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Die Fäden werden aufgenommen

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In der Kristallkammer hatte man eine dringliche Sitzung anberaumt. Großmeister Ro, der oberste Zauberer des Reiches, dessen Haar bereits vollständig weiß war und dessen Alter sich im Dunkel der karapakischen Geschichte verlor, leitete die Versammlung.

„Wir stehen vor zwei Problemen, die an Dringlichkeit einander ebenbürtig sind“, begann er. „Ad eins ist zu klären die wundersame Rettung des Prinzen Ioro vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen durch ein vorgebliches göttliches Wunder. Wie wir bereits verifiziert haben, war an diesem Wunder eindeutig ein Spiegelzauber beteiligt. Die Signatur dieses Zaubers ist unbekannt. Wir haben es also mit einem unbekannten Zauberer von ebenfalls unbekannter Stärke zu tun, der im Bereich der Kristallkammer unkontrolliert agiert. Wir sind nicht einmal sicher, ob es ein karapakischer Zauberer ist.

Ad zwei hat es gravierende Verschiebungen im Machtgefüge der Häuser der mittleren Provinzen gegeben. Go wurde durch einen seiner Adepten besiegt.“

Leises Murmeln lief durch den Saal.

„Kollege Os war vor Ort und hat sich ein Bild von der Lage gemacht. Ich ersuche ihn, uns jetzt einen Bericht zu geben.“

Os erhob sich und zückte seinen Spiegel. „Ich habe die Veränderung in den Kraftstrukturen unmittelbar bei Eintreten bemerkt. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf außerhalb einer Arena hin. Dies habe ich vorgefunden.“

Mit einer Handbewegung schuf er über seinem Spiegel eine dreidimensionale Projektion. Schweigend musterte die Versammlung das Bild der Verheerungen.

„Dies war das Haus von Kollege Go. Er wurde in einen Seelenspiegel integriert.“ Os wandelte das Bild. Jetzt war das Innere des Turms zu sehen. Ein junger Mann stand vor den Spiegeln, die rote Robe verdreckt und zerrissen, die ungekämmten schwarzen Locken wirr im Gesicht, blass und mit Ringen unter den Augen. „Wie ihr sehen könnt, ist der derzeitige Inhaber des Turmes dieser Jo, bis dato Adept im ersten Jahr.“

Erstauntes Murmeln lief durch den Saal.

„Der junge Mann war noch nicht einmal ausreichend geschult, um zu wissen, dass eine Meister-Kampfforderung nur in einer Arena ausgetragen werden darf“, fuhr Os fort. „Offenbar hat ihn das Ergebnis überrascht. Darüber hinaus ist er anscheinend weder fähig, mit der derzeitigen Lage ohne Hilfe umgehen zu können, noch kann man ihn in irgendeiner Weise als fertig ausgebildeten Zauberer betrachten. Damit stellt er eine potenzielle Gefahr für sich und andere da, was umso schlimmer ist, als er seinen Kräften nach bereits mindestens ein Zauberer der vierten Klasse ist, wenn nicht sogar schon der dritten, mit Potenzial zu einem Zauberer erster Klasse.“

Er setzte sich wieder. Diesmal brandete ein Gewirr von Stimmen im Saal auf. Alle der vierundneunzig Anwesenden wussten, was das zu bedeuten hatte.

Ro wartete, bis seine Kollegen wieder zur Ruhe kamen. Dann fasste er den einzigen Zauberer ins Auge, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. „Kollege Na! Du hast bei Go gelernt und solltest somit diesen Jo kennen. Hast du eine Erklärung für uns?“

Die Blicke aller Anwesenden wanderten zu dem jüngsten Mitglied der Versammlung.

Der zuckte mit den Achseln. „Jo war immer sehr impulsiv. Vielversprechend, aber eigenwillig. Und sehr experimentierfreudig. Ich kenne Typen wie ihn. Leute, die immer aus der Reihe tanzen. Ich habe meinen damaligen Meister Go vor ihm gewarnt. Anscheinend hat Go ihn trotzdem unterschätzt.“

„Ist er ehrgeizig?“

„Genug, um gefährlich zu sein.“

„Besondere Fähigkeiten?“

„Er hat eine hohe Affinität zu Seelenspiegeln.“

Diesmal durchzog die Versammlung ein kollektiver Seufzer.

„Das sind die Schlimmsten. Er könnte uns allen großen Schaden zufügen. Wir müssen ihn unbedingt hierherholen und vernünftig schulen.“

„Aber dann bleibt sein Haus ohne Meister zurück!“

„Nein. Du wirst das Haus solange übernehmen.“

Na zuckte zusammen. Gerade jetzt aus der Hauptstadt versetzt zu werden, wo es hier richtig interessant wurde? „Ich bin doch selbst kaum länger Meister als Jo. Könnt ihr nicht einen Erfahreneren schicken?“

Nach kurzer Diskussion einigte sich die Runde. Ak, eine der nur vier Zauberinnen im ganzen Reich, würde die Verwaltung von Jos Haus übernehmen. Ak hatte Erfahrung im Wiederaufbau, sie war eine der wenigen Überlebenden sowohl der Zaubererkriege als auch der Aufstände gegen die Kristallkammer.

Ro rief zurück zur Tagesordnung. Da war immer noch der ungeklärte Zauber im Zusammenhang mit der Rettung des Prinzen Ioro. Mangels besserer Alternativen einigte man sich darauf, den Prinzen stärker im Auge zu behalten. Auch wenn ihnen selbst der Palast verschlossen blieb, hatten die Zauberer Mittel und Wege, ihre Augen und Ohren dort einzuschleusen.

Na hielt sich weiterhin bedeckt. Er hatte seine eigene Theorie zu der Sache. War es nicht Jo gewesen, der noch vor ihm von seiner Mitschülerin Thealina gelernt hatte, durch Geisteskraft einen Falken zu leiten? Und hatte nicht ein Falke Ioro gerettet? Es sah ganz danach aus, dass Jo hier seine Hand im Spiel hatte. Aber das musste er seinen Kollegen ja nicht gleich auf die Nase binden. Es hatte Vorteile, der Jüngste zu sein. Keiner der Älteren traute ihm Wissen und Fähigkeiten zu, die sie selbst nicht besaßen. Na war nicht umsonst ein Sohn des Hauses Kirasa-Poetoni. Adelige Karapakier sogen Intrigen und Strategien bereits mit der Muttermilch auf. Er würde dafür sorgen, dass er immer einen angemessenen Wissensvorsprung behielt. Nur so konnte er zu gegebener Zeit seine Position verbessern.

Abgesehen davon war er natürlich neugierig, was Jo eigentlich bezweckte.

*

Bei allen Windgeistern! Jo schleuderte das Buch wütend in die Ecke. Er hatte den alten Meister Go sehr unterschätzt. Von wegen, er konnte einfach alles Notwendige in Gos Büchern finden. Was immer Go in seine Bücher geschrieben hatte, Zauberer-Weisheiten waren es nicht. Statt dessen – Rezepte. Go hatte Kochbücher geschrieben. Ausgerechnet Kochbücher! Was bei den Drachenzahnbergen hatte Go bewogen, ausgerechnet Kochbücher zu verfassen? Nicht, dass er sie je gebraucht hätte, die Küche war seit jeher ausschließlich eine Domäne der Diener.

Und wenn doch mal auf irgend einem Pergamentfetzen ein Zauberspruch auftauchte, funktionierte er nicht. Nach wie vor blieb Jo nichts anderes übrig, als jeden Zauber mühsam über Versuch und Irrtum selbst auszutüfteln. Eine sehr zeit- und vor allem energieraubende Aktion. Kochbücher. Das konnte einfach nicht alles sein. Irgendwo musste Meister Go noch andere Aufzeichnungen verborgen haben. Und die restlichen Bücher in der Turmstube – nichts davon konnte er gebrauchen. Entweder es war Geschichte oder Viehzucht oder Gartenbau oder vollkommen unleserliches Gekrickel längst vergangener Zauberer-Generationen. Es war der pure Frust. Eine ganze Bibliothek mit nichts Brauchbarem darin.

***

Kanatas Hände umklammerten das hölzerne Gesims. Er könnte spüren, wie das feine Schnitzwerk unter seinen Fingern zerbröselte. Er verstärkte den Druck. Kleine Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Verdammt! Wie sollte ein König regieren können, der Zauberer und Priester zugleich gegen sich hatte?

Hinter ihm räusperte sich der Hofmarschall. „Euer Majestät, wie ich bereits sagte, der Seher ist da. Natürlich will ich Euch nicht drängen, nur ... Er ist ein alter Mann, schwach und hinfällig. Wenn er noch lange warten muss, kann es sein, dass er heute nicht mehr in der Lage ist, die Geister für Euch zu befragen.“

Einen Moment lang schloss Kanata die Augen. Als er sich umdrehte, hatten sich seine Gesichtszüge wieder geglättet. „So ruft ihn.“

Der Seher betrat den Balkon unter Knochengeklapper. Knochenschnüre umschlangen seine Handgelenke, Knochenschnüre umschlangen seinen zum Erbarmen mageren Rumpf. Ein schmutziges braunes Tuch bedeckte notdürftig seinen Unterleib. Eine Halskette mit kleinen Steinchen und Tierkrallen baumelte auf seiner Trichterbrust. Er bewegte sich vorsichtig, suchend, den Kopf mit dem dünnen Kinnbärtchen vorgestreckt wie ein Geier. Die Wachen, die hinter dem Greis auf den Balkon treten wollten, hielt der Hofmarschall mit einer Handbewegung zurück. Sie verschwanden wieder im Gebäude und verschlossen die Türe fest hinter sich.

Kanata musterte den Seher. Trübe, altersblinde Augen sahen ihn an, Augen, die kaum durch das Gewirr tiefer Falten und zotteliger weißer Haarsträhnen hindurchschienen. Der Mann sah aus, als ob ihn jeder sanfte Morgenwind umblasen konnte. Dennoch ... trotz seiner unbestreitbaren Gebrechlichkeit strahlte der Seher Autorität aus. Autorität und Gefahr. Einen Moment lang zögerte der König. Aber es gab keinen anderen Weg. Er brauchte die Information.

„Du weißt, weshalb du hier bist?“

Der Seher legte den Kopf schief. „Sagt Ihr es mir, Majestät.“

„Du hast von dem Anschlag auf mich gehört.“

Der Seher nickte nur. Natürlich hatte er davon gehört. Wenn der älteste Sohn des Königs ein Attentat auf seinen Vater verübte, redete das ganze Königreich darüber. Noch dazu, wenn dieser Sohn gegen alle Wahrscheinlichkeit seine Unschuld beteuerte und durch das Urteil der Götter vor dem Scheiterhaufen gerettet und damit rehabilitiert wurde.

„Die Götter haben bezeugt, dass mein Sohn Ioro mich nur verteidigen wollte, als er mit dem Dolch auf mich lossprang.“ Kanata musste einen Moment innehalten. Wann immer er an diesen Augenblick dachte, schwoll ein Kloß in seiner Kehle. Ioro im Sprung, den Dolch in der Hand, und dann der Zauber. Ausgerechnet Ioro, dem er als einzigem seiner Söhne vollkommen vertraute, ausgerechnet Ioro hatte sich mit den verhassten Zauberern eingelassen.

„Um das bestätigt zu bekommen, braucht Ihr mich nicht.“ Die Stimme des Sehers war ausdruckslos.

„Nein.“ Wenn überhaupt, dann war Kanatas Stimme noch ausdrucksloser. „Ich will etwas anders von dir wissen. Die Zauberer haben eindeutig ihre Finger im Spiel. Und so eifrig, wie die Priester sich nach dem Gottesurteil auf Ioros Seite geschlagen haben, kann ich auch ihnen nicht trauen. Deshalb frage ich dich. Ich muss wissen, wer hinter dem Anschlag steht, und von welcher Person in der Zukunft unmittelbar eine Gefahr für mein Leben ausgeht.“

Der Seher zuckte die Achseln. „Die Götter haben mir nichts offenbart.“

„Dann frage sie!“

„Sie antworten auch mir nicht auf Kommando.“

Kanatas Hand fuhr zum Dolch. „Frage! Ich weiß, dass du eine Antwort erzwingen kannst!“

Der Seher zitterte kaum merklich. „Es ist möglich“, murmelte er. „Aber der Preis ist hoch!“

„Ich zahle, was immer du willst.“

„Nicht Ihr allein werdet den Preis zahlen“, murmelte der Seher noch leiser.

„Frage!“ Kanatas Stimme trug den Groll der Winterstürme in sich.

Der Seher verneigte sich ehrerbietig. Dann setzte er sich. Mit zitternden Fingern nestelte er eine Tierklaue von seiner Halskette und legte sie auf seine offene Handfläche. Dann begann er zu summen. Kanata blinzelte. Die Tierklaue bewegte sich und begann, sich zu vervielfältigen. Die Klauen verschmolzen mit den Fingern. Der Seher streckte die Hand aus. Vier scharfe Krallen blitzten in der Sonne. Dann schlug die Hand zu. Rotes Blut spritzte über die meerblauen Glasfliesen. Während sein Leben aus dem zerfetzten Oberschenkel pulste, begann der Seher zu reden.

Seine Stimme klang leise, wie von weit her, aber trotz ihrer geringen Lautstärke schien jedes Wort in Kanatas Ohren zu hallen. „Du hast deine Frage falsch gestellt, Königsfalke. Falsch gestellt … Es ist nicht nur einer, der dir nach dem Leben trachtet, es sind mehrere. Ein Krake, der hundert Köpfe hat und tausend Arme. Schlage einen Arm ab, so kommen die anderen umso weiter.“

Kanata erschauderte. Das war schlimmer, als er gedacht hatte. „Aber wer sind die Köpfe? Sind es Zauberer? Sind es Priester? Sind es Adelige? Kaufleute? Mitglieder meiner Familie?“

„Ja, ja, ja, ja, ja“, flüsterte die heisere Stimme des Sehers.

„Was ja? Wer ist es denn nun?“

„Du stellt immer noch deine Fragen falsch!“ Der Spott war jetzt unüberhörbar.

Kanata zwang sich zur Ruhe. „Sind es Zauberer?“

„Ja“

„Sind die Priester darin verwickelt?“

„Ja.“

„Adelige?“

„Ja.“

„Kaufleute?“

„Ja.“

„Mitglieder meiner Familie?“

„Ja.“

Kanata spürte, wie ihn ein Zittern überlief. Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn verschworen?

„Alle?“, fragte er ungläubig.

„Dummkopf“, zischte der Seher. „Einige von ihnen. Einige aus jeder Gruppe. Und überlege besser, was du fragst, Königsfalke. Die Götter werden nur wenige Fragen beantworten. Du hast dein Kontingent fast verbraucht.“

Kanata überlegte fieberhaft. Was war ihm am wichtigsten? „Wer von meiner Familie ist es?“

„Einer deiner Söhne.“

„Welcher?“ Eine hastige, fast verzweifelte Frage.

„Das steht noch nicht fest.“

„Was?“ Kanata prallte zurück und sah den Seher ungläubig an. „Wieso? Müssen die Götter das nicht wissen?“

„Die Zukunft steht nicht immer fest. Sie wird von unseren täglichen Entscheidungen beeinflusst. Niemand, nicht einmal die Götter, kann genau vorhersehen, was geschehen wird.“ Erneut war der Spott in der Stimme des Sehers unüberhörbar, auch wenn sie noch leiser war als zu Beginn.

„Dann sag mir wenigstens eines.“

Kanata fror und schwitzte zugleich.

„Hat Ioro mich bei dem Attentat angegriffen oder gerettet?“

„Zu spät, Königsfalke.“ Die Stimme des Sehers war kaum noch vernehmbar. „Die Götter haben sich bereits zurückgezogen.“ Die Gestalt des Sehers sackte auf dem Boden zusammen. Müde murmelte er: „Ich kann dir nur sagen, dass Ioro derjenige deiner Söhne ist, der Karapak gegenüber immer loyal handeln wird.“

Dann verstummte er. Im selben Moment hörte sein Blut auf zu fließen.

Kanata wagte nicht, sich zu rühren. „Ist er ... tot?“, fragte er.

Der Hofmarschall trat zu der reglosen Gestalt. Mit sichtbarer Überwindung kniete er sich nieder und fühlte den Puls am Hals des Alten. „Er lebt noch, Euer Majestät. Er lebt noch, aber sein Lebensfaden ist schwach, kaum noch spürbar. Ich bin nicht sicher, ob er den morgigen Tag noch erleben wird.“

„Schaff ihn fort.“

Kanata drehte sich brüsk um. Ein weiterer Reinfall, dieser Seher. Er war kein Stück weiter gekommen. Wie um alles in der Welt sollte ein König regieren, der niemandem mehr trauen konnte?

*

Ioro schrak aus seinen Fieberträumen hoch. Der schrille Schrei gellte immer noch in seinen Ohren. Da! Schon wieder! Nein, das hatte er nicht geträumt. Irgendwo ganz in seiner Nähe schrie ein Falke. Ioro öffnete den Mund, versuchte, seinerseits zu rufen, aber außer einem heiseren Krächzen drang nichts aus seiner Kehle.

„Wartet, mein Prinz!“ Da war Mane schon wieder, in der Hand einen Becher.

Ioro trank, einen Schluck nur, schmeckte die Bitterkeit der Medizin. Dann hob er abwehrend die Hand. Der eine Schluck hatte zumindest gereicht, seine Kehle wieder anzufeuchten, denn jetzt kamen tatsächlich vernehmbare Worte aus seinem Mund.

„Mane, ich habe einen Falken gehört ...?“

„Ganz richtig, mein Prinz“, bestätigte der Hofarzt. „Der Falke, der Euch gerettet hat, wurde ebenfalls durch die Flammen versengt. Er ist derzeit unfähig zu fliegen. Wir haben ihn deshalb ins Nebenzimmer gebracht.“

„Seit wann kümmert Ihr Euch auch um tierische Patienten? Reicht Euch der Lohn für die Behandlung der königlichen Familie noch nicht?“, versuchte Ioro zu scherzen.

Manes Gesicht bliebt ernst. „Genaugenommen gehört der Falke zur königlichen Familie“, gab er zurück, „und damit ist er wohl auch mein Patient.“

Ioro hörte das unausgesprochene „Aber“ in Manes Satz. „Ihr habt Schwierigkeiten mit dem Falken?“, fragte er.

„Nun“, Mane zögerte, „im Grunde fehlt dem Falken nichts, er hat nur ein paar verbrannte Federn, die nach der nächsten Mauser nachwachsen werden. Aber bis dahin muss er bei uns bleiben. Und, mein Prinz, er ist ganz offensichtlich nicht glücklich darüber.“

„Hackt er nach Euch?“ Ioro versuchte ein Lächeln, ließ es aber gleich wieder, als eine feurige Schmerzwelle über seine Wange strich.

„Der Falke frisst nichts“, gestand Mane. „Was immer wir ihm vorsetzen, er frisst nichts. Die königlichen Falkner geben ihm noch ein oder zwei Tage, bevor er an Entkräftung stirbt.“

„Und das“, murmelte Ioro, „wäre wahrlich ein schlechtes Omen.“

„Ihr sagt es, mein Prinz.“

Ioro dachte nach. Der Falke war nie gezähmt worden. Das Tier hatte aber – mit Joks Geist in seinem Körper – viele Stunden in seiner Gegenwart verbracht und war ihn gewöhnt. Hatte er den Falken nicht auf der einen oder anderen Jagd schon von Hand gefüttert?

„Bringt den Falken zu mir.“

Mane verbeugte sich schweigend und holte den Falken.

Der Vogel saß auf einer kurzen Holzstange, die von einem Dreibein gestützt wurde. Jettschwarze, von bernsteinfarbener Haut umgebene Augen starrten Ioro an. Ioro starrte zurück. Der Falke legte den Kopf etwas schief, als ob er den Menschen vor sich begutachtete. Ioro verlangte Fleisch. Mane reichte ihm, immer noch schweigend, eine kleine Schale. Ioro griff nach einem der kleingeschnittenen Fetzen rohen Fleisches und hielt es dem Falken hin. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als sich die Muskeln seines misshandelten Körpers unter der verbrannten Haut bewegten. Seine Hand reichte nicht ganz bis zum Schnabel des Falken hoch. Der Falke starrte. Ioro wartete. Nach einer fast endlos scheinenden Zeit bewegte sich der Vogel. Mit einer ruckartigen, zielsicheren Bewegung beugte er sich vor und schnappte den Fleischfetzen aus Ioros Fingern, warf den Kopf zurück, schluckte, und starrte erneut. Ioro griff nach dem nächsten Fleischstückchen.

*

In den nächsten Tagen fütterte Ioro den Falken regelmäßig. Er war und blieb der einzige, von dem der Vogel Nahrung annahm. Die Diener flüsterten und betrachteten den Vogel verängstigt. Der Falkner, der jeden Tag einen Kontrollbesuch machte und nach den verbrannten Federn sah, musterte sowohl Ioro als auch den Falken ungläubig. Nur Mane schien es vollständig normal zu finden, dass der Vogel der Göttin, das Wappentier des Hauses Mehme, eine so enge Bindung zu Ioro zeigte.

***

Jo, derzeit jüngster Zauberer-Meister im karapakischen Reich, starrte die Zauberin an, die vor ihm im Turmzimmer stand. Ak lächelte schmallippig. Sie hatte schon mehr als ein rebellisches Kind zur Räson gebracht. Und mehr als ein Kind war dieser Jo nicht, nicht einmal nach menschlichen Maßstäben.

„Ich werde in der Zwischenzeit deinen Turm verwalten, die Schäden beheben und alles wieder aufbauen“, wiederholte sie. „Natürlich zu den normalen Bedingungen. Ich bekomme 10 Prozent vom allgemeinen Ertrag des Turmes, solange ich hier weile, und den vollen Ertrag von jeden Auftragszauber, den ich in dieser Zeit annehme.“

Jo schob die Unterlippe trotzig vor. „Und wenn ich das nicht will?“

Ak richtete sich noch ein wenig höher auf. Die Goldmünzen an ihrer Halskette klimperten melodisch. Es waren alte Münzen, mit den Gesichtern von Herrschern darauf, die bereits vor mehreren hundert Regenzeiten gestorben waren. „Die Kristallkammer könnte auch auf die Idee kommen, dir ganz einfach den Turm abzunehmen. Nicht jeder Zauberer muss einen Turm besitzen.“

Jos Gesicht verfinsterte sich. „Ich würde um meinen Turm kämpfen.“

„Ja. Das sehe ich.“ Ak sah sich betont in dem Durcheinander um. „So wie beim letzten Mal, nehme ich an?“

Jo sackte zusammen wie ein Teigballen beim vorzeitigen Öffnen des Ofens. „Ich habe das nicht gewollt. Nicht so, jedenfalls.“

„Und genau deshalb musst du dringend geschult werden. In der Kristallkammer.“

Jo nickte in dumpfer Ergebenheit. Auch wenn er zehnmal nicht einverstanden war, eines würde er ganz gewiss nicht tun: Durch einen Kampf das Leben weiterer Kinder in seinem Turm unnötig gefährden. In einem Kampf, den er mit absoluter Sicherheit nur verlieren konnte. Er erinnerte sich nur zu gut an Meister Gos Ausführungen, warum so wenige Frauen zu Zauberinnen wurden. Jede einzelne Frau, die dieses Ziel erreichte, musste nicht nur eine herausragende Zauberin sein, sondern darüber hinaus auch absolut gleichgültig gegenüber dem Schicksal anderer Menschen. Diese so jung aussehende Frau, die ihm im Auftrag der Kristallkammer ein Ultimatum stellte, war wahrscheinlich imstande, alles um sich herum mit einem einzigen Zauber in Schutt und Asche zu legen und alle Bewohner seines Turms damit umzubringen.

Ak zeigte ein schmallippiges, wissendes Lächeln.

*

Der Ochsenkarren stand angeschirrt vor dem Tor. Jo hob den Beutel an, der seine beiden wichtigsten Spiegel enthielt. Ak runzelte die Stirn. „Moment mal, junger Kollege, nicht so eilig. Ich benötige noch das Zugangszeichen für die Arena und für die Meister-Gemächer.“

„Zugangszeichen?“, echote Jo entgeistert.

„Sag bloß, du kennst es nicht?“ Ak konnte ein ungläubiges Schnauben nicht unterdrücken. „Wie, bei den Sanddämonen, hast du es bloß geschafft, deinen Meister mit so wenig Ahnung zu besiegen?“

„Ich habe nach dem Kampf noch gar nicht den Versuch gemacht, die Arena zu betreten“, gestand Jo kleinlaut. „Und die privaten Gemächer? Was meinst du damit? Ich dachte, die Turmstube, das wären Meister Gos private Gemächer ...“ Seine Stimme verlor sich.

Ak lachte laut auf. „In so einer primitiven Behausung würde nicht einmal der einfachste Landzauberer leben wollen. Und Go war alles andere als ein Landzauberer. Er stammt aus einer alteingesessenen Adelssippe.“

„Aber ... da sind sonst keine Gemächer.“

Ak musterte ihn wie einen besonders begriffsstutzigen Esel. „Komm mit“, befahl sie, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zum Turm. Wohl oder übel folgte Jo ihr.

Oben in der Turmkammer drehte Ak sich einmal suchend im Kreis. Dann lächelte sie und deutete auf einen schmalen dunklen Strich in der Wand. „Dort ist der Eingang“, sagte sie. „Lass sehen, ob du hineinkommst.“

Jo griff nach seinem Arbeitsspiegel und untersuchte die Wand. Wo sollte da ein Eingang sein? Da war doch nur das übliche statische Rauschen, das jede Wand der Zauberschule und des Turmes durchzog. Das hieß, nicht ganz. Irgend etwas war anders an dieser Stelle. Eine Art Muster, gut verborgen unter dem Rauschen. Er griff mit dem Spiegel nach dem Muster. Es entglitt ihm. Er fischte erneut danach. Das Muster zerrann unter seinen Gedanken. Zerrann … Wasser! Es verhielt sich wie Wasser! Und wie fing man Wasser ein? Mit grimmigem Lächeln warf Jo Kälte gegen die Wand. Fror das Rauschen ein und mit ihm das Muster. Jetzt konnte er es greifen und studieren.

Das half ihm allerdings auch nicht weiter. Er kannte das Muster nicht, konnte mit Meister Gos Zauber nichts anfangen. Gut. Wenn er den Zauber nicht entschlüsseln konnte, dann half nur eines: brutale Gewalt. Mit aller Kraft schlugen Jos Gedanken auf das eingefrorene Muster. Es zerbarst in tausend Splitter.

Im selben Moment, in dem das virtuelle Muster zerbarst, erschien in der Turmwand eine Tür.

Ak zuckte zusammen. Offenbar hatte sie den jungen Zauberer unterschätzt. Na lag wohl richtig mit seiner Einschätzung. Jo war gefährlich – er war bereits jetzt ein Zauberer dritten Grades und eindeutig steigerungsfähig. Es wurde allerhöchste Zeit, dass der junge Bursche eine vernünftige Ausbildung bekam.

Jo ignorierte die Abgesandte der Kristallkammer. Im Moment fand er die Tür viel, viel interessanter. Er stieß sie auf. Vor ihm öffnete sich eine weite, lichtdurchflutete, luxuriös eingerichtete Wohnung. Wo immer die sich befand, im Turm lag sie nicht. Er trat hinein und sah sich staunend um. Buch um Buch standen die gelehrten Werke der Zauberei auf schweren Regalen an den Wänden. Hier war der Wissensschatz, den er vergeblich gesucht hatte. Und den er, wie ihm mit jäh aufsteigender Wut bewusst wurde, vorerst dieser fremden Zauberin überlassen musste. Er ballte die Fäuste. Atmete tief ein. Es hatte keinen Sinn, ausgerechnet jetzt Ärger zu machen. Sein Blick fiel auf ein aquamarinblau leuchtendes Büchlein. Klein und schmal stand es zwischen den dicken, dunkelbraunen Leder-Folianten. Er trat an das Bord, griff sich das Bändchen heraus und steckte es ein. Ak sah ihm schweigend zu, Missbilligung förmlich ins Gesicht geschrieben. Aber dies war sein Turm! Er hatte ihn rechtmäßig erobert! Wenigstens dieses eine Buch würde er zu seiner weiteren Ausbildung mitnehmen, egal, was es enthielt. Und wenn es wieder nur Kochrezepte waren.

Mit hoch erhobenem Kopf marschierte Jo an Ak vorbei und zu dem wartenden Ochsenkarren.

***

Iragana schlug behutsam das Seidenpapier zurück. Ein Geschenk für die Erste Gemahlin des Königs von der Webergilde war immer etwas Besonderes, selbst für ihren verwöhnten Geschmack. Der Stoff, der rosenduftend zum Vorschein kam, schimmerte irisierend grün auf Purpur. Winzige goldene Blüten schmückten ihn. Iragana seufzte bewundernd. Eine meisterliche Arbeit. Sie schüttelte den hauchdünnen Schal aus. Blütenblätter fielen herab. Samtene goldfarbene Gebilde, die kleine dunkle Flecken aufzuweisen schienen. Aber niemand würde wagen, der ersten Gemahlin verdorbene Blütenblätter zu schicken. Iragana griff rasch nach ihnen, sammelte sie auf. Ihre Hofdamen durften diese spezielle Gabe nicht zu Gesicht bekommen. Vorsichtig breitete sie die zarten Gebilde vor sich aus, schob sie ein wenig herum, bis die Reihenfolge stimmte und sie den Brief lesen konnte.

„Verzeiht die ungewöhnliche Art der Kontaktaufnahme. Die Wachen um den Palast sind verstärkt, ebenso wurde der Schutzbann durch einen Blutzauber aufgefrischt, ich kann daher zurzeit nicht selbst kommen.“

Nun, das war ihr durchaus bekannt.

„Wir empfehlen Euch, vorerst nichts weiter zu unternehmen. Die Lage ist zu unsicher.“

Als wenn sie das nicht wüsste ...

„Insbesondere Euer Sohn sollte seinen üblichen Beschäftigungen nur mit äußerster Vorsicht nachgehen.“

Auch das war ihr bewusst. Nur ihrem Sohn nicht. Erst gestern hatte sie wieder eine tote Dienerin in seinen Gemächern gefunden ...

„Wir müssen die Hochzeit abwarten. Erst danach werden sich wieder gute Chancen bieten, Eure Pläne zu verwirklichen. Bis dahin sollte auch der Blutzauber abgeklungen sein, sodass ich wieder persönlich zu Euch gelangen kann.“

Nichts wirklich Neues. Den Brief hätte sich ihr Kontaktmann sparen können. Iraganas Blicke wanderten zu dem wunderschönen Schal. Nein, vielleicht hätte er ihn sich doch nicht sparen können. Der Schal sah wirklich einzigartig aus.

Sie nahm das erste Blütenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte es, bis es zu einem unscheinbaren matschigen Klümpchen geworden war. Systematisch ließ sie die anderen folgen. Kein einziges Blatt durfte zurückbleiben.

Die Klümpchen schüttete sie vorsichtig in den Goldfischteich. Zufrieden sah sie zu, wie die Fische behäbig Blatt um Blatt von der Wasseroberfläche zupften und fraßen.

*

Ioro biss die Zähne zusammen. Nicht nur, dass seine linke Seite immer noch höllisch schmerzte, seine Beine schienen weich wie Wachs zu sein.

„Seid Ihr sicher ...“, begann Mane.

„Ich bin sicher!“, fauchte Ioro. „In zwei Monden soll mein Bruder heiraten. Wer, wenn nicht ich, soll wohl seine Braut nach Sawateenatari geleiten?“

Mane verkniff sich eine Antwort. Er konnte nur hoffen, dass die Genesung Ioros mit dessen Willenskraft Schritt hielt.

Der Falke schrie, als Ioro die Tür öffnete. Ioro verharrte. Sah zurück zu dem Falken, der vergeblich versuchte, sich mit seinen verbrannten Flügeln in die Luft zu erheben. Dann wankte er mühsam, Schritt um Schritt, zurück ins Zimmer und streckte die Hand nach dem Falken aus. Einen Moment lang regte sich niemand. Dann krächzte der Falke und sprang mit einem ungelenken Satz auf Ioros Hand. Ioro setzte ihn behutsam auf seiner gesunden Schulter ab. Die Falkenkrallen bohren sich durch seine Haut, als der Vogel nach Halt suchte. Ioro wartete, bis der Falke sein Gleichgewicht gefunden hatte. Dann arbeitete er sich entschlossen wieder zur Tür.

*

Kanata hörte das Klicken der Krücken auf dem Marmorboden. Ioro kam. Schon wieder. Sein ältester Sohn zeigte sich überaus besorgt um das politische Geschehen und die baldige Heirat seines Bruders. Zu besorgt. Der Seher hatte gesagt, Ioro sei loyal gegenüber dem Reich. Von seinem Vater und König hatte der Seher nicht gesprochen.

Erneut verfluchte Kanata das Schicksal. Ein Thronerbe, dessen Lebensinhalt darin zu bestehen schien, andere Lebewesen zu quälen und zu töten, und ein oberster Feldherr, der lahm war und mit Zauberern konspirierte. Beide Söhne hatten ihn enttäuscht. Wobei er immer noch nicht sicher war, welcher von beiden ihm zu schaden trachtete. Womöglich alle beide. Bei den Sanddämonen! Hätte nicht ein anderer seiner Söhne die Kindheit überleben können?

Aber natürlich wusste er die Antwort. Mit Tolioro im Palast hatte keiner der anderen Jungen auch nur den Hauch einer Chance gehabt, jemals erwachsen zu werden. Und er selbst hatte Tolioro gewähren lassen, eingedenk der Tatsache, dass auch er selbst etliche seiner Brüder hatte töten müssen, um den Thron zu ergattern. Etliche. Aber nicht alle. Tolioro war gründlicher. Tolioro war selbst ihm unheimlich.

Ioro verbeugte sich mühsam. Sein linkes Bein wollte sich nicht biegen, die dicken Narben spannten noch zu sehr. Kanata sah ihn kaum an. Ganz offensichtlich war sein Vater noch nicht bereit, ihm zu vergeben, was immer er auch in der Öffentlichkeit sagen mochte. Ioro wartete.

„Komm näher.“ Kanatas Stimme klang kalt. „Die Brautkarawane wird in zwei Tagen aufbrechen. Wir müssen einen geeigneten Anführer suchen.“

Ioro zuckte zusammen. „Aber traditionell führt diese Karawane der Heerführer des Bräutigams. Habt Ihr mir diesen Posten nicht wieder zugestanden?“

Sein Vater verzog keine Miene. „Ich kann keinen Krüppel an die Spitze der Brautkarawane setzen. Das könnte König Dacas von Tolor als Beleidigung auffassen.“

„Ich bin kein Krüppel!“

Kanatas Blick wanderte betont zu den Krücken in Ioros Händen.

Ioro warf sie mit zorniger Bewegung fort und richtete sich kerzengerade auf. Schmerz stach grellweiß durch seine vernarbte Seite, aber er ignorierte ihn. „Manes Idee“, sagte er. „Ihr solltet ihn kennen, Vater, schließlich ist er Euer Leibarzt. Er ist einfach übervorsichtig.“

„So“, sagte Kanata ausdruckslos. „Nun gut, dann wirst du die Brautkarawane leiten, wie geplant. Wir müssen noch einige Details besprechen. Schreiber!“

Der Schreiber wieselte dienstbeflissen heran. Ioro ging mit hölzernen Schritten zum Tisch. Eine falsche Bewegung und er fiele hin. Diese Blöße durfte er sich auf keinen Fall geben.

Und während Kanata diktierte, stand Ioro vor dem Tisch und wartete geduldig, den Schmerz weiterhin ignorierend.

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