Читать книгу Johannas Reise - Charlotte Emma Haberland - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеJohanna steht am Fenster und schaut in den verregneten Himmel. Vorletztes Jahr, bei der neuen Zimmeraufteilung hätte sie gerne das Zimmer mit Blick in den Park haben wollen, in dem nun ihre Tochter wohnt.
Sie seufzt. Das Wetter geht ihr auf die Nerven. Sie kann nicht vor die Tür gehen und sich auf eine Parkbank setzen, in den Himmel schauen und träumen, wie es sonst ihr täglicher Gang war. Denn dann sieht sie wieder Buchenwälder, wohin das Auge reicht, das satte Grün der Wiesen, die lang gezogenen, mit Schilf umsäumten Ufer, Sümpfe, Moore. Sie hört wieder das aufgeregte Schnattern der Blesshühner, das Rascheln im Schilf und das Glucksen auf dem Wasser. Sie sieht sich wieder durch schattige Alleen an weiten Ackerflächen vorbeiradeln und riecht die Sonne auf ihrer Haut. Vorbei geht die Fahrt an Dörfern und Höfen, hinein in den weiten, blauen Himmel. Sobald sie die goldenen Kuppeln des Schlosses sieht, sind es noch ungefähr zehn Minuten Fahrtweg bis nach Hause, das weiß sie noch wie damals. Meistens machte sie an dieser Stelle eine Pause und genoss den Anblick des Schweriner Schlosses. Hinter dem Schloss, Richtung Stadtmitte, liegt der Marktplatz: Der Altstädtische Markt – hier haben sie viele Jahre lang gelebt: Francesca und Josef, Franz, Lene, Sara und sie.
Auf ihrem Gang sieht sie genau vor sich, wie der Markt von den vielen verschiedenen Geschäften eingerahmt wird. Das Rathaus und das Kaffeehaus Resi befinden sich auf unserer Straßenseite. Das Kaufhaus Weidenbinder liegt gegenüber in der Schusterstraße. Vor dem Dom die Markthalle.
Das Kaffeehaus war Treffpunkt für die Leute dieses Viertels, hier wurden die Neuigkeiten ausgetauscht. Seitdem müssen fünfzig, knapp sechzig Jahre vergangen sein.
In ihrer Erinnerung sieht sie wieder das mittlere der drei roten Giebelhäuser, die Nummer fünf.
Zusammen mit Franz' Eltern wohnten sie in der oberen Etage. 'Unten befand sich Josefs Frisörladen, in dem Franz mitarbeitete. Eine Treppe führte vom Laden zu der Wohnung. Geräusche und Stimmen drangen aus dem Geschäft zu uns nach oben. Das fand unsere kleine Lene sehr beruhigend', erinnerte sich Johanna, 'ihren Mittagsschlaf verbrachte sie deshalb am liebsten in ihrem Rollbettchen auf dem Flur', erinnerte sie sich.
Schwerin ist ihre Heimat und ihre Sehnsucht nach der Stadt war über die Jahrzehnte hinweg ein starker Motor geblieben. Ein Koffer steht stets fertig gepackt neben dem Schrank in ihrem Zimmer. Es kann ja sein, es könnte die Möglichkeit bestehen, wieder heimzukehren, und dann wäre alles schon parat. Jedes Halbjahr wechselt sie den Inhalt des Koffers. Mal Sommerkleidung, mal Winterkleidung.
Vor fünfundvierzig Jahren war ihr die Heimkehr missglückt. Statt der Elbe hatten sie damals einen Nebenarm der Elbe überquert und waren dann in Richtung Hamburg unterwegs, wie sich bald herausstellte. Seitdem saß sie hier fest. „Harvestehude - von Außenalster und Isebekkanal umschlossen“, murmelte sie, es klingt wie das Zitat aus einer Broschüre für Touristen.
„Harvestehude!“, dabei liegt immer noch Ablehnung auf ihrem Gesicht. Sie wendet sich vom Fenster ab und geht zum Schrank.
In Hamburg ist Johanna nie richtig angekommen. Das wollte sie auch nie, innerlich ist sie praktisch immer noch auf Durchreise.
Aus der Tiefe des Schranks holt sie eine hölzerne Schatulle hervor, geht mit ihr unter dem Arm langsam zu ihrem Sessel. Die Schatulle legt sie auf ihren Schoß. Sie muss sich einen Augenblick ausruhen und schließt die Augen.
1946 bekam sie diese Wohnung. 55 m², drei Zimmer. Und seitdem hat sich kaum etwas verändert. Außer die Anzahl der Mitbewohner.
Ja, die erste Zeit in Hamburg war schwer gewesen. Sie waren Flüchtlinge. Sie bekam das Gefühl, unerwünscht zu sein. Sie gewöhnte sich an, nicht aufzufallen und sich nicht kopflos auf die Menschen einzulassen. Zunächst war das Essen knapp. Ihre Lage besserte sich, als Lucas auf dem Schwarzmarkt handelte. Sara, ihr Sorgenkind, ging erst zwei Jahre später zur Schule und blieb eine mittelmäßige Schülerin, sie hatte zuviel verpasst.
Johanna selbst bekam bald eine feste Anstellung in der Klinik in Harvestehude. Sie konnte zu Fuß hingehen. Als Hebamme arbeitete sie damals auf der Wochenstation. In Wirklichkeit war sie froh, nicht mehr im Kreißsaal zu arbeiten. Sie war unsicher geworden. Nach dem Krieg hatte es eine große Umstellung gegeben und viele Neuerungen. Sie fühlte sich dem nicht mehr gewachsen. Auf der Wochenstation dagegen hatte sie ihre Ruhe, meistens normale Fälle. Das war es, was sie brauchte, ihr half, wieder normal zu werden.
Wie fürchterlich war es ihr gegangen, als sie einmal auf der Kinderkrankenstation hatte einspringen müssen und es hieß, einem Kind müsse unbedingt ein Beruhigungsmittel verabreicht werden.
Sie strich mit der Hand über die Schatulle: „Schön anzusehen ist sie immer noch. Hat nicht sonderlich gelitten, all die Jahre. Nur ein bisschen staubig in den Intarsien“, sagte Johanna halblaut zu sich selbst und öffnete sie.
Sie nahm einige Schwarzweißaufnahmen und den Brief heraus, den letzten Brief von Therese. Mit Poststempel von 1944. Daneben gab es einen zweiten Stempel; eine Rücksendung vom Deutschen Roten Kreuz. „Ich hätte ein zweites Mal nach ihr suchen sollen“, sagte sie, „schließlich ist sie meine Schwester.“ Unter den Fotos und dem Brief rutschte eine kleine Kette mit einem lila Amethyst hervor. Als sie das Puppenkleidchen sah, in das die Kette eingewickelt gewesen war, begannen ihre Hände zu zittern: Auf der Brust war ein Judenstern aufgenäht. Schnell Schloss sie die Schatulle und versuchte sich zu beruhigen: 'Die Fotos, schau dir schnell die Fotos an!'
Längere Zeit starrte sie das Bild an. Ihre Hände beruhigten sich allmählich. Ihre Familie auf dem Marktplatz, im Hintergrund das Kaufhaus Weidenbinder.
Jetzt erinnerte sie sich sogar an das Muster des Kopfsteinpflasters, über das sie jahrelang gegangen war. Sie hörte die Stimmen der Menschen, die im Cafe Resi oder in der Weinstube saßen. Sie spürte wieder die Gemütlichkeit und Wärme in diesem Karree, die nicht nur von den ersten Sonnenstrahlen im Jahr ausging.
„Franz, Sara, Francesca, Josef“, seufzte sie. Es drückte in der Magengegend. Francesca war in Johannas Augen die Mutter gewesen, die sie sich immer gewünscht hatte, auch wenn sie vor ihrem großen, gütigen Herz und ihrem Temperament immer zurückschreckte - es war ihr nicht geheuer. Ihre Art war ihr zu unvertraut. Francesca verfügte über eine große Kraft und Stabilität, über ein kaum zu erschütterndes Vertrauen in die Welt und in die Menschen. Ganz anders als Johanna selbst. Nur Stückchen um Stückchen durfte Francesca ihr näher kommen. Francesca hatte Zeit, konnte auf ihre Schwiegertochter warten, aber die Geschichte wartete nicht: bevor sich Johannas Herz für Francescas Fürsorge öffnete, trennte die Kristallnacht die beiden Familien.
Johanna wurde klar, dass sie sie nach dem Krieg einfach vergessen und, wie zu ihrer Schwester, anscheinend einen Vorhang zwischen ihr altes Leben in Schwerin und das neue in Hamburg gezogen hatte. „Es war nicht meine Absicht. Überhaupt nicht“, zitternd streicht sie über das Foto, „es ist mir einfach passiert. Ich habe euch einfach vergessen!“
Ihr Zeigefinger hielt auf Franz' Fotografie inne, zärtlich umfuhr sie seine Figur. Das Bild von Franz war bislang nur in ihrem Gedächtnis aufbewahrt gewesen, sie hatte sich nicht getraut, sein Foto anzuschauen. „Wie schön sein Gesicht aussieht. Das hatte ich ganz anders in Erinnerung. Die schwarzen Locken und die schwarzen Augen. Das Lachen. Sara hat all das von ihm geerbt.“
Johanna schmunzelte; neben ihr, der hochgewachsenen, dürren Blonden, wirkte er wie ein kleiner, untersetzter Italiener aus den 50er-Jahre-Schlagerfilmen. Früher war ihr das so nicht aufgefallen. Franz war in der Tat Halbitaliener: Seine Mutter kam aus Grado, sein Vater aus Bremen. Wie die beiden sich kennenlernten, ist eine Geschichte für sich.
Franz hatte sehr viel von seiner Mutter: vom Aussehen bis zum lebensfrohen Temperament. Gepaart mit dem väterlichen Eigensinn wurde daraus ein hartnäckiger Optimismus, der sie beide blindlings in die Katastrophe führte.
Johanna und er lebten heute noch zusammen, sie war sich sicher, wenn die Zeiten andere gewesen wären.
Franz Grünberg war Jude. Konvertierter Jude. Das war seine Versicherung – dachte er damals.
'Ach, und da war noch etwas', dachte sie, 'es tat immer noch weh.' Das wurde Johanna wieder einmal bewusst. 'Da war ja noch viel mehr gewesen, als dass Franz nur ein konvertierter Jude war. Wenn es nur darum gegangen wäre – aber nein …!' Sie brach ab und schaute Franz in die Augen, die sie auf dem Foto anstrahlten: „Soviel Kraft, soviel Freude. Er hätte nur noch ein paar Wochen aushalten müssen. Dann hätten wir es überstanden gehabt“, flüsterte sie. Vorsichtig nahm sie die Fotografie hoch und schmiegte sein Bild an ihre Wange. Sie Schloss die Augen und neigte ihren Kopf zur Seite und wog ihn sanft hin und her, als hätte sie ein Neugeborenes auf dem Arm oder als könnte sich das Bildnis plötzlich in Nichts auflösen.
'Was war eigentlich genau passiert? Auf einmal war er nicht mehr da.' Sie erinnerte sich, wie hilflos sie damals war, alleine mit ihrer Tochter, ihr Mann verhaftet, niemand wusste, was aus ihm werden würde. Sie hatte bis heute keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. 'Hatte ich Schuld daran?', sie hielt das Bild vor sich und schaute ihn ernst an, 'hatte ich nicht gut genug aufgepasst, war ich doch irgendwo unvorsichtig gewesen?'
Diese Fragen hatte sie sich damals immer und immer wieder gestellt. Sätze, die spiralförmig ihren Schlaf aufsuchten und ihn zerstörten. Sätze, die nachts kamen, weil sie sie tagsüber nicht gebrauchen konnte, weil sie für ihre Tochter da sein musste und weil das Leben weiterging. Und irgendwann, nachdem viele Jahre vergangen waren und sie sich wieder an den Alltag eines Lebens gewöhnt hatte, traf sie jemanden, der erzählte ihr vom Sich-selbst-Vergeben. Und es vergingen wieder viele Jahre, bis sie verstand, was gemeint war. Bis zum heutigen Tage hatte sie das geübt und erst vor ein paar Wochen hatte es aufgehört, an ihr zu nagen: Sie hatte sich und allem vergeben. Fast allem.
Vergessen konnte sie Franz dennoch nicht. Als die Nachricht seines Todes kam, konnte sie es nicht glauben. Tief in ihr wollte sich etwas nicht damit abfinden. Sie hätte ihn gerne wiedergesehen. Heimlich fing sie an, ihn zu suchen. Anmerken lassen hat sie sich vor ihrer Familie nichts; sie biss die Zähne zusammen, hat es so hingenommen und nach vorn geschaut. Ihre Tochter tat damals dasselbe, das wunderte sie schon. Sie schien ihrer Mutter in nichts nachstehen zu wollen.
Nachdem sie die Nachricht von Franz' Tod erreichte, entschloss sie sich Lucas Matelot zu heiraten.
Es ist ja praktisch, einen Mann im Haus zu haben, dachte sie damals, alleine für all die handwerklichen Arbeiten ist das durchaus sinnvoll. Vor etwa fünf Jahren starb Lucas. Herzversagen. Ganz plötzlich. So plötzlich, wie er in ihr Leben getreten war, so plötzlich verschwand er auch wieder. Er führte ein Schattendasein, war genügsam. Seiner Stieftochter war er ein sehr guter Vater. Sara konnte sich mit ihm austauschen, er kannte ihre Sorgen und Freuden und teilte sie mit ihr. Johanna ging damals wieder in der Klinik in den Schichtdienst und war froh, dass sich jemand um ihre Tochter kümmerte. 'Alles war gleichbleibend bei ihm, wie eine stillstehende, graue Sauce. Von Veränderungen hielt auch er nicht viel, da passten wir ganz gut zusammen', erinnerte sich Johanna. Von einem Franzosen, so hatte Johanna gehört, geht Leidenschaft aus. Gerade, was die Liebesdinge betrifft.
Aber das war bei Lucas, dem geflüchteten Franzosen, ganz und gar nicht der Fall. Er hatte absolut keine Lust. Und so kam es auch zu keinem weiteren Kind.
Sie legte die Fotos und Briefe wieder zurück in die Schatulle, verschloss sie und schob sie von sich weg, zur Mitte des Tisches. Dann legte sie ihre Hände in den Schoß und lehnte sich zurück. „Da kommt heute noch was auf mich zu“, seufzte sie, „Franziska wird nicht locker lassen.“
Aber wenn sie nach Schwerin gefahren werden wollte, um dort vielleicht (der Gedanke machte sie immer ganz kribbelig) zufällig Franz zu begegnen, dann musste sie ihrer Enkelin alles erzählen. Es war wie eine Art Handel.
Vieles war in Vergessenheit geraten, tauchte aber mit dem Nahen des Gespräches wieder auf, die Erinnerungen und Eindrücke wurden intensiver.
Es quälte sie aber noch eine andere Sorge: 'Bald, da wird es wieder soweit sein', dachte sie, 'dann kommt wieder die Welle!'
Die Welle ist Johannas Name für die starke Niedergeschlagenheit, die sie seit 45 Jahren jedes Mal in
der Zeit zwischen der letzten April- und der ersten Maiwoche erfasste. Seit sie im Ruhestand ist, also seit gut zwanzig Jahren, wurde diese Welle von Jahr zu Jahr stärker. Im letzten Jahr war es geradezu eine Monsterwelle, da rettete sie nur noch ein Arzt vor dem Ertrinken.
Und jetzt, mit dem beginnenden Frühjahr, war es wieder soweit. Darauf war Verlass!
Johanna stand auf, verließ ihr Zimmer und ging ins Bad. Sie wollte sich noch ein wenig zurechtmachen, schließlich erwartete sie in zwei Stunden Besuch.