Читать книгу VERBUNDEN - Chris Fabian - Страница 7
Luna
ОглавлениеDavid hatte ihr seine Gesellschaft angeboten, doch sie hatte abgelehnt. Sie musste allein sein, versuchen, Max zu erreichen. Ihre Gedanken sortieren, dem Schmerz, der irgendwo in ihr vergraben lag, in Ruhe nachspüren. Mom und Dad waren tot, Max unerreichbar und die Polizei redete nur in Rätseln. Wie sollte sie bloß die Nacht überstehen?
Sie hatte den kleinen Nebenraum mit einem Einzelbett ausgestattet und zum Gästezimmer umfunktioniert. Bar jedes Zeitgefühls, starrte sie die einzige freie Wand an, an der nichts als eine Dartscheibe hing. In ihrer Hand lag kalt der Schaft des Dartpfeiles und am Boden strich Minka, die Katze, um ihre nackten Fesseln und begehrte Streicheleinheiten.
Nicht einmal Tom hatte Luna informiert, sie wusste doch selbst nichts Genaues. Nur, dass hier etwas verdammt falsch lief. Eigentlich müsste sie traurig sein. Sie fühlte nur diese inneren Vorwürfe, die mit Nachdruck bei ihr anklopften. Sie war Psychotherapeutin. Schon von Berufs wegen hätte sie etwas ahnen müssen. Aber war das wirklich möglich, wenn man sich kaum noch sah oder nur ein paar Worte am Telefon wechselte?
„Wie geht es euch, Mom?“
„Als ob dich das interessierte! Die Geschäfte laufen eins a. Dad macht jetzt verstärkt in Brillanten.“
„Das ist – schön. Grüß ihn von mir.“
„Wie es meiner Tochter so geht, erfahre ich ja aus der Zeitung. Was für ein Glück, dass du den Doktor hast!“
Damit meinte sie Tom. Und wenn es Tom gutging, so folgerte sie, dann war auch Luna automatisch auf der Sonnenseite. Erst kürzlich hatte es einen Zeitungsbericht über die hochmoderne neue Klinik gegeben, in der er arbeitete. Hauptsache Erfolg, das war Moms Credo.
„Aber wo ich dich am Telefon habe, Mom - ich würde gern mit dir über Max …“
„Vielleicht ein andermal. Die Mittagspause ist ja so kurz, und Dad ruft nach mir.“
„Ja, Mom. Natürlich, Mom.“
Sie fragte sich, wie lange sie da schon stand, mit dem Rücken gegen die Gästezimmertür gelehnt, im gedimmten Schein der Deckenlampe? Grässlich allein kam sie sich vor, nur Liwanu, eine der größeren von den Indianerfiguren im Regal links, schaute sie an.
Von irgendwoher drang das Rasseln des Telefons an ihr Ohr. Um diese Zeit dürfte es Tom sein. Selten verging ein Tag, ohne dass er sich bei ihr meldete. Er rief an, um Luna eine gute Nacht zu wünschen, oder ihr ein paar zärtliche Worte ins Ohr zu raunen.
Ein bitteres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, und sie sah ihn direkt vor sich, mit seinem klaren Blick und dem energisch gereckten Kinn. Sie würden bald Hochzeit feiern. Doch, so weh es ihr tat und so sehr sie das Gewissen plagte: Selbst seine Stimme konnte sie im Moment nicht ertragen. Sie sollte ihm eine SMS schicken, bevor er auf die Idee kam, noch heute Nacht hier aufzukreuzen.
Vor ein paar Wochen erst hatte er mit den Yowetts wegen der geplanten Hochzeit gesprochen. „Sie sind deine Eltern und wir sollten es ihnen persönlich sagen.“ Es bestand nicht gerade eine Liebesbeziehung zwischen ihnen, doch er schien sie schon aufgrund ihrer Zielstrebigkeit zu bewundern und tat alles für ein besseres Familienklima. Was Luna ihm zu sagen hatte, würde ihn treffen.
Die Sonne musste längst untergegangen sein. In dem leichten Rock und der dünnen Strumpfhose fröstelte Luna. Sie stieß einen Seufzer aus und umfasste den Dartpfeil fester. Die Wanduhr tickte. Lunas Augen brannten und sie schloss sie für einen Moment. Dass es mit ihrer Trauer schon nicht so schlimm werden würde, nach all den Streitereien der letzten Jahre – daran hatte sie geglaubt. Die vergangenen Stunden hatten ihr Recht gegeben. Nun aber bahnte sich ein Gefühl den Weg ihre Kehle herauf, das ihr Angst machte. Sie hatte es nicht verhindern können, schoss es ihr durch den Kopf, und es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Aus. Vorbei. So fühlte sich also Verlust an, von dem sie oft in der Praxis hörte.
Der Schrei verließ ihren Mund und es war ihr egal, ob die Nachbarn sich beschwerten. Langsam hob sie die rechte Hand, zielte und warf den Pfeil. Die Dartscheibe erzitterte. Zum ersten Mal, seit Tom Luna am Silvesterabend das hässliche Ding zum Geschenk gemacht hatte, hatte sie das Bulls Eye, die Mitte getroffen.
***
Ein schabendes Geräusch weckte sie, nachdem sie doch noch ins Bett geschafft hatte. Sie zog die Decke bis an den Hals und lauschte mit angehaltenem Atem. Machte sich jemand an ihrer Wohnungstür zu schaffen? Am frühen Morgen? In der Gegend war schon öfter eingebrochen worden. Sie sollte aufstehen, sollte … das scharfzahnige Küchenmesser mit dem schwarz-weißen Schaft, warum nur hatte sie keine Pistole im Nachttisch, wie Cindy …
Minka in ihrem Korb an der Wand sah sie mit großen Augen an. Aber es herrschte Stille, Luna musste sich getäuscht haben. Gut so, dachte sie und entspannte sich. Sie wusste nicht, ob sie Kraft finden würde, das Bett an diesem unseligen Tag zu verlassen. Krank war sie und kraftlos. Sollten die anderen die wichtigen Entscheidungen für sie treffen!
Aber das Bild einer weißgestrichenen Holztür von einem Strandhaus am Pazifik vor Augen, erinnerte sie sich daran, dass die Polizei sie in Bel Air erwartete. Die Tür, hinter der das Unfassbare passiert war.
Sie zuckte zusammen, als jemand an ihre Schlafzimmertür klopfte. Es war doch nicht etwa Tom? Sie hatte ihm eine kurze Nachricht geschickt, dass sie allein sein wollte, Migräne und so, und sich heute im Laufe des Tages bei ihm melden würde. Ihr Herz klopfte schneller. Jetzt, da er vielleicht vor ihrer Tür stand, brach die Sehnsucht sich Bahn, mit einer Intensität, die sie selbst verblüffte. Es war dumm von ihr gewesen, Tom abzuwimmeln. Sie liebte ihn von Herzen und er war der Mann, mit dem sie in ein paar Wochen vor den Traualtar treten würde. Nichts wollte sie mehr, als sich in seine Arme zu schmiegen und von ihm gehalten zu werden, in der Gewissheit: Gemeinsam ließ sich alles ertragen.
***
Als die Tür aufging, sah Luna blinzelnd in Cindy Bolds herzförmiges Gesicht. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn, und schien dieses Gesicht wie ein blutroter Riss in zwei Hälften zu schneiden. Luna wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, doch sie verbarg ihre Enttäuschung darüber, dass es nicht Tom war, der da mit ernster Miene vor ihr stand.
„Du hier?“
„Was für eine Begrüßung! Da fängt doch der Morgen gut an. Ich mag dich auch, Lu.“
„Wie – spät ist es?“ Sie griff sich an den brummenden Schädel.
„Es ist Viertel vor Zwölf“, sagte Cindy, ihren Ton in Mitleid gekleidet. Meinte sie wirklich die Uhrzeit? Sie warf ihren Kopf in den Nacken, ging und öffnete die Fensterflügel weit. Luna kroch tiefer unter die Decke.
„Brr, ist das kalt hier drinnen …“
„Es riecht etwas muffig.“
„Tut mir leid. Ich war gestern noch joggen.“ Das war glatt gelogen. Aber Luna hatte sich, nachdem sie die Schlaftablette eingenommen hatte, nicht mehr zu einer Dusche aufraffen können.
Sekundenlang trafen sich ihre Blicke.
„Wie viel weißt du, Cindy?“ Frische, laue Luft strömte ins Zimmer und brachte mit sich die Abgase der Madison Ave und den Duft des Mandelröschens vom Balkon der Nachbarn. Der Verkehrslärm dröhnte ungewohnt laut in ihren Ohren. Sie sollte aufstehen, sollte das Fenster schließen und sich anziehen. Sie sollte aktiv sein. War es nicht das, was sie ihren Patienten riet? Alles ist besser, als sich selbst zu bemitleiden.
„Ich habe mit David gesprochen“, sagte Cindy mit beleidigtem Unterton. „Hör mal, das könnt ihr nicht mit mir machen! Bin ich deine Freundin oder nicht? Erst die ganze Aufregung in der Praxis, dann die verschobenen Termine. Eine kleine Richtung, worum es eigentlich geht, wäre nett gewesen, nicht wahr?“
„Du hast ja recht.“
„Hier, ein Taschentuch.“ Cindy war vor den Schrank getreten und öffnete eine Tür. „Und keine Sorge, die Patienten erfahren von mir nichts.“ Das glaubte sie ihr aufs Wort. Einen diskreteren Menschen als Cindy musste man erst einmal finden.
„Danke. Was sagt denn Dr. Bowers dazu?“
„Dass du nicht zur Arbeit kommst? Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen! Nur weil du mal krank bist? Und selbst wenn du überhaupt nicht mehr kämest – wir sind alle ersetzbar.“
„Du nicht.“ Sie schaffte es sogar, ihr zuzuzwinkern. Cindy verzog keine Miene.
„Hör auf, ihn zu idealisieren und dich kleinzumachen. Klar ist er der Ältere und hat die größere Berufserfahrung. Und ja, er war der Gründer der Praxis. Aber er ist nicht Gott und du kein graues Mäuschen. Inzwischen gilt dein Name doch mehr als seiner. Er nutzt deine Dankbarkeit aus. Wie oft bist du für ihn eingesprungen, hm? Es bringt ihn nicht um, mal einen Patienten zu übernehmen.“
Na ja, wo sie recht hatte! Seufzend griff Cindy nach frischer Unterwäsche, Hose und Oberteil und verfolgte wortlos, wie Luna die Bettdecke beiseiteschob. Das Lächeln, das sie nun zeigte, verbreiterte sich zu einem Grinsen. „Neckisches Nachthemd, übrigens. Oder trägt man so was neuerdings beim Joggen?“
Luna sah an sich hinunter. Himmel, sie hatte vergessen, Rock und Bluse auszuziehen, und zu allem Überfluss zierte ihre Strumpfhose eine fingerbreite Laufmasche.
„War´s das fürs Erste von Misses Oberschlau?“, fragte sie schnippisch. Etwas Blaues landete neben ihr - es waren ihre Jeans. Etwas Rotes folgte - ihr Halbarmpulli mit dem angeschnittenen Kragen. Die Aktion nahm Minka zum Anlass für eine Flucht Hals über Kopf, hinaus auf den kleinen Balkon.
In einer vorsichtigen Bewegung rollte Luna zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und spürte einen scharfen Schmerz, der ihr Gehirn sprengen wollte.
„Himmel, was ist das?“
Cindy deutete auf die leere Rotweinflasche am Boden, während nun Luna ihre Sachen zu einem Bündel rollte und es sich unter den Arm klemmte.
„Deine Abendverabredung? Peter Flemming – Cabernet Sauvignon.“
Luna erhob sich ächzend. Sie wusste, dass Cindys Eltern zu den starken Alkoholikern zählten, und hörte einen tadelnden Unterton.
„Viertel vor zwölf, hm?“ Sie blickte sich nach der Armbanduhr um. „Ist das dein Ernst?“
„David hat mir gesagt, dass du heute noch in Bel Air erwartet wirst. Aber das schaffst du. Mouse, dein Flitzer, hat dich noch nie im Stich gelassen. Falls die Interstate 5 nicht wegen eines Unfalls zum Nadelöhr wird.“
„Wie sie das praktisch stündlich tut …“
„Nun geh schon duschen. Ich koch uns Kaffee.“
„Erst brauch ich ein Aspirin.“ Jedes Wort und jeder Schritt schickten Schmerzwellen durch Lunas Nervenbahnen. Doch sie drehte sich vor dem Bad noch einmal um.
„Danke“, sagte sie leise zu Cindy, die ihr gefolgt war. Sie blickte in das helle Grau warmherziger Augen unter dem roten Pony. „Ich hab ein Glück, dass ich dich habe.“ Das meinte sie aus tiefstem Herzen. Und obendrein wusste sie Minka während ihrer Abwesenheit in Cindys liebevollen Händen.
Auf eine subtile Art spürte sie Heimweh, umso mehr, je näher ihr Ziel rückte. Ein Flattern in der Magengrube begleitete sie, doch es konnte genauso gut Angst sein. Angst vor der Begegnung.
Sie setzte den Blinker und startete das Überholmanöver. Sie lag gut in der Zeit, auch wenn sie vor dem Losfahren den Umweg zum Geldautomaten genommen hatte, weil aus unerfindlichen Gründen das Portemonnaie schon wieder gähnende Leere aufwies. Es stimmte, was Cindy sagte. Mouse hatte ihr treue Dienste geleistet. Ein Eldorado Cabriolet aus den frühen Achtzigern.
„Ein Geschenk“, hatte Tom gesagt. „Zur Verlobung.“ Doch hatte nicht so ein teures Geschenk den Beigeschmack von Abhängigkeit?
Sie hatte den Wagen aufgrund seiner Farbe liebevoll Mouse getauft, und gegen Toms Protest darauf bestanden, ihn zu bezahlen. Bis zum heutigen Tag stotterte sie die Raten ab.
Tom mussten die Ohren geklingelt haben, er rief im selben Moment an.
„Hi Darling.“
„Wie schön, dich zu hören. “
„Sag mal, wo steckst du bloß? Der Präsident der Vereinigten Staaten ist einfacher zu erreichen.“
„Ich wollte dich auch gerade anrufen.“
„Deine E-Mail gestern …Stimmt was nicht?“
„Ich bin auf dem Weg nach Bel Air“, bekannte sie, und lauschte dem dünnen Klang ihrer Stimme nach.
„Noch mal zum Mitschreiben: Hab ich Bel Air gehört? Ist was mit Max? Luna, sprich mit mir! Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt.“ Dass sie zu ihren Eltern unterwegs war, schloss er offenbar von vorneherein aus.
Sie überholte den letzten LKW und ordnete sich rechts ein.
„Versprich mir, dass du Ruhe bewahrst, Tom. Du kannst mir nicht helfen, und es bringt absolut nichts, wenn du versuchst, Dienstpläne zu tauschen.“
„Was zur Hölle hat Max wieder angestellt?“
„Max geht es gut“, murmelte sie, ohne es wirklich zu wissen.
„Ist was mit … dir?“
Ein Hindernis bildete sich in ihrer Kehle, das ihr das Schlucken erschwerte.
„Es geht um meine Eltern. Die beiden sind …“ Ein Rauschen in der Leitung, dann Stille. Steckte sie in einem Funkloch?
Sie wischte die Träne von ihrer Wange und sah auf die Uhr. Tom wurde gleich im OP gebraucht, sie konnte ihn erst in ein paar Stunden wieder erreichen. Vielleicht war das gut so, er würde versuchen, nach Bel Air zu kommen. In einer solchen Stresssituation konnte weiß Gott was passieren. Am Ende baute er vor lauter Hektik noch einen Unfall.
Der Verkehr zog sich zäh dahin. Vor über zwei Stunden hatte Luna auf die I-405-N gewechselt und schaltete nun an der Ausfahrt 69 in den dritten Gang herunter. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah sie dem Treffen mit Max entgegen, und freute sich doch wie ein Kind darauf, ihn schon in einer halben Stunde in die Arme zu schließen. Hoffentlich war er zu Hause! Zur Arbeit war er sicher nicht. Mit dem Besitzer der Tanke, wo er zuletzt für ein paar Dollar die Stunde ausgeholfen hatte, hatte er sich zerstritten. Das war Lunas letzte Info, bevor sie sich eine kleine Verschnaufpause in ihrer Beziehung zu Max gegönnt und die Besuche fürs Erste gecancelt hatte, um nicht selbst vor die Hunde zu gehen.
Sie hoffte so sehr, dass Max irgendeiner Arbeit nachging, doch ihr Bauchgefühl sprach eine andere Sprache.
Sie warf eine Gaviscon ein, gegen den Magendruck, von denen sie für alle Fälle ein Briefchen im Handschuhfach aufbewahrte, und spülte mit einem Rest Wasser aus der Dose hinunter.
Dieser ziehende Schmerz … Sie ahnte, dass es Sehnsucht war. Eine Sehnsucht, die kein Wunder der Welt mehr stillen konnte. Der Sergeant am Telefon hatte einen bösen Verdacht geäußert: „Sorry, Miss. Aber das mit Ihren Eltern – wie es aussieht, hat Mr. Yowett erst sich selbst und dann seine Frau vergiftet.“
Ob die Polizei Max schon aufgespürt hatte und er bereits Bescheid wusste? Fast hoffte sie es. Die Momente, als sie ihn vergeblich telefonisch erreichen wollte, kamen ihr noch einmal in den Sinn.
„Etwas stimmt nicht“, hatte sie, an Cindy gewandt, gemurmelt. „Ich spüre es. Genau hier.“ Sie hatte eine Hand auf ihre Herzgegend gelegt und gleichzeitig den Mondstein berührt. Zwillinge einte ein besonderes Band, das hatte Luna schon früh erfahren. Ging es Max nicht gut, dann fühlte sie diesen schmerzhaften Druck tief in ihr drinnen, diese lähmende Furcht, den Wunsch, ihn sofort am Telefon zu sprechen oder persönlich zu sehen. Daran änderte auch eine längere Funkstille nichts.
Cindys Reaktion war wieder einmal sehr einfühlsam ausgefallen.
„Du hast Angst. Du hast Angst, dass er wieder abrutscht.“
„Ach Cindy, das ist er doch längst. Mein Bauch sagt mir das. Ich weiß nicht, woher er das Geld nimmt, um ständig stoned zu sein. Ich nehme an, er macht wieder krumme Sachen. Hin und wieder meldet sich sein Vermieter bei mir, weil er fürchtet, dass Max aus dem Keller eine Müllhalde macht. An seine Gesundheit will ich gar nicht denken.“ Sie sah Cindy lange an. Dann nickte sie. „Ich habe wirklich Angst. Dass ihm etwas Ernstes zugestoßen sein könnte.“
„Kein Wunder. Wo du gerade die Hiobsbotschaft von deinen Eltern erhalten hast. So etwas sitzt einem in den Knochen. Aber glaub mir: Es wird alles gut.“
Sie spürte Cindys Umarmung noch, als sie mit Mouse in Richtung Etiwanda Ave abbog. Tat es das wirklich, wurde alles gut? Luna hatte das Gefühl, in einem Leichenwagen zu sitzen, anthrazitfarbener Lack, schwarzes Leder, und sie selbst war die Totengräberin. Sie war die, der die Formalitäten blieben. Die sich zu spät kümmerte.
Sie atmete tief. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sie sollte über ihren eigenen Schatten springen. Wenigstens Max sollte wieder spüren, dass sie eine Familie waren.
***
Zwei Dutzend Namen zierten das Klingelschild, Namen, die vor Lunas Augen verschwammen, als wären Tränen darüber geflossen. Hinter ihrem Rücken tobte das Leben. Menschen hasteten vorüber, Autos hupten, irgendjemand spielte auf der Gitarre und sang ziemlich schräg den Song „Halleluja.“
Endlich konnte sie den Daumen auf Max Yowetts Klingel pressen, wo auf dem Schildchen nur noch ganz blass Max´ Name, und der von Juli Winter kaum mehr zu lesen war. Wohnten die beiden vielleicht nicht mehr hier? Die Rollläden an dem Fenster zu seinem Keller-Atelier, dessen Miete sie für ein Jahr übernommen hatte, waren heruntergelassen.
Den lauen Temperaturen zum Trotz fröstelte Luna und sie zog ihre dünne Baumwolljacke enger um ihre Schultern. Geduld war nicht gerade ihre Stärke, auch wenn ihr Beruf ihr exakt diese Eigenschaft abverlangte.
„Na Süße?“, säuselte eine Stimme. „Wie wär´s mit uns beiden? Ich zahle fünfzig Dollar. Zwanzig extra für Französisch.“ Automatisch drückte sie ihre Handtasche mit dem gut gefüllten Portemonnaie enger an ihren Körper. Jetzt schämte sie sich, dass sie für einen Augenblick Cindy verdächtigt hatte, ihr letzte Woche Geld aus der Brieftasche genommen zu haben. Leider vermisste sie auch aktuell einen Hundert-Dollar-Schein. Sie erinnerte sich, dass sie das Portemonnaie teils unbeaufsichtigt hinter dem Tresen hatte liegenlassen.
Aber Cindy war ein Engel, im Vergleich zu einem Typen wie diesem hier, und es konnte genauso gut ein Patient an Lunas Geld gegangen sein.
„Verschwinde“, zischte sie und presste ihren Daumen mit Nachdruck auf den Klingelknopf. Der Kerl hatte sie wohl nicht alle! Sie schwor sich, dafür zu sorgen, dass Max dem kriminellen Milieu den Rücken kehrte und sich in San Diego eine Bleibe suchte.
Der Typ ließ nicht locker und zupfte an Lunas Haaren.
„Weich wie ein Kätzchen“, bemerkte er. Die Ladung Tabakrauch, die er ihr ins Gesicht stieß, stank verdächtig süßlich. Er trat näher. Presste sich an sie.
„Komm schon. Du willst es doch. Schlüssel vergessen? Kein Problem, ich wohne im Nachbarhaus. Hab denselben Hausverwalter.“
Er machte Anstalten, sie mit sich fortzuziehen. Doch sie blieb stehen und starrte in sein pickliges Gesicht.
„Lass mich in Frieden. Sonst rufe ich die Polizei.“
„Und Humor hat sie auch noch“. Der Kerl, er war um die dreißig, verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen, sodass sich seine Lippen teilten und seine fauligen Zähne preisgaben.
Ruhe bewahren, sagte sie sich, auch wenn ihr Herz klopfte. Jetzt hoffte sie fast, dass Max das Klingeln überhört hatte. Das Früchtchen hier ging es nichts an, wen sie besuchen wollte. Es war keine Neuigkeit, dass man in Northridge gefährlich lebte, wo sich Gangs gegenseitig bekämpften und dass es in diesem Stadtteil von L.A. mehr Gewalttaten gab als in manch anderem.
Kurz überlegte sie, die Beine in die Hand zu nehmen und aus dem Dunstkreis des ekligen Typs zu fliehen. Aber da war er schon hinter sie getreten und packte sie mit einer Hand hart am Oberarm. Der Ring an seinem Finger drückte tief in ihr Fleisch.
„Du riechst nach Himmel …“, flüsterte er, ganz nah an ihrem Ohr. Berichte von Patientinnen fielen ihr ein, die sexuell genötigt und vergewaltigt worden waren und ihr Leben lang darunter litten, und ihr brannten, trotz aller guten Vorsätze, doch besser ruhig zu bleiben, die Sicherungen durch. Sie vergaß, dass sie Max vor dem Kerl hier schützen wollte. Nur ein Gedanke beherrschte sie: Tu was. Der blufft nicht. Der zerrt dich in eine Ecke und dann …
In ihrer Hosentasche spürte sie die kühle Glätte des Autoschlüssels. Ihre rechte Hand fuhr aus der Tasche, während sie mit der flachen Linken wahllos auf Klingelknöpfe drückte.
Mehrere Stimmen drangen gedämpft aus der Sprechmuschel. „Hallo? Ist da wer?“ Jemand öffnete, ohne, dass Luna geantwortet hatte.
Sie holte tief Luft und wirbelte herum. Die Spitze ihres Autoschlüssels bohrte sich in die Weichteile des Kerls hinter ihr. Dann ging alles blitzschnell. Der Typ krümmte sich, und Luna ergriff die Gelegenheit, schlüpfte in den Hausflur und drückte die schwere alte Tür zu, bevor er ihr folgen konnte.
Ihr Herz pochte wild. Hinter dem Holz hörte sie den Mann schreien.
„Du verdammte Hure. Ich kriege dich. Verlass dich drauf.“
Sie schloss die Augen und spürte die raue Kühle der Treppenhauswand. Es roch nach Bohnensuppe. Eine steinalte Frau mit zerknautschtem Hut kam Luna von oben entgegen und verharrte mitten auf einer Stufe. Sie hob ihren Stock und zeigte auf Luna.
„Jesus, Schätzchen, geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja grau wie die Wand.“
Luna winkte dankend ab, als die Alte Hilfe anbot. Von oben rief jemand, aber Luna enthielt sich der Antwort. Sie wartete ab, bis sich die Eingangstür hinter der alten Frau schloss. Dann huschte sie die Stufen hinab, und stand vor Max´ Atelier.
Niemand öffnete, als sie klopfte. Die Klingel war wohl die einzige im Haus, die nicht funktionierte. Wieder spürte Luna diesen Druck in der Magengegend. Sie klopfte eindringlich und ignorierte die fluchenden Stimmen hinter der Nachbartür, die sich über den Lärm beschwerten. Schließlich wählte sie Julis Nummer, die sie beim letzten Treffen mit Max und seiner neuen Flamme ins Mobiltelefon eingespeichert hatte. Keine Ahnung, ob Juli noch aktuell war, aber einen Versuch war es wert.
Sie bekam nur die Mailbox. Bitte, Juli. Wenn du mich hörst, melde dich. Es ist dringend. Hier spricht Max´ Schwester Luna.
Sie spürte, wie ihr die Tränen heiß über die Wangen kullerten, und sie fühlte sich wie das ängstliche kleine Mädchen, das, mit dem Teddy im Arm, vor der Schlafzimmertür stand und zu Mom ins Bett wollte, und nicht wie eine gestandene Psychologin, die stets und überall Rat wusste.
Eine Weile kauerte sie in der Ecke links vor Max´ Wohnung, die Knie angezogen und mit den Armen umfangen, den Kopf auf den Knien ruhend. Alles in ihr fühlte sich wund an. Sie hatte versucht, ein normales Leben zu führen, ein eigenes Auskommen zu haben, vielleicht eine Familie zu gründen. Aber diese Normalität war schlichtweg Illusion. Es war nicht die Norm, im Überfluss aufgewachsen zu sein und später genau dagegen zu rebellieren. Und es war nicht die Norm, einen drogenabhängigen Kleinkriminellen zum Bruder zu haben, der bei Bedarf einfach untertauchte.
Oben im Eingangsbereich hörte sie Leute kommen und gehen, und sie hoffte inständig, dass der kranke Typ von vorhin nicht unter ihnen war. Ihr Telefon klingelte. Es war David, doch sie drückte ihn weg. Sie würde seine Stimme jetzt nicht ertragen können. Seine Fragen, auf die sie keine Antworten hatte. Gleich darauf hörte sie wieder ein Klingeln.
„Hier ist Juli“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Luna sprang auf, stieß den Atem hart über ihre Lippen und ihre Hand krampfte sich um das Telefon.
„Juli, endlich!“
Eine Pause entstand.
„Du weißt es noch nicht, oder?“
***
Max lag auf dem Rücken, den Blick zur Decke gerichtet. Schläuche hingen an seinem Arm bis über die Matratze. Ein Gerät machte ein rhythmisches Geräusch, wie den Takt eines Herzschlages. Auf der Intensivstation des Northridge Hospital Medical Centers roch es nach Sterillium und Schweiß.
Luna schwankte und musste sich am Bettgitter stützen. Eine eiskalte Hand schien nach ihr zu greifen. Blitzartig wurde ihr klar, dass derjenige, der da vor ihr lag, nicht mehr ihr Bruder war. Der vor ihr lag, schien so weit weg zu sein, wie er es nicht einmal während seiner Drogen-Glanzzeiten gewesen war. Zu spät. Sie hatte zu lange gewartet und ihren Besuch Tag für Tag, Woche für Woche hinausgezögert. Würde sie nie wieder Max´ Stimme hören? Ihn nie mehr seiner Sucht und seiner Faulheit wegen beschimpfen, nie wieder gute Ratschläge erteilen, aber auch nie wieder über seine Witze lachen?
Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Schon lange blieb sie der Kirche fern und längst hatte sie das Beten eingestellt. Aber wenn es einen Gott gab, wieso ließ er das hier zu? Und wann hatte das eigentlich angefangen, wann hatte Max aufgehört, für sich zu sorgen, und zu sterben begonnen?
Lunas Jugend zog an ihr vorüber. Die wenigen Fotos in dem blauen Album, Max und Luna, kurz nach der Geburt, bei der Einschulung und später noch ein paar weitere Aufnahmen, als sie auf dem College waren. Sie sah auch die Schlagzeilen vor sich: Max in Handschellen, mit müden Augen von einem Zeitungsartikel zu Luna an ihrem Frühstückstisch in San Diego herüberblickend.
Ein Pfleger betrat den Raum. Er trug, wie Luna, Schutzkittel. Eine Weile sah sie ihm zu, wie er sich an Geräten zu schaffen machte und Max irgendein glasklares Mittel in den Zulauf spritzte. Und dabei erzählte er noch einmal, mit einer gewissen Begeisterung über so viel Zivilcourage, wie Max vor das Auto gelaufen war, um diesen fremden Jungen aus der Gefahrenzone zu stoßen.
Wie groß die Lobeshymnen auch sein mochten und auch, wenn der Junge nichts dafür konnte: Die Tatsache, dass Max halb tot vor ihr lag und der Kleine überlebt hatte, machte es ihr nicht leichter, Kinder zu mögen.