Читать книгу Johannas Reise - Charlotte Emma Haberland - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеFranziskas Mutter ist ein Mensch für sich. Das konnte man nicht anders sagen. Begegnete man ihr als Fremder, erschien sie freundlich, ja, man konnte sogar von einer gewissen Offenheit sprechen. Lernte man sie näher kennen, spürte man, wie schnell ihre Stimmung kippen konnte, und ihre Offenheit hielt meist nur den ersten Tag der Begegnung. Sie wurde unruhig, begann die Menschen um sich herum zu bewerten und ließ sich nie ganz auf sie ein. Es schien ihr zuviel zu werden. Nähe zuzulassen war ihr kaum möglich, Gefühle waren ihr suspekt, bei sich selbst und bei anderen. Ihre Sprache war sachlich, von Vernunft gesteuert, ihre Mimik und ihre Gestik waren überschaubar. Als hielte sie sich selbst in Grenzen: Ihre Stimme kehlig, heiser und permanent gelangweilt. Komplimente waren ihr unangenehm. Dabei hatte ihre Mutter schon immer viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt. Insgeheim war Franziska als Kind stolz auf ihre schöne Mutter, mit ihren schwarzen, lockigen Haaren, den dunklen Augen und der grazilen Figur. Doch selbst von ihrer Tochter verbat sie sich strikt jedes Kompliment.
Nicht-auffallen-wollen, das war auch ein Begriff, der zu Sara passte. Sie wirkte oft verloren, ja fast wurzellos. Wie ein Vogel, der zu früh aus dem Nest gefallen war.
Franziska wollte schon seit langem wissen, weshalb sich ihre Mutter so sehr gegen diese Reise wehrte.
Ungefähr seit dem Mauerfall schwebte etwas Unausgesprochenes, Verborgenes in der Luft des Hauses Grünberg-Matelot. Und die Stimmung war dementsprechend miserabel, besonders bei ihrer Mutter.
Noch vor ein paar Jahren hatte sich Franziska von solchen Stimmungen, die sie nicht einordnen konnte, mitreißen lassen. Sie hat sich ihnen dann angepasst. Mittlerweile konnte sie damit besser umgehen, konterte mit einer fröhlichen Stimmung und plauderte nun in Gegenwart ihrer Mutter drauflos. Diese räumte gerade Geschirr in den Küchenschrank. Nur bisweilen reagierte sie auf das Gespräch mit lauterem Hantieren, wie dem Scheppern von Tellern oder leisem Aufstöhnen. Sie vermied es dabei, ihrem Gesprächspartner in die Augen zu schauen. Franziska tat inzwischen übrigens dasselbe.
'Na, mal schauen, was heute kommt. Das angeblich versehentliche, ach so unauffällige Augenrollen hatten wir schon lange nicht mehr', dachte Franziska.
„Oma hat mir vorhin von der Flucht erzählt. Sind dir tatsächlich deine einzigen Schuhe im Bach davongeschwommen, als du deine Füße waschen wolltest? Das gab ordentlich Ärger, wie?!“
„Na sicherlich gab es da Ärger! Bist Du naiv.“
Ein Seitenblick ihrer Mutter, der soviel hieß, wie: 'was will sie denn schon wieder', konnte ihre Tochter auch nicht mehr einschüchtern. Da war das Augenrollen.
„Lucas hat sie dann aber wieder herausgefischt, nicht wahr?“
„Wer?“
„Dein Stiefvater, Lucas Matelot, wenn ich dich erinnern darf. Mein zweiter Opa … sozusagen.“
„Dein Opa? Ach, warum fängst du denn jetzt mit dem wieder an? Der ist doch schon längst tot!“
„Mein zweiter Opa, Mama!“
„Ja, dein Opa, sag ich doch! Und übrigens, nicht nur die Schuhe hat er mir herausgefischt. Mitgehen wollte er auch noch. Nachdem er schon die ganze Nacht vor unserem Lager geschlafen hatte, fühlte er sich wohl dazu berufen, uns zu beschützen, meinte er. Erst hat er die armen Buschwindröschen plattgelegen und dann hat er mir meine langen schwarzen Locken raspelkurz geschnitten. Wie ein Junge sah ich aus! Mutter hat ihn dann halt mitgenommen. Geschadet hat es uns ja nicht. Und den Rest kennst Du ja.“
Sie wurde nervös, das Geschirr klapperte lauter. Jetzt musste Franziska vorsichtig sein, wenn das noch etwas werden sollte. Das Gespräch war in eine andere Richtung gelaufen als geplant. Sie ging drauflos.
“Mama, Lucas Matelot ist nicht dein Vater. Dein Vater ist jemand, den ich nicht kenne. Jemand, der in diesem Hause nie erwähnt wird. Oder nicht erwähnt werden darf. Ich möchte wissen, wer das war: dein Vater, Omas Mann … mein richtiger Großvater! Vor allem möchte ich wissen, warum du dich weigerst, nach Schwerin zu fahren.“
„Das geht dich nichts an! Das ist meine Geschichte. Du hast damit nichts zu tun.“ Sie schleuderte das Geschirrhandtuch nach Franziska. Sie fing es auf.
Saras Blick veränderte sich, als würde sie sich gleich auflösen: „Du bist noch zu jung“, warf sie hilflos hinterher.
„Nein“, rief Franziska im Rausgehen, „es ist unsere Geschichte. Deine, Omas und auch meine! Wir gehören da alle mit hinein.“ Noch einmal drehte sie sich um: „Es kann gut tun, wieder nach Hause zu kommen“, sagte sie und Schloss die Küchentür – ein zweites Geschirrhandtuch kam geflogen.
Nach dem Zwischenfall in der Küche konnte Sara ihr Zimmer lange nicht wieder verlassen. Müde schaute sie auf den braunen Teddy mit der roten Schleife um den Hals.
'Wie damals. Er sieht noch genauso aus. Er hat sich nicht verändert.' Das beruhigte sie. Manchmal glaubte sie, dass sich alles gegen sie verschworen hatte, dauernd waren Menschen und Dinge im Begriff, sich zu ändern. Sie änderten ihre Meinung, ihren Wohnsitz, ihre Arbeitsstelle oder sonst etwas. Tief verunsicherte sie der Tag, als sie feststellte, dass Lucas sich mehr um Franziskas Sorgen kümmerte als um ihre. Schließlich war Sara, damals in ihren Vierzigern, auch bedürftig, ja eigentlich genauso wie ihre Tochter. Das hätte er sehen müssen. Verziehen hat sie das beiden nie. Letztendlich war aber auch Lucas nur ein geringer Ersatz für ihren Vater, die Trauer um ihn hatte nie wirklich aufgehört. Heimlich hatte sie nach Lucas' Tod begonnen, nach Franz zu suchen. Obwohl es keinen Erfolg geben konnte. Franz war, wie sie schnell herausfand, nach seiner Verhaftung in das KZ Neuengamme gebracht worden und bei Kriegsende, während der Auflösung des Konzentrationslagers, dann auf eines der Schiffe gebracht und in der Lübecker Bucht wohl umgekommen. Denn am Strand der Wismarer Bucht wurde später eine männliche Leiche gefunden, die anhand der Häftlingsnummer als Franz Grünberg identifiziert werden konnte.
Sara gab sich die Schuld. Irgendetwas ganz tief in ihr drin sagte beständig, sie hätte Schuld daran. 'Aber warum? Was war passiert?' Sie konnte sich nicht erinnern. 'Wie war es dazu gekommen – und was hatte ich damit zu tun??'
Als einzige Erinnerung aus dieser Zeit hatte sie diesen furchtbaren Abend der Verhaftung behalten. Davor gibt es nur Leere. Ein schwarzes Nichts. An diesem Abend war sie erst wütend auf ihre Mutter, dann auf sich selbst und nachher konnte sie ihrer Mutter nicht mehr in die Augen schauen. Sie bekam Angst vor der Aufdeckung ihrer Tat.
'Hatte ich meinen Vater wirklich verraten? Im Laufe der Jahrzehnte war ich mir immer sicherer geworden. Ich habe mich nie getraut, mit jemandem darüber zu sprechen. Nicht als Neunjährige, nicht als Fünfzigjährige. Und schon gar nicht mit meiner Mutter.'
Sara wusste keine Lösung. So lief sie lieber mit der Schuld herum und blieb bei ihrer Mutter wohnen. 'Ich habe gesehen, wie sehr sie unter dem Verlust litt. Ich konnte sie nicht alleine lassen', in Sara kroch plötzlich Wut empor, sie begann von einer Zimmerseite zur anderen zu laufen, "jetzt sollen wir auch noch nach Schwerin fahren!“, rief sie ihrem Teddy zu, „ausgerechnet nach Schwerin! Auch das noch. Das hat Franziska ja wieder fein hin bekommen. Immer kann sie mich so in die Pfanne hauen. Ein schwieriges Kind. Schon immer gewesen. Immer diese Ängste, schon früh dieses Empfindliche. Das war mir manchmal zu anstrengend. Ich habe sie dann oft einfach stehen gelassen und bin in mein Zimmer – Tür zu, Schlüssel herumdrehen, abschließen. So einfach ist das, wenn man das alles nicht mehr aushält … bäh … !" Sie streckte ihre Zunge raus.
Aber Sara spürte langsam, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich in ihr Schicksal zu fügen: Sie musste die Reise in Kauf nehmen. Was sollte sie auch anderes machen.
Sie begann, einen Zettel zu schreiben.