbus sah genauso aus wie jeder beliebige Stadtbus in Berlin. Zu wissen, dass wenigstens die Hohenfurter Jugendlichen insofern normal waren, als sie wie alle übrigen Jugendlichen der Nation ihren Frust im Vandalismus auslebten, tröstete sie. Irgendwie jedenfalls.

Seiner äußeren Erscheinung nach stammte der Bus entweder noch aus der Nachkriegsära oder von einem VEB-Restpostenverkauf nach dem Untergang der DDR. Er hörte sich auch so an. Außerdem fehlte die Federung, und den schwarzen Rauchwolken nach, die sich hinter ihm zu einer dichten Wolke verdunkelten, hatte das Fahrzeug mit Sicherheit nie an einer Abgasprüfung des TÜV teilgenommen. Der Motor krächzte, hustete und spuckte. Er hörte sich an wie ein Kettenraucher kurz nach dem Erwachen. Ab und an röhrte er wie ein liebeskranker Elch. Bonnies strategischer Rückzug in den hinteren Teil des Busses war wegen des Geräuschpegels überflüssig. Es erwies sich auch als unklug. Ihr Magen bestärkte sie eindringlich in dem Gefühl, um die Kurven zu schleudern, statt zu fahren, und die Suppe in ihrem Magen schwappte die Speiseröhre wieder nach oben. Eine Weile schluckte sie gegen das Würgen an, aber eine scharfe S-Kurve mitten im Wald fand sie dann doch schwankend und grüngesichtig auf dem Weg in den vorderen Teil des Busses. Der spillerige Fahrer auf seinem dicken Kissen ließ im Rückspiegel seine Goldkronen aufblitzen und trat das Gaspedal durch. Wenigstens einer, der sich amüsierte.

Nach einer ganzen Weile erst fiel es Bonnie auf, dass der Busfahrer keineswegs vorhatte, die dreißig Kilometer bis zum Gut auf kürzestem Weg zurückzulegen. Zwischen Hohenfurt und Lieberthal fuhr er eine Zickzackroute, die jeder Beschreibung spottete. Inwieweit Route und Zeit dem Fahrplan entsprachen, entzog sich ihrer Kenntnis. In einem kleinen Dorf jedenfalls, das inmitten von Weizen- und Haferfeldern lag und in dem es tatsächlich noch Misthaufen, Jauchegruben und Kuhställe gab, setzte der Motor mit einem erleichterten Sprotzen erst einmal aus. Pause. Der kleine Spillerige auf seinem Kissen zündete sich ein Zigarillo an und pustete mit aufforderndem Blick Rauchkringel in die Luft. Als ihm sein einziger Fahrgast nicht applaudierte, schlug er achselzuckend eine Zeitung über dem Lenkrad auf. Bonnie beschloss gerade, ihrer Lunge eine Mütze frischer Landluft zu gönnen, als Petrus die Himmelssprenkler aufdrehte. Alle gleichzeitig. Sie ließ sich auf den Sitz zurückplumpsen und starrte resigniert den dicken Tropfen hinterher, die auf dem Straßenasphalt zu Myriaden kleiner Springbrunnen mutierten. Dann fuhr ein gewaltiger Blitz vom Himmel, der Boden erbebte unter dem Donnerschlag und zwei Minuten später schien der Bus durch eine Waschanlage zu fahren. Es fehlten nur die Bürsten. Ein Platzregen donnerte aufs Dach. Wasserfälle rauschten an den Fenstern vorbei. Es war eine Art umgekehrter Aquariumseffekt. Das Wasser war außerhalb des Glases, und drinnen zappelten die Fische auf dem Trockenen.

Bonnie, einem klaustrophobischen Anfall nahe, suchte sich abzulenken. Sie angelte nach einem Reklameprospekt unter dem Vordersitz. Es erwies sich als kleinformatige Zeitung. Die Lupe. Eine Schülerzeitung - von Schülern herausgegeben, von Schülern gelesen, von Schülern unter den Vordersitz gestopft. Sie strich das zerknautschte Deckblatt glatt, und der Schock ließ die Schrift vor ihren Augen flackern. Sie hielt sich an der Lehne des Vordersitzes fest. Der Atem ging stoßweise, und um ein Haar hätte sie sich die Suppe doch noch über die Knie gespuckt.

Längere Zeit wagte sie nicht, die Augen zu öffnen. Als sie es wieder wagte, war der Schock nicht geringer geworden. Quentin blickte sie an. Egal, aus welchem Winkel sie das Foto auf der Titelseite der Zeitung auch betrachtete, Quentin blickte sie mit seinen kornblumenblauen Augen unverwandt an. Sie selbst war nur von hinten zu sehen, den Kopf leicht zur Seite, die roten Locken über der linken Schulter. Sie standen in inniger Umarmung inmitten eines Meeres aus rotem Mohn, blauen Kornblumen und den weißen Dolden des Dostes und küssten sich. Hingebungsvoll. Im Moment der Aufnahme festgeschmiedet an den Lippen des jeweils anderen.

Bonnie starrte wie gebannt auf das Bild und suchte es mit einer Assoziation in ihrem Kopf, einer vagen Erinnerung, in Einklang zu bringen.

»Ach du Scheiße. Das glaub‘ ich einfach nicht.«

Der Tag ihrer Ankunft. Quentin und sie, wie sie den von Anglern ausgetretenen Trampelpfad zum Fluss hinuntertollten. Wie sie plötzlich inmitten der Wiese innehielten, sich erst in den Armen und bald darauf zwischen Mohn und Kornblumen lagen und liebten. Dieselbe Wiese, der Fluss im Hintergrund, der gesplitterte Baumstumpf der vom Blitz gefällten Eiche.

»Heiliger Strohsack!«

»Tja, das war’s wohl.«

»Was?« Sie blickte auf. Der Fahrer stand in der offenen Tür des Busses und kratzte sich zwischen den Beinen. Die frische, vom Regen gereinigte Luft, ließ sie frösteln.

»Ich sagte, das war’s dann wohl. Die Engel haben aufgehört zu duschen.«

Das hättest du wohl gern, dachte Bonnie, die das Funkeln in seinen Augen nicht eben wohlwollend interpretierte, als er sie abschätzend musterte. Einen Haufen nackter Engelsfrauen, die sich unter der Brause rekeln. Mit einem Büschel zarter weißer Flaumfedern als Scham.

»Fahren wir noch mal weiter?«

Er blickte flüchtig auf die Uhr des Armaturenbrettes.

»Die Meier’sche ist noch nich‘ da.«

»Aha.« Mit wenig Interesse an der Person der Meier’schen senkte sie ihren Blick wieder auf das Foto.

Quentin trug ein kurzärmeliges weißes Hemd über dem braun gebrannten Oberkörper, sie ein weißes T-Shirt und weiße Shorts. Aus den Sachen waren später die grünen Grasflecke nicht wieder rausgegangen. Dieser verdammte kleine Spanner von einem Fotografen. Wie konnte er es wagen, sie heimlich abzulichten, während sich für alle sichtbar (und hörbar) etwas anbahnte, was höchstens Perverse noch in den Büschen hielt. Sie merkte, wie eine Mischung aus ungezügelter Wut und maßlosem Begehren in ihr hochstieg. Noch gestern, als sie Quentin nach dem Mittagessen hinterher sah, wie er zur Mühle hinüberging, die Bremskette der Flügel zu lösen, hatten nichts als Liebe und Begehren ihr Denken ausgefüllt. Sie erinnerte sich, in ihr Schlafzimmer hinübergegangen zu sein, um ungestört zu sein mit ihrem vor Glück wunden Herzen.

Sie strich mit der Kuppe des Zeigefingers sanft über sein Gesicht und musterte das Bild dann stirnrunzelnd. Es sah beinahe so aus, als blickte Quentin direkt in das Objekt der Kamera.

»Blödsinn«, murmelte sie. Es musste eine optische Täuschung sein. Quentin hätte ihr wohl kaum, noch im Stehen, die Hände unter das T-Shirt geschoben und ihr die Shorts über die Hüften gezerrt, wenn ihm in den Büschen das im Sonnenlicht aufblitzende Auge der Kamera aufgefallen wäre. Sein Verlangen, jetzt und auf der Stelle mit ihr schlafen zu wollen an jenem ersten Nachmittag, hatte sie ohnehin verblüfft. Letztendlich war sie es gewesen, die leise Skrupel empfand und die eigenen Hemmungen überwinden musste.

Unter dem Foto stand die Schlagzeile.

Die Schöne und das Biest.

Na toll, jetzt macht uns das kleine Arschloch auch noch zu Musicalstars, dachte sie, aber der halbherzige Galgenhumor erwies sich als wenig beständig. Sie begann den Artikel zu lesen und das, was sich von Zeile zu Zeile stärker einstellte, war unverhohlene Wut. Ihr Blut kochte.

Unser allseits beliebter Kronprinz Quentin derer von und zu Storkenburg, das Blaublut gräflicher Abstammung, hat sich verehelicht. Der Verfasser dieses Artikels ertappte die beiden Turteltauben bei etwas, was für die Augen minderjähriger Schüler nicht bestimmt ist und nutzte die Gelegenheit zu einem kleinen Schuss aus dem Gebüsch heraus, während unser Prinz einem Schuss ganz anderer Art den Weg bereitete. Bonita heißt die nur mäßig Schöne. Wie der Thunfisch Bonito, nur mit einer A-Endung, aber dem Gerangel nach, der dem Kuss folgte, ist sie weitaus heißer als ein Fisch.

Erstaunlicherweise entstammt das neue Adelsmitglied - übrigens mit dem spanischen Nachnamen Alvarez geboren - Kreisen, die des Prinzen Verwandtschaft nicht einmal als Küchenmagd einstellen würde. Der Vater soll ein arbeitsscheuer Mallorquiner gewesen sein, die Mutter eine abgehalfterte Fabrikarbeiterin. Kann das Liebe sein? Oder doch nur eine Laune des prinzlichen Durchlaucht, der unseren Schwestern und Cousinen vorübergehend überdrüssig geworden ist? Will er jemand Bestimmtes eins auswischen mit seiner Verehelichung?

So fand auch die Hochzeit, wie man hört, in kleinstem Kreise in Berlin statt. Weitab flinker, weiblicher Zungen, die bei der Floskel des Pastors ...und wenn jemand Einspruch erhebt, so spreche er jetzt oder schweige für immer... lautstark im Chor Iiiiich!!!! brüllen könnten. Allen voran die greise, graue Eminenz unserer kleinen Stadt, deren Namen ich natürlich nicht auszusprechen wage.

Nun dann, Bonita von Alvarez, willkommen im Mittelalter und möge das Schicksal gnädig verhindern, dass du früher oder später als Thunfischsandwich an der gräflichen Tafel verspeist wirst.

A.S.

Der Bus ruckte mit der Beschleunigung einer Mittelstreckenrakete an, und Bonnie fand sich zwischen den Sitzen auf dem Boden wieder. Eine winzige, alte Bäuerin mit Kopftuch stapfte mit Weidenkörben schwer beladen durch den Mittelgang nach ganz hinten und lächelte zahnlos auf sie hinab. Das musste die Meier’sche sein. Wahrscheinlich fuhr sie jeden Tag um dieselbe Zeit dieselbe Strecke. Der Inhalt der Weidenkörbe war mit leinenen Geschirrtüchern abgedeckt, aber unter einem dieser Tücher ragte ein dünnes mit dunkelroten Federn bestücktes Teil heraus, das in starren Krallen endete und wie das Bein eines Huhnes aussah, das noch nicht lange tot war. Bus und Busfahrer taten alles, die winzige alte Bäuerin gegen die Sitze oder auf den Boden zu schmettern, doch sie verfolgte unbeirrt und kerzengerade ihren Weg bis zur breiten Rückbank. Bonnie befreite ihre Hand, die immer noch die zerknautschte Zeitung hielt, aus dem Spalt zwischen den beiden Vordersitzen, hievte sich verlegen auf ihren Platz zurück und blickte der Bäuerin nach. Sie verteilte die Körbe auf dem Rücksitz und krabbelte dann wie ein Kleinkind vorwärts auf den Sitz. Mitten zwischen ihre Schätze. Keine fünf Minuten später, noch bevor der Bus im nächsten Dorf erneut hielt, krabbelte sie rückwärts wieder runter, sammelte die Körbe ein und trippelte zahnlos lächelnd den Gang hinunter. Nach einem kurzen, unverständlichen Wortwechsel mit dem grinsenden Fahrer stieg sie wieder aus.

Wenigstens die Meier’sche ist zu Hause angekommen, dachte Bonnie und rieb sich den angeschlagenen Ellenbogen.

Jetzt war sie noch wütender, hielt sich jedoch nicht dabei auf, sich beruhigen zu wollen. Sie suchte nur grimmig nach dem Erscheinungsdatum der Zeitung. 22. Juli. Vier Tage nach ihrer Ankunft. Gut, dass Quentin dieses Schmierenblatt niemals zu Gesicht bekommen hatte. Fotograf und Schreiberling hätten sich wohl besser ihre Knochen nummerieren lassen. Sie dachte an seinen Faustschlag im Tiergarten und das verblüffte Gesicht des Strichers auf dem Boden.

»Perverses Schwein.« Es trieb ihr die Zornesröte in die Wangen, als sie sich vorstellte, wie seit zwei Monate diese Schülerzeitung durch die Hohenfurter Haushalte kursierte und die Gemüter infizierte wie die Pest. Wie sich die netten Bürger dieses idyllischen Städtchens hinter ihrem Rücken schadenfroh gekrümmt hatten, wenn Quentin und sie durch die Fußgängerzone schlenderten. Prinz und Thunfisch - da gehen sie. Dieser Artikel setzte allen Demütigungen, die sie bisher hatte erfahren müssen, die Krone auf. Nicht nur, dass dieser Schmierfink Quentin als skrupellosen Schürzenjäger darstellte - ausgerechnet Quentin! - und damit zweifellos Rufmord beging, auch sie selbst und vor allem ihre toten Eltern wurden aufs Gröbste beleidigt.

Als der Bus neben der Gutshofmauer abrupt stoppte und sie gegen den Sitz vor ihr schleuderte, freundete sie sich gerade mit der spontanen Idee an, der Schülerredakteur könnte eine Redakteurin gewesen sein. Eine unansehnliche Siebzehnjährige, die sich bis über beide Ohren in Quentin von Storkenburg, den Erben des Rittergutes Storkenburg, den großen gut aussehenden Jungen, der so gern lachte, verliebt hatte. Eine Siebzehnjährige mit verschwiemelten Augen und gebrochenem Herzen, die sich nach seiner unerwarteten Verheiratung rächen wollte. Oder der Bruder einer unansehnlichen, verschwiemelten und unglücklichen Siebzehnjährigen, der eine Art Vendetta betrieb. Oder ein Lehrer, der es satthatte, vor einer Klasse heulender Mädels zu stehen. Oder natürlich ein Vater, der sich schon darauf gefreut hatte, seine Tochter zum Traualtar zu führen und stattdessen nun kistenweise Papiertaschentücher kaufte. Wer auch immer es gewesen war, dieser jemand hatte eine sehr subtile Methode gewählt. Kein Stilett zwischen den Rippen, sondern ein Sprengsatz an Quentins Ehre. Eine sich verzweigende Lunte, die nach und nach Hunderte kleiner Sprengsätze zur Explosion brachte und sein Ansehen in den Köpfen der Hohenfurter wahrscheinlich schmälerte. Eine pyrotechnische Meisterleistung, die erst die Zeit zur vollen Entfaltung brachte.

Doch trotz aller Erklärungsversuche blieb die Wut. Eine hilflose Wut, nicht nur wegen des Fotos und der Schmierereien, sondern auch - oder vor allem - weil sie plötzlich aus so unerwarteter Richtung angegriffen wurde. Von den Hohenfurtern - Leuten, denen sie durchaus freundlich und aufgeschlossen entgegengekommen war, und die sie - sie gestand es sich ein - auch ein wenig belächelt hatte. Eben so wie eine Großstädterin über das betuliche Leben in einer Kleinstadt lächelt.

Als sie in der einsetzenden Dämmerung über das Kopfsteinpflaster des Gutshofes stolperte, am Anhänger von Malermeister Struck und Brutus‘ Stall vorbei, aus dem ein schwacher Lichtschimmer aufs Pflaster fiel, hielt sie die Lupe noch immer fest umklammert. Sie stopfte die Zeitung hastig in ihre Umhängetasche und nahm sich vor, das Geschmiere bei erstbester Gelegenheit im Kamin zu verbrennen. Es war nicht nötig, dass die Gräfin die Schmierereien ebenfalls in die Hand bekam.

Dann wappnete sie sich fürs Kommende und trat ins Haus.

Ehre, wem Ehre gebührt

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