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Das Geräusch von zerbrechendem Glas

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Here I go out to sea again

The sunshine fills my hair

And dreams hang in the air.

Seeed

A D E L I N E

Mit herangezogenen Knien sitze ich im Sand und beobachte die Wellen, die mit ihren Schaumkronen ans Ufer rollen. Die See ist heute verhältnismäßig ruhig, auf Fuerteventura habe ich schon ganz anderes erlebt. Normal sind hohe, donnernde Wellenberge, eine unermessliche Strömung, die beim Baden sehr gefährlich sein kann und es hängt so gut wie immer Gischt über der Ebene.

Nicht so wie heute. Der Horizont zieht sich haarscharf übers Grau des Atlantiks, ich lege den Kopf in den Nacken und atme die salzige Seeluft ein, vergrabe meine Hände im feuchten Sand und nehme das Tösen der Saharawinde in mir auf. Lasse es auf mich wirken. Seufzend schließe ich meine vom Weinen verquollenen Augen, lasse die milde Abendsonne auf meine beanspruchte Haut scheinen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, die schon wieder zu bluten anfängt. Ich bin leider der schlimmste Lippenbeißer, den es gibt. Manche haben die Angewohnheit, an ihren Nägeln zu kauen, bei mir sind es die Lippen.

Jemand räuspert sich direkt neben mir und ohne mich auch nur umzusehen, platze ich heraus: „Gott, könnt ihr mich nicht einfach alle in Ruhe ...“, doch ich stutze, denn als ich aufblicke und einen verschämten Elijah neben mir sehe, wird mein Herz weich. „Oh, es tut mir so leid“, stammle ich und weiche dem Blick seiner Augen aus, ihre Farbe kommt der des Ozeans vor mir sehr nahe. „Ich bin nur so ... Es ist nur … Egal, du weißt schon.“

„Ich weiß was?“ Mit einem tiefen Atemzug lässt er sich neben mich in den Sand fallen und ich rücke automatisch ein Stück von ihm ab, obwohl wir den gesamten verdammten Strand für uns haben. „Dass wir beide betrogen, verarscht und hintergangen wurden?“

„Du hast das ‚seit drei Jahren' vergessen“, füge ich nüchtern hinzu und vergrabe mein Gesicht in beiden Händen. Ich muss fürchterlich aussehen, aber Elijah scheint das nicht wirklich zu bemerken. Zum Teufel, er sieht selbst fertig aus, mit dem unregelmäßig gestutzten Bart, der sonst immer perfekt aussieht und dem tiefschwarzen Haar, welches so lang geworden ist, dass er es zur Zeit meist zu einem kleinen Knoten am oberen Hinterkopf zurückgebunden trägt. Er scheint nicht ganz so am Ende wie ich, eigentlich sogar noch relativ gefasst, aber ansatzweise fertig.

„Wir sollten es positiv sehen“, sagt er, so zuversichtlich wie möglich, jedoch bleibt seine tiefe Stimme brüchig, „besser wir erfahren es so, als gar nicht.“

Ich schnaube und strecke die Beine aus. „Den Anblick hätte ich mir sehr gerne erspart.“

„Es war abartig, oder?“ Er verzieht das Gesicht und gibt ein Würgegeräusch von sich. „Hat aber auch was Gutes. Jetzt würde ich sie erst recht nie wieder anfassen wollen, nachdem, was wir gesehen haben.“

Tatsächlich muss ich kurz grinsen. Doch unwillkürlich schießen mir Bilder von Isabella und Joe durch den Kopf, wie sie komplett nackt auf dem Boden unserer Küche, in der kleinen gemieteten Finker aufeinander liegen und komische Geräusche von sich geben. Mein Grinsen verzieht sich zu einer angewiderten Grimasse. „Ich werde nie wieder in dieser Küche essen.“

„Ich werde diese Küche nie wieder betreten“, setzt er noch eins drauf. Wir sehen uns an und brechen in Gelächter aus. Es klingt verzweifelt, krankhaft. Ein bisschen hysterisch. Aber immer noch besser, als deprimiert vor sich hin zu grübeln, wieso sie uns das angetan haben. „Wer treibt's denn auch bitte auf dem Küchenboden?“, keuche ich atemlos und wische mir eine kleine Träne aus dem Augenwinkel.

Und noch eine. Und noch eine.

Ich hatte übergangslos vom Lachen zum Weinen gewechselt, ohne es so richtig zu bemerken.

„Ich hoffe, Joe hat sich seine beschissene Hand gebrochen“, schluchze ich. Als er nämlich bemerkt hat, dass er beobachtet wird, ist er wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, dabei nicht gerade elegant gestolpert und auf seine eigene Hand gefallen, welche zuvor noch an der nackten Brust von Elijahs Freundin geklebt hat.

„Und ich hoffe sie verreckt an ihrem schlechten Gewissen.“

„Das glaube ich kaum.“

„Ich meine, nicht weil sie mich betrogen hat, sondern weil sich ihr Lover ihretwegen hoffentlich die Hand gebrochen hat.“ Hinzuzufügen ist, dass Joe über Isabellas ausgestrecktes Bein gestolpert ist.

Irgendwie bringen mich Elijahs Worte schon wieder zum Lachen, auch wenn ich durch den Schleier aus Tränen kaum noch sehen kann und meine Nase wie Feuer brennt. „Hast du zufällig ein Taschentuch?“

Er tastet reflexartig an den Taschen seiner Shorts, zuckt dann aber die Schultern und verneint entschuldigend. Die Sonne ist fast hinter dem Horizont verschwunden und der Wind ist nicht länger lau, sondern ziemlich frisch. Ich schlinge mich enger in meine roséfarbene Strickjacke und reibe mir über die nackten Beine.

„Ist dir kalt? Lass uns gehen.“ Elijah macht Anstalten aufzustehen.

„Ich gehe ganz bestimmt nicht zum Haus zurück.“

„Mh.“

„Nein, El!“

„Ist okay, war ein zustimmendes ‚mh'.“

Ich werfe ihm einen Blick von der Seite zu. „Wir haben jetzt zwei Wochen Urlaub vor uns und ich würde schon am dritten Tag am liebsten den nächsten Flieger nach Hause nehmen“, erkläre ich sachlich, male mit dem Zeigefinger Muster in den Sand zwischen uns. Er antwortet nicht, bis auf ein weiteres „zustimmendes mh“.

„Was machen wir denn jetzt? Gute Miene zum bösen Spiel?“ Als ich realisiere, dass aus dem Muster ein Herz wird, fahre ich so heftig mit der Hand darüber, dass Elijah eine Ladung Sand in die Hosentasche rieselt. Verärgert steht er auf. „Ich habe keine Ahnung, Ads.“ Eigentlich heiße ich Adeline, aber das hat gerade ihn noch nie interessiert. Er findet meinen Namen - was sagt er immer? – zu amerikanisch, weshalb er ihn kurzerhand abgekürzt hat. Seitdem nennen mich fast alle Ady, oder Ads was gerade meine Großmutter unglaublich aufregt, da sie meinen Namen abgöttisch liebt. Aber, mal ehrlich, wer nennt seine Tochter schon Adeline Evangélie Laurine? Selbst Schuld, wenn das kein Mensch wirklich ausspricht. Und wenn sich doch jemand dazu durchringt, ihn meistens falsch betont, schreibt, was auch immer.

„Ist ja gut, ich wollte nur ...“

„Nichts ist gut! Mein bester Freund hat meine Freundin genagelt, während ich daneben stand!“ Er ballt die Hände zu Fäusten und schießt Sand in die Luft. Zum Glück nicht in meine Richtung. „Exbester Freund und Exfreundin“,verbessert er sich murmelnd, mit zusammengebissenen Zähnen. „Hätten sie nicht wenigstens so viel Anstand besitzen können, damit bis zum Ende des Urlaubs zu warten?“

Anstand?“,ich gebe einen hohen Laut von mir, eine Mischung aus Lachen und Schreien. „Wenn sie schon herumvögeln müssen, dann doch bitte nicht im Urlaub, den wir zu viert seit Monaten planen!“

„Herrgott nochmal, sie hätten's einfach gar nicht tun sollen! Nie! Seit drei Jahren ein Verhältnis, das ist praktisch unsere gesamte Beziehung lang!“, er wird immer lauter, nimmt einen Stein und wirft ihn mit einem tiefen Schrei weit in die höher werdenden Wellen, in die anthrazit-blauen Tiefen des Atlantiks. Der scheint, passend mit unserer Stimmung, auch stetig rauer zu werden.

„Ich verstehe es auch nicht“, sage ich kleinlaut, ein wenig eingeschüchtert vom plötzlichen Stimmungsumschwung seitens Elijahs und des Ozeans. Die beiden miteinander gleichzusetzen, hat irgendetwas ... nostalgisch, poetisches. Vielleicht ist es auch einfach mein von Enttäuschung benebelter Verstand, aber wie er da so am Ufer steht, angespannte Arme und wehendes Haar, sieht er aus, als wäre er Teil eines Piratenstreifens. Der heiße Kapitän, der sich gegen alle Normen stellt, um die andere Seite des Ozeans zu entdecken. Der das Plündern und Töten aufgibt, um seine Jungfrau zu retten, was weiß ich. Eine ernstere und reifere Version Captain Jack Sparrows, mit weniger Kajal und ohne Rasterlocken.

„Wie konnten sie uns die ganzen Jahre über in die Augen sehen?“, knurrt er, beinahe animalisch. „Mir wird übel, wenn ich daran denke, wie er Isabella ... Und wie sie ...“

Ich stehe auf, gehe einen Schritt auf ihn zu. „Hey, das bringt jetzt nichts“, beruhigend lege ich eine Hand auf seinen tätowierten Unterarm. „Versuch' einfach, nicht mehr daran zu denken.“ Noch während ich es ausspreche bemerke ich, wie unpassend, ja gar lächerlich sich meine Worte anhören. Ich weiß schließlich selber am Besten, dass es schier unmöglich ist, nicht an die grauenvolle Szene von heute Nachmittag zu denken, die sich in dieser kleinen, eigentlich so hübschen Küche zugetragen hat.

„Ich will einfach nur verstehen ... Wieso ...“, seine Stimme bricht ab, als er mich ansieht. Gerötetes Gesicht, feuchte Augen. Auch ein großer Mann wie Elijah kann zerbrechlich und schwach wirken. Aber das ist okay, es macht ihn sympathisch.

Anfangs hatte ich nicht gewusst, wie ich über die Beziehung meiner besten -Exbesten Freundin - und dem damals meiner Ansicht nach für sie zu alten Kunststudenten denken sollte. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag hatte sie ihn stolz auf ihrer Party vorgestellt und alle waren beeindruckt. Hin und weg. Neidisch. Der Schöne und die Hübsche. Er impulsiv, humorvoll, spontan und in diesem Moment lebend. Sie immer durchgeplant, sachlich, reif. Schon damals - mit siebzehn Jahren - einen konkreten Plan vom Leben gehabt.

Jeder hatte sich gefragt, ob das gut gehen würde. Aber keiner hat es je ausgesprochen. Nur nett gelächelt und viel Glück gewünscht.

Elijah Granit wirkte lustig, charismatisch und trotzdem frech. Große Klappe und nichts dahinter. Damals jedenfalls. Er war schon zweiundzwanzig, als Isabella ihr Herz an ihn verlor. Kennen gelernt hatten sie sich durch Bekannte ihrer Eltern, behaupten sie jedenfalls. Schicksal, hatte Isabella es genannt. Wenn man dran glaubt, hatte ich gesagt. Denn wir beide hatten gewusst,dass sie nicht der Mensch war (oder ist), der an Dinge wie Schicksal Gedanken verschwendet.

Zeitgleich habe ich mich in Joe verliebt, der ein Jahrgang über uns ist, beziehungsweise war. Er ist ganz anders als Elijah. Bodenständiger, sanfter, liebenswürdig und hat trotzdem immer einen intelligenten Spruch auf den Lippen. Der perfekte Schwiegersohn. Ihr wisst, was ich meine. Nun ja, umso überraschter bin ich also gewesen, als Elijah und ich mit Drinks von der Bar zurück zum Haus kamen und die beiden auf frischer Tat ertappten, wie sie den Küchenboden als, nennen wir es Spielwiese, eingeweiht hatten. Kurzum: Ich hätte es beiden nicht zu getraut, aber Joe erst recht nicht. Niemals. Aber da kann man mal wieder sehen, dass alle Menschen gleich sind. Man sollte sich am besten auf niemanden außer sich selbst verlassen. Niemandem vertrauen. Wenn es ein einmaliger Ausrutscher gewesen wäre ... Aber sie hatten uns gestanden, dass es wohl fast die ganze Zeit, nachdem wir vier uns als Gruppe zusammen geschlossen hatten, zwischen ihnen geknistert habe. „Wir wollten das nicht kaputt machen“, hatte Isabella aufgebracht versucht zu erklären. „Ist euch prima gelungen“, hatte ich geschrien und meinen Drink in Joes vom Sturz schmerzverzerrtes Gesicht gekippt, nur um das leere Glas danach mit voller Wucht in dieSpüle zu schleudern, wo es in tausend Scherben zerbrochen war.

Dieses Bild hat sich in mein Gedächtnis gebrannt und wird mit Sicherheit so schnell nicht verblassen: Isabella in sich zusammen gesunken auf dem Boden, versucht ihren nackten Körper mit den Armen abzuschirmen. Mein Freund – Exfreund – ebenfalls nackt, sich die schmerzende Hand haltend und das Gesicht voll mit Pina Colada. Dann das Geräusch von zerbrechendem Glas und nicht zu vergessen Elijah, welcher einfach nur wie betäubt neben mir steht, einen Schluck von seinem Cocktail nimmt, dabei völlig abwesend Isabella anstarrt.

Das letzte war am verstörendsten gewesen. Wer nippt schon seelenruhig an seinem Getränk, während seine nackte Freundin nach ihrem Betrug vor ihm auf dem Boden hockt? Dafür kommt die Wut anscheinend jetzt. Nachträglich. Ich kenne das selber. Manchmal ist man einfach zu fassungslos, um überhaupt etwas zu fühlen. Zu viele Emotionen auf einmal, ohne zu wissen, welche sich zu erst an die Oberfläche bahnen wird.

„Sie ist ein Flittchen“, presst er hervor, entzieht mir seinen Arm und sucht nach dem nächsten Stein, welchen er noch weiter hinaus aufs Meer hinaus wirft.

„Sie hätten uns einfach sagen müssen, dass sie Gefühle füreinander haben. Rechtzeitig“, seufze ich, kaue schon wieder auf meiner Lippe.

„Wenn sie vorhin zur Abwechslung mal die Wahrheit gesagt haben ... Dann ging es schon los, ein halbes Jahr nachdem zwischen mir und ihr was lief!“, brüllt er und wedelt wie wild mit den Armen herum.

„Ich weiß“, ich sehe zu Boden und weiche einen Schritt zurück, um nicht eine seiner großen Händen ins Gesicht zu bekommen. „Demnach so ziemlich genau drei Monate, nachdem Joe und ich offiziell zusammen gekommen sind.“ Mein Magen schmerzt und mir wird schon wieder schwindelig.

„Verarscht haben die uns! Von vorne bis hinten und von Anfang an!“

„Ja,es war alles eine ...“

„Eine riesen große Lüge“, beendet er meinen Satz.

„So ist es.“

„Komm' mit“, knurrt er und zieht an meinem Ärmel.

„Wohin?“

„Wir lassen uns jetzt volllaufen. Ich habe nicht um sonst All-Inclusive gebucht.“

Die Poolbar, unweit vom Strand und zugehörig zu der Häusergruppe mit unserer kleinen Villa, ist hell erleuchtet und belebt. Laute Musik tönt aus allen Richtungen und glitzernde Lichtgirlanden ziehen sich über das gesamte Gelände an Gebäuden, Palmen und Büschen entlang. Ein wunderschöner Anblick, der perfekte Ort, um mit Freunden zusammen zu sein, Spaß zu haben, den kanarischen Sommer zu genießen.

Unter normalen Umständen.

„Ich weiß nicht, mir ist eigentlich nicht nach Alkohol“, stöhne ich und setze mich mit ihm direkt an die Bar.

„Du hast gerade erfahren, dass dein Freund dich mit deiner besten Freundin betrogen hat und warst sogar Augenzeuge dieses entsetzlichen Aktes und willst mir sagen, dir sei nicht nach Alkohol?“ Ungläubig schüttelt er den Kopf und zupft an seinem Haarknoten.

„Exfreund. Ex beste Freundin“, verbessere ich, wie auch er es zuvor getan hat, zeige mit ausgestrecktem Finger auf ihn. Ohne mich zu beachten fährt er fort: „Alkohol ist eigentlich ausschließlich für Menschen wie uns gemacht.“

„Für armselige, gedemütigte Menschen?“

„Trauernde, Verletzte, Misshandelte ...“

„Wie melodramatisch“, jammere ich und verdrehe die Augen. „Vor allem, misshandelt.“

„Und ob. Unser Vertrauen wurde ganz und gar misshandelt!“

„Das nennt sich zwar ‚missbraucht', aber heute will ich mal nicht so sein. Du bist ja völlig durch den Wind.“ Ich schenke ihm ein bemitleidendes Lächeln und bestelle zwei Tequila. Wenn schon, denn schon.

„Entschuldigung, Miss angehende Germanistikstudentin.“ Jetzt verdreht auch er die Augen, trotzdem stößt er mit mir an und kippt das Zeug herunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne Salz. Ohne Zitrone. Eiskalt und gnadenlos, einfach pur. Ich hingegen verziehe angewidert das Gesicht, was ihm ein Lachen entlockt.

„Kann ja nicht jeder so abgehärtet sein wie du“, grummle ich und bestelle einen Margarita. Niemals schaffe ich zwei Shots direkt hintereinander. Anders als Elijah, der wenig später schon mehr als angetrunken ist.

„Weißt du, mich hat eigentlich so vieles an dieser Schlampe genervt“,lallt er und ich sehe mich automatisch um, will ausschließen, dass sie eventuell in der Nähe sein könnte. Eigentlich Schwachsinn. Sie kann es ruhig hören. Es soll mir egal sein, ich muss nicht weiter Rücksicht auf sie nehmen.

„Zum Beispiel dieses ständige Zählen von Kalorien!“ Er lacht laut auf, prostet mir zu. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das genervt hat. Wusstest du, dass einhundert Gramm Apfel circa fünfzig Kilokalorien hat?“ Er kippt abermals sein Getränk herunter und grinst übers ganze Gesicht, wobei sich zarte Fältchen um seine Augen bilden.

„Nein“, antworte ich gedehnt.

„Eben! Wer weiß das schon? Niemand weiß so etwas. Und das ist auch gut so. Welcher verdammte Mensch will schon wissen, wieviel verfluchte Kalorien so ein hä-hässlicher Apfel hat?“

„Hä-hässlich, also?“ Er bemerkt nicht, dass ich ihn verarsche.

„Aber ich- ich kann dir dank der scheiß Schlampe 'ne scheiß Tabelle machen mit allen Lebensmitteln dieser scheiß Welt und kann dir genau sagen was wieviele Kalorien hat!“

„Elijah...“, setze ich an.

„Vor allem, wenn sie doch schon ausschließlich Grünzeug frisst, wieso zählt sie dann trotzdem noch die Kalorien?“ Er gibt ein Schnauben von sich und klatscht in die Hände. Ich lache widerwillig auf, da sich beispielsweise sein ‚scheiß Schlampe' nur noch wie ‚Scheischlamme' anhört, oder weil er beim Reden ständig seinen rechten Mundwinkel nach oben zieht. Isabella sagte mal, das täte er nur, wenn er betrunken ist. Sie betonte auch, dass es ihrer Ansicht nach unsexy aussieht und Elijah dann eins zu eins einem verrückten Chemielehrer gleicht, der über ‚Moleküle und all den Bullshit' referiert. Das sind glaube ich ihre Worte gewesen. Aber ich finde diesen Tick gar nicht so tragisch, er ist ein Teil von ihm.

„Kein normaler Mensch tut so etwas, stimmt doch. Oder, Ads ...“, er beugt sich so weit nach vorn, dass er fast vom Barhocker fällt, „-Ady!“

„Ich schätze, das tun mehr, als du denkst“, erwidere ich lächelnd, halte ihn an den Schultern fest und richte ihn wieder auf, wie eine Marionette ohne Fäden.

„Bitte sag mir, dass du nicht dazu gehörst.“

„Naja, ähm ...“ Ehrlich gesagt hatte ich es schon oft versucht, jedoch nach spätestens einer Woche aufgegeben. „Nein“, schließe ich also. „Einfach zu zahlenfaul.“ Zahlenfaul? Interessanter Neologismus, Adeline.

„Darauf müssen wir anstoßen!“, grölt er jetzt.

„Denkst du nicht, du hattest genug?“

„Definitiv“, lacht er zu meiner Überraschung. „Aber das macht die Sache nur noch spannender.“ Um Himmels Willen. Er schaut immer wieder über meine rechte Schulter und grinst. So auffällig und so oft, bis ich mich schließlich umsehe und eine zierliche Rothaarige in knappen Hotpants ausfindig mache. Sie lehnt an der Theke und spielt an einer Haarsträhne herum.

„Nein. Denk nicht mal daran, El“, warne ich.

„Wieso denn? Wir haben beide drei Jahre nur Sex mit ein und derselben Person gehabt! Du solltest auch die Chance nutzen und dir mal etwas Abwechslung gönnen.“

„Abwechslung? Das ist nicht dein Ernst.“ Ich würde um nichts in der Welt zugeben, dass mich derselbe Gedanke auch schon das ein oder andere mal gequält hat. Die Frage nach dem, was man verpasst. Die Frage nach dem, was man sonst noch haben könnte. Ich schüttle den Kopf, weil mir bewusst wird, wie mies dieser Gedanke im Grunde ist. Aber ich bin mir sicher, dass jeder Mensch in einer längerer Beziehung wenigstens einmal so gedacht hat. Denn so sind Menschen halt. Nicht für die Monogamie gemacht.

„Weißt du, sie hat immer diese eine Sache gemacht, während ich sie genommen habe ...“, erklärt er. Ich reiße die Augen auf und will etwas sagen, doch er redet einfach weiter: „Dieses Geräusch. Wie ein Schwein. So ein Grunzen.“ Er versucht, es zu imitieren und schon wieder bringt er mich herzhaft zum Lachen. Auch wenn die Bilder, die dadurch in meinem Kopf hervorgerufen werden, alles andere als lustig sind. Es rutscht mir einfach so über die aufgerissenen Lippen.

„Da nützt es auch nichts, dass sie einen Körper wie Heidi Klumps hat. Das ist einfach nur abturn.“

„Heidi Klumps?“, frage ich und die Lautstärke meines Lachens entwickelt sich konstant steigend. Ja, es klingt verzweifelt und auf keinen Fall ladylike.

„Aber das ist ja noch so'ne Sache, die magert sich immer mehr ab. Anders als du.“

„Wow, schön. Was möchtest du mir damit jetzt wohl sagen.“ Ich selbst mag meinen Körper. Ich meine, er ist in Ordnung. Ich stehe auf meine Brüste und meinen Hintern und ich habe seit zwei Jahren nicht einen einzigen Gedanken an Diäten verschwendet. Als ob diese Macke, unbedingt dünn sein zu wollen, zusammen mit tumblr-Zeiten und der Pubertät verschwunden ist. Dem Himmel sei Dank.

„Du ... Du hast solche ...“ Er malt Formen mit den Händen in die Luft und fängt schon wieder zu glucksen an.

„Ist okay, Elijah. Lass gut sein.“ Betrunken. Er ist viel zu betrunken, hört dennoch endlich auf herum zu hampeln und lallt nur: „Ich denke, ich geh der mal ‚hallo' sagen.“

Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Katastrophe enden. Aber, was soll ich machen? Der Mann ist fast sechsundzwanzig Jahre alt. Ich habe absolut kein Recht, mich da einzumischen. Also schaue ich ihm nur zähneknirschend hinterher. Die Rothaarige wirft kokett ihr Haar nach hinten, als Elijah sich fast lässig neben sie an die Bar lehnt, erstaunlicherweise. Ein bisschen wackelig, aber immerhin ohne umzufallen. Ich kann nicht hören, was sie sagen. Vielleicht besser so.

Seufzend wende ich mich ab und rühre mit dem Strohhalm in meinem Cocktail herum. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Der Barkeeper hatte irgendetwas von „secret“ und „especial“ geredet, eine Art Mischmasch aus spanisch und englisch. Versteht kein Mensch, ich habe nur genickt und den Cocktail entgegen genommen.

„Eine unbekannte Substanz, schmeckt ein wenig nach Orange und stark nach Geheimnis“, hatte Elijah vorhin versucht zu identifizieren. Ich sehe mich suchend um, aber er ist mit der Rothaarigen verschwunden. Na ganz fantastisch.

Wo soll ich jetzt hin? Zurück in die Villa? Zurück zu dem verräterischen Pack? Zurück zu dem Typen mit der hoffentlich gebrochenen Hand und der Scheischlamme? Apropos, ob Joe wirklich ernsthaft verletzt ist? Wie läuft das eigentlich, mit Krankenhaus im Ausland?

Mir raucht der Kopf und ich überlege, den netten Barkeeper um Asyl zu bitten. Was Joe, Isabella und Elijah können, kann ich schon lange.

***

E L I J A H

Fuck, ich habe die Kleine einfach an der Bar zurück gelassen. Mit diesem Pseudo-Barkeeper und seiner hässlichen Superman Locke, die er sich ständig aus der Stirn gestrichen hat, was Ady jedes Mal einen Seufzer entlockt hatte.

Verdammt, was haben Frauen immer mit diesen südländischen Barmixern. Ich erinnere mich, wie Isabella in unserem ersten gemeinsamen Urlaub auf Sizilien genauso ähnlich auf diese Art von Mann scharf gewesen war. Es hatte mich wahnsinnig gemacht, wie sie damals mit dem Kellner geflirtet hatte.

„Hey? Elijah? Everything okay?“, quatscht diese – wie hieß sie gleich? – Jules mich von der Seite an und zieht mich wieder an sich. Ihr englisch ist noch schlechter als Adys und es regt mich mindestens genauso sehr auf. Alles regt mich auf. Ihre Küsse sind nass und sie stinkt nach Gras. Nein, schlimmer. Nach abgestandenem Bongwasser. Ich erschaudere und habe sofort Bilder aus üblen Zeiten vor Augen.

Überhaupt, was tue ich hier?!

Ich löse mich ruckartig aus ihrem klammernden Griff und taumele zwei Schritte rückwärts. Wir stehen anscheinend an der Tür ihres Bungalows. Ich habe gar nichts mehr mitbekommen, verdammte Scheiße. „Sorry, Jules. I can't do this right now ... I have ...“ A girlfriend? Nein. Ich have no fucking girlfriend, weil sie my fucking best friend gefuckt hat. „Have to go. Tschüss.“ Ich drehe mich um und gehe den kleinen beleuchteten Weg entlang, ohne zu wissen, wo der eigentlich hinführt.

„Seriously?!“, keift sie mir hinterher, ihre künstlich gefärbten, roten Haare schimmern im Licht der Laternen in einem grässlichen orange. Was genau fand ich gerade noch attraktiv an ihr? „Bitch...“, murmle ich und sie schreit noch irgendetwas auf einer fremden Sprache hinterher. Vielleicht russisch. Oder polnisch? Keine Ahnung, Mann.

Mir ist schwindelig und übel. Mein Hirn wirbelt alles durcheinander, ich sehe immer wieder Bilder von Isabella und Joe, von einer weinenden Ady und dieses Geräusch. Zerbrechendes Glas, gemischt mit ihren Schluchzern. Ich habe noch nie einen Menschen so herzzerreißend weinen hören, wie Adeline vorhin. Alleine dafür hätte ich Joe am liebsten sein beschissenes Maul blutig geschlagen. Die Kleine hat ihn so geliebt. Tut es sicherlich noch. Ihre Liebe schien rein ... Anders als Isabellas es je gewesen ist.

Worüber denke ich hier nach?! Ich schüttele wild den Kopf, was sich als Fehler herausstellt. Es fühlt sich an, als würde mir eine Klinge in die Schläfe gerammt. Ich taumele nach rechts, greife ins Nichts und falle unsanft auf trockenes Gras neben den Steinweg, schaffe es nicht, mich wieder aufzurichten. Ich rolle mich auf den Rücken und kneife sie Augen fest zusammen.

Alles dreht sich. Dreht sich.

Die Grillen zirpen so laut, das Geräusch hat mich sonst immer beruhigt. Doch jetzt ist es einfach nur schmerzhaft, wie kleine, rasiermesserscharfe Stiche in meiner Schädeldecke. „Shit ...“ Ohne mich noch weiterhin unter Kontrolle zu haben, entfährt mir ein lauter Schluchzer, lässt meinen ganzen Körper beben und ich lasse es zu. Ich lasse die Tränen zu.

Waves

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