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Manchmal ist es besser, man bleibt Zuhause

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21 Jahre später.

An einem regnerischen Septembermorgen fuhr ich mit meinem betagten Auto die Küstenstraße runter. Im Radio spielten sie kommerzielle Geschwüre, mit denen ich nichts anfangen konnte.

Natürlich war ich wählerisch, da ich meinen Job als Schallplattenverkäufer sehr liebte und solch

seelenloses Zeug mich eher beleidigte. So steckte ich die Kassette eines unbekannten Musikers in den Player. Er hatte mir ein Demoband zukommen lassen, das mir tatsächlich gefiel. „Songs after the rain …“, dachte ich schmunzelnd, „… das passt ja genau zu dem Wetter.“

Das monotone Hin und Her der Scheibenwischer verstärkte meine aufkommende Müdigkeit, deshalb steckte ich von Zeit zu Zeit meinen Kopf durch das heruntergekurbelte Seitenfenster hinaus.

Mein Blick ging mehrmals zum Innenspiegel, dabei zupfte ich mir die Haare zu Recht. Ob ich einen Friseur aufsuchen sollte?, hinterfragte ich mein Äußeres. Das Hemd ist auch nicht mehr aktuell, gut dass ich ein anderes dabeihabe, ertappte ich mich selbsterklärend.

In unregelmäßigen Abständen sah ich zum Beifahrersitz. Dort lag der Grund meiner Fahrt! Die letzte Wochenendausgabe des Stadtanzeigers, in der eine aufgegebene Stellenannonce meine Neugier geweckt hatte.

Suche männliche Person, als Reisebegleitung ins Ausland. Einwandfreier Leumund und Flexibilität werden vorausgesetzt.

Alles Weitere würde man vor Ort erfahren.

Irgendwie kam mir die Sache seltsam vor. Besonders die eigenartige und geheimnisvolle Vorgangsweise des vermeintlichen Arbeitgebers.

Die Bewerber mussten zuerst in ein abgelegenes Fischerdorf fahren und sich dann telefonisch unter einer angegebenen Telefonnummer melden.

Wie dem auch sei, ich hatte Zeit … sehr viel Zeit, nachdem ich meine Arbeit als Schallplattenverkäufer quittieren musste. Der Grund waren die stark stagnierenden Verkaufszahlen, wie mein Chef Raoul Reyes mir knallhart mitteilte.

Die anschließende Liaison mit einer Tomatenzüchterin, die einen abartigen Hang zu streunenden Katzen hatte, hielt auch nur eine Erntesaison. Der Gestank nach Katzenpisse in ihrem Haus, erreichte bald die Messlatte meiner Schmerzgrenze, was mir den hurtigen Abschied sehr erleichterte. Ebenso schnell endete das anschließende Treffen mit meiner von mir getrenntlebende Frau Ana.

Sie lebte in der Nähe von Almeria, hatte dort einen guten Job und so viel ich wusste keine neue Beziehung. Seit dem Unfalltod unserer Tochter hatte sie sich in der Hoffnung auf Trost dem religiösen Leben zugewandt.

In Gedanken versunken sah ich die Lichter des entgegenkommenden Kastenwagens erst im letzten Moment. Seine Hupe prügelte mich aus meiner Lethargie.

„Gott sei Dank“ hatte mich die Faust des Fahrers, die er aus dem Führerhaus auf und abschwang nicht getroffen.

Nach diesem Vorfall war ich wieder hellwach und 15 Minuten vor dem Ziel.

„Hola Señor, kann ich Ihnen behilflich sein“, sagte eine fast zu freundliche Frauenstimme hinter mir. Ich drehte mich um, schlug das Telefonbuch zu und gab ihr zu verstehen, dass ich gerne in Ruhe telefonieren würde. Die Angestellte hinter dem Schalter erwiderte mit leicht unterkühltem Tonfall, dass man das in einem Postamt eigentlich machen könne.

„Señor, Kabine zwei, links hinten“, fügte sie säuerlich hinzu.

Ihr fuchtelnder Finger zeigte in Richtung der Sprechzellen, während ihr Kopf schon wieder ihrem Kreuzworträtsel zugewandt war.

„Kabine zwei, links hinten“, äffte ich auf dem Weg zur selbigen ihre unangenehm hohe Fistelstimme nach.

Ich holte die Annonce aus meiner Jackentasche und legte sie neben den Telefonapparat.

Während ich den Hörer von der Gabel nahm, sah ich aus den Augenwinkeln heraus eine nicht unbeträchtlich gut gekleidete Señora mit einem Brief in der Hand zum Schalter gehen.

Was treibt eine solche Frau in einem eher kargen Fischerdorf wie diesem, überlegte ich kurz und wählte die Nummer.

Nachdem ich das Tuten des Kammertons „A“ acht bis neun Mal wahrgenommen hatte, wollte ich enttäuscht wieder auflegen, da knackte es in der Leitung.

„Hallo entschuldigen Sie“, meldete sich eine

keuchende Frauenstimme und fragte nach, ob ich wegen der Stelle anrufen würde.

„Ja ich habe das Inserat gelesen und würde gerne erfahren, worum es sich konkret handelt“, sagte ich mit fester Stimme.

„Señor“, leider ist ein Meeting heute aus organisatorischen Gründen nicht mehr möglich und ich bin nicht befugt Ihnen am Telefon die Einzelheiten zu erklären“, fügte sie mit forscher Stimme hinzu. Ich erwiderte, dass das alles ärgerlich sei, jemandem eine dreistündige Autofahrt zuzumuten und ihn dann nichts Näheres erfahren zu lassen.

„Señor“, unterbrach sie, „können Sie morgen Abend zur „Casa Debrisette“ kommen?“

„Deshalb bin ich hier Señora!“

„Muy bien!“

„Wo finde ich die „Casa Debri...“, wollte ich gerade fragen, als das tutende Tonzeichen mir verriet, dass sie das Gespräch beendet hatte.

Ich sah den Hörer verdutzt an, schüttelte verwundert den Kopf und wählte erneut die Nummer, aber es wurde nicht mehr abgehoben.

Die ausländische Färbung ihrer Stimme, fiel mir erst jetzt auf, ich konnte sie aber nicht zuordnen.

Ich steckte die Annonce ein und verließ Kabine

Nummer zwei.

„Was kriegen Sie für das Telefonat?“

„42 Peseten“, sagte die Schalterdame, ohne dabei den Kopf zu heben.

„Habe ich passend“, antwortete ich, legte das Geld auf den Schalter und ging aus dem Postamt mit der Absicht, es nicht mehr zu betreten.

Ich sollte mich irren!

Notgedrungen nahm ich mir in dem Fischerdorf ein Zimmer. Eine Kammer, die so karg war, wie meine Brieftasche, aber für eine Nacht sollte es reichen.

Nachdem ich eine Flasche spanischen Rotweins geleert hatte, schlief ich tief und traumfrei bis zum nächsten Morgen.

Ein lautes Klopfen an der Tür holte mich gegen acht Uhr aus meinem Schlaf. Ich rieb mir verwundert die Augen. Das Mobiliar, inklusive einer Waschschüssel, wie man sie aus alten Filmen kannte, erschien bei Tageslicht noch spartanischer.

„Kein Spiegel …, dann eben keine Rasur!“, murmelte ich achselzuckend.

Als ich das Haus verließ, hörte ich die Vermieterin hinter mir herrufen: „Señor, Sie kriegen noch eine Tasse brasilianischen Kaffee!“

Ohne mich umzudrehen, winkte ich dankend ab und ging die Straße hinunter, wo die Fischerboote lagen.

Ich setzte mich auf den Bootssteg und zog meine Schuhe aus. Die Füße baumelnd, betrachtete ich gedankenversunken mein Spiegelbild im Wasser.

Sollte ich Ana einen Brief schreiben …, dass ich mein Versprechen, mit ihr den Wallfahrtsort Guadalupe zu besuchen bald einlösen werde?

Im selben Atemzug sah ich Ana vor meinem geistigen Auge grollend fragen: „Ja wann Jesus, … wann kriegst du das endlich einmal geregelt? In diesem Leben noch …?“

Es müssen wohl zwei bis drei Stunden vergangen sein, ehe ich mich wieder aufraffte, um den Weg hinaufzugehen. Unterwegs würde ich wohl hoffentlich jemanden treffen, der mir den Weg zur Casa Debrisette zeigen konnte. Zu meiner Verwunderung stellte ich bald fest, dass die Leute hier gegenüber einem Ortsfremden nicht sehr aufgeschlossen zu sein schienen. Wie auch immer, ein afroamerikanischer, älterer Mann mit von Arthrose gezeichneten Fingern, wies mir die Richtung.

Ich bedankte mich bei ihm. Er seinerseits, machte eine Art Verbeugung und verschwand, eine leise Melodie summend hinter einer Bronzestatue des Heiligen San Telmo.

Den Nachmittag verbrachte ich in einer Fischermission. Der Kaffee dort war lausig, aber billig und mit viel Glück bekam man noch einen Keks dazu, der von der hohen Luftfeuchtigkeit so aufgeweicht war, dass man seine Zähne keiner Gefahr aussetzte.

Diese Missionsstationen, auch „Beichtstuhl der Fischer“ genannt, sind in Gegenden zu finden, wo Fischfang zur Hauptbeschäftigung zählt. Die Fischer dort, erzählen sich ihre Heldentaten, schimpfen auf ihre davongelaufenen Weiber, oder prahlen mit anderen Halbwahrheiten. Mit mir redete keiner!

Als es draußen langsam dunkel wurde, bezahlte ich und begab mich auf den Weg.

Nach etwa 15 Minuten stand ich vor einem Haus, das allem Anschein nach die besten Tage hinter sich hatte.

Ein Schild mit großen Buchstaben verriet mir, ich war da!

„Casa Debrisette“, flüsterte ich selbstbestätigend. Das Ganze schien obendrein auch eine Bodega zu sein.

Ich hatte ein Bürohaus oder eine Firma erwartet.

Egal, mir ist momentan alles Recht, was ein paar Peseten in die Kasse spült.

Mit festem und erwartungsvollem Schritt ging ich in die Bodega, suchte einen freien Platz und setzte mich. Die anwesenden Gäste musterten mich kurz, danach setzten sie ihre Gespräche fort. Die Bedienung bequemte sich nach gefühlten zehn Minuten.

„Señor …“, blaffte sie unfreundlich.

„Burritos und ein Glas Rioja, por favor! Ein großes Glas“, rief ich ihr hinterher.

Sie nickte und verschwand hinter dem Tresen. Aus den Musikboxen erklang Celia Cruz`es “La Vida Es Un Carnaval“.

Leise summte ich die Melodie mit und verspürte eine gewisse Wehmut über den Verlust meines Jobs.

Die Bedienung kam, riss mich unsanft aus meiner Vergangenheit und knallte mir meine Bestellung auf den Tisch.

“Señor, ich kenne Sie nicht, darum muss ich das sofort kassieren!“

„Musst du nicht, ich habe vor länger zu bleiben!“, grinste ich sie an.

Sie blieb stur bei ihrer Forderung.

Die Burritos waren nicht übel, der Rioja veredelte das Mahl, ich war vorerst zufrieden. Als ich eine halbe Flasche Wein später auf dem Weg zur Toilette war, entdeckte ich im hinteren Teil der Bodega einen Raum, indem ein kleines Podium aus Holz stand. Darauf befanden sich ein Mikrofon und ein klappriger Holzstuhl.

Auf einem Plakat war zu lesen, dass hier jeder, der glaubte etwas vortragen zu können, an zwei Abenden in der Woche die Möglichkeit dafür bekam. Sittenwidriges oder Ehrabschneidendes gegenüber dem Königshaus sei jedoch zu unterlassen!

Eine Stunde später wechselte ich vom Wein zum Bier. Das Lokal füllte sich! Immer mehr verlor ich den eigentlichen Grund meiner Anwesenheit aus den Augen. Der Alkohol trug seinen Teil dazu bei, dass die Atmosphäre zwischen der Bedienung und mir mittlerweile auf ein akzeptables Niveau angehoben worden war. Sie kassierte nicht mehr sofort!

Das Anschlagen einer hellen Schiffsglocke, forderte die Aufmerksamkeit der Gäste ein. Eine markante Männerstimme, möglicherweise der Besitzer der Bodega, kündigte mit lautem Getöse den seiner Meinung nach letzten großen Slide-Gitarre-Spieler landauf landab, an.

„Leute“, fügte er hinzu: „Big Willy Green kommt von weit her und so sollten wir ihn auch gebührend empfangen! Gracias, und vergesst nicht, dass alles, was die Gage betrifft, auf freiwilliger Basis geschieht, ihr versteht, was ich meine?“

Einer vorn an der Bar schrie: „Ich will auch aufs Podium Luiz!“

Dafür erntete er nur höhnisches Gelächter.

Unter dem verhaltenen Applaus einiger der wenigen interessierten Gäste, verbeugte sich der angekündigte Künstler. Verwundert stellte ich fest, dass der Musiker, jener Mann war, den ich ein paar Stunden zuvor nach dem Weg gefragt hatte. Er verbeugte sich nochmals vor dem Publikum und nahm auf einem Stuhl Platz. Um seine Stimme zu ölen, nahm er einen kräftigen Schluck, stimmte seine Gitarre nach und legte mit einem fulminanten „Sweet Home Chicago“ los.

Ich war begeistert, aber noch mehr erstaunte mich, dass dieser Mann trotz seiner offensichtlichen Arthrose so zu spielen vermochte. Es dauerte nicht lange, bis er die Bodega zum Swingen brachte.

Später kam ich mit „Big Willy Green“ ins Gespräch.

Er erzählte mir aus seinem Leben in den Swamps of Louisiana und das seine Frau der Grund ist, der ihn nach Andalusien verschlagen hatte. Den Blues zu spielen empfand er als seine Passion. So wie es damals in den 1940 Jahren ein gewisser Robert Johnson und andere Spieler getan hatten, allerdings vorwiegend vor schwarzem Publikum.

„Weiße verachteten uns, aber das hat sich inzwischen etwas geändert, nicht wahr?“

Ich stimmte ihm zu. Neugierig wollte ich von ihm wissen, wie sich die Geschichte als Robert Johnson „Crossroads“ schrieb, zugetragen hatte.

„Yeah, Man“, sagte Big Willy.

„Robert versprach dem Teufel, den er an einer Kreuzung getroffen hatte, ihm seine Seele zu verkaufen, wenn er ihn zu einem großen Bluesman machen würde.“

„Schon verrückte Zeiten gewesen damals“, fügte der Musiker nachdenklich hinzu, trank seinen von mir bestellten Drink aus, fluchte noch was Unverständliches und ging zurück auf die Bühne, die nun wieder „die Seine“ war.

„Worried Life Blues“ ertönte mit Gänsehautfaktor.

Ich verdrückte mich an meinen Platz neben der Eingangstür. Big Willy Brown sah ich nie wieder.

Die Bedienung kam zu mir, nachdem ich mich gesetzt hatte.

„Señor, sind Sie hier wegen eines Vorstellungsgespräches?“

„Ja, woher weißt du das?“

Ohne meine Frage zu beantworten, teilte sie mir mit, dass ich im ersten Stock des Hauses erwartet werde. „Zimmer 112!“

Ich überlegte, ob ich nicht einen weiteren Kaffee zum Aufmuntern bestellen sollte. Leichtes Unbehagen machte sich Magen aufwärts breit.

Ach was, verbannte ich diesen Gedanken wieder und bezahlte den Rest der Zeche.

Da ich keinen Aufgang im Haus finden konnte, ging ich ins Freie und sah mich um. Seitlich der Hausmauer war eine Treppe angebaut, offensichtlich war das der Weg nach oben.

Strasse nach Andalusien

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