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Hochzeit auf karapakisch

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Endlich Abend. Ioro stützte sich unauffällig am Sattelknauf ab. Ein ganzer Tag im Sattel forderte seinen Tribut. Mane hatte recht gehabt, er war noch nicht vollständig genesen. Eigentlich hätte er den Brautzug nicht anführen dürfen in seinem Zustand. Aber das würde er ganz bestimmt nicht zugeben. Der Weg nach Tolor war lang. Bis er dort eintraf, sollte er seine alte Kraft wieder hergestellt haben.

Auf seiner Schulter schrie der Falke und schlug kurz mit seinen verstümmelten Flügeln. Der Vogel würde es wohl nicht schaffen, bis zu ihrem Eintreffen in Tolor wieder fliegen zu können. Die nächste Mauserzeit lag noch in etlichen Monden Entfernung. Und der Falkner war sich nicht sicher gewesen, ob in dieser Mauser wieder gesunde Federn nachwachsen würden. Möglicherweise blieb der Falke für immer verkrüppelt.

Aber egal. Er war wieder draußen, raus aus der Stadt, raus aus dem Palast, raus aus der erstickenden Verehrung der Diener und dem lähmenden Misstrauen seines Vaters. Und vor allem weit, weit weg von Tolioro.

***

Jo versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Irgendwie war so eine Stadt doch wesentlich beeindruckender, wenn man als Mensch darin stand, als wenn man sie als Falke von oben sah. Den Kristallpalast hatte er sich irgendwie kompakter vorgestellt. Ein wenig so wie Meister Gos Turm. Aber das, was da vor ihm emporragte, war alles andere als kompakt. Höher als selbst der Königspalast, eine eisklare, glatte Fassade ohne ein einziges Fenster, die oben in einer Vielzahl kleiner, scheinbar nadeldünner Türme auslief. Den Vögeln nach zu urteilen, die als winzige Punkte um diese Turmnadeln kreisten, waren sie allerdings wohl gar nicht so klein und dünn. Ein Tor war auch nicht zu sehen. Der Ochsentreiber hatte einfach an diesem Punkt der Fassade halt gemacht, ihn ausgeladen mitsamt seinem Gepäck, und war verschwunden. Andere Menschen waren keine zu sehen. Überhaupt wirkte die Stadt in direkter Nähe des Kristallpalastes wie tot. Etliche Häuser zeigten deutliche Verfallserscheinungen. Nicht einmal Bettler oder Gassenkinder waren irgendwo zu sehen. Und Jo hatte nicht die geringste Ahnung, was er jetzt machen sollte.

Probehalber trat er an das Mauerwerk heran und berührte es. Nein, Mauerwerk war irgendwie auch nicht der richtige Ausdruck. Das war zwar so etwas wie Stein, aber er konnte keinerlei Fugen entdecken. Nahtlos glatt zog sich die Masse unter seinen Fingern hin. Eigentlich sah sie auch nicht wie Stein aus. Eher wie Glas, Glassteine. Glaskristalle. Hieß die Wohnstätte der karapakischen Zauberer etwa darum Kristallkammern? Und in der Mauer pulsierte Magie. Deutlich mehr als bei Meister Go. Wo der alte Turm ein beständiges Rauschen erzeugt hatte, dröhnten diese Mauern fast. Jo nahm hastig die Hand zurück.

Ein Tor hatte er aber auch mit seinen magischen Sinnen nicht spüren können.

Na und Uk beobachteten den jungen Zauberer. Sie waren als Empfangskommando abkommandiert worden.

„Warum kommt er nicht herein? Will er uns absichtlich warten lassen?“

„Glaube ich nicht“, gab Na zurück. „Ich denke, er weiß einfach nicht, wie man hereinkommt.“

„Was? Das kann doch jeder Adept im zweiten Lehrjahr!“

„Soweit ist Jo als Adept nie gekommen!“, erinnerte Na ihn. „Und jetzt ist er Zauberer, aber ein extrem schlecht ausgebildeter. Ich fürchte, wenn wir ihn nicht holen, steht er morgen noch dort.“

Die beiden Zauberer wechselten einen amüsierten Blick. Dann gaben sie der Wand das Kommando, sich zu öffnen.

Die Wand vor ihm schien zu zerfließen. Ein großer Tunnel öffnete sich, an seinem Ende erwarteten ihn zwei Männer. Einen davon kannte er: Na. Jo sammelte seine Habseligkeiten ein und marschierte forsches Schrittes in den Tunnel. Hinter ihm schloss sich die Fassade wieder zu einem undurchdringlichen Panzer.

Na zeigte ein irgendwie süffisantes Lächeln. Sein ehemaliger Lehrer sah beinahe unverschämt gut aus. Das Leben in der Kristallkammer schien ihm zu bekommen. Jo musterte ihn mit gemischten Gefühlen. Einerseits war es schön, wenigstens ein bekanntes Gesicht hier zu sehen. Andererseits ... Na hatte sich nicht gerade wie ein Freund verhalten. Noch nicht einmal wie ein Lehrer. Eher wie ein erbitterter Rivale. Jo blieb stumm und wartete.

„Ich bin Uk“, stellte sich der zweite Zauberer vor. Auch er sah jung aus. Aber das taten sie alle. Soweit Jo wusste, konnte Uk genauso gut mehrere Jahrzehnte alt sein wie mehrere Jahrhunderte.

„Na und ich, wir werden dich hier einführen und mit dem Leben in der Kristallkammer bekannt machen. Lass dein Gepäck hier liegen, darum kümmert man sich.“

Jo nickte stumm, behielt aber das Bündel mit seinen Spiegeln und dem kleinen blauen Buch in der Hand. Sicher war sicher.

So imposant die Kristallkammer von außen aussah, so langweilig war sie im Inneren. Eintöniges Weiß überall. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Ein ringförmiger Korridor ohne erkennbare Türen, der einmal um den zentralen Saal herumführte. Und in diesem Saal gab es ein paar kreisförmig angeordnete Sitzreihen. Nicht viele. Jo schätzte den Raum auf ungefähr acht Dutzend Plätze. Höchstens. Einige Kristalle waren auch zu sehen, aber nicht mehr und nicht imposanter als in Meister Gos Arena.

Irgendwie enttäuschend.

Eine Etage höher war der Korridor breiter und gesäumt von Büchern. Große, schwerbeladene Regale, die genauso strahlend weiß aus der fugenlosen Wand wuchsen wie alles andere in diesem Bau. Zwischen den Regalen lagen versteckt Türen, die ein Bann schützte.

„Das“, erklärte Na, „sind die privaten Türme der Zauberer. Jeder Zauberer im karapakischen Reich hat hier seinen eigenen Turm.“

„Und auch einige Zauberer aus den angrenzenden Reichen“, ergänzte Uk. „Zwei sind hier aus den Nordlanden und einer von den Inseln. Je höher der Turm, desto wichtiger der Zauberer.“ Er grinste. „Na und ich, wir gehören zu den kleinen Türmen. Du auch, selbstverständlich.“

Jo nickte. Dass er in der Hackordnung ganz unten stand, war ihm ohnehin klar. „Woher kommt das Licht?“, wollte er wissen.

„Das Material ist so eingestellt, dass es Licht von draußen aufnimmt, speichert und über den ganzen Tag gleichmäßig abgibt.“

„So. Und was mache ich, wenn ich es zum Schlafen dunkel haben will?“

„Du kannst selbstverständlich die Helligkeit in deinem Turm regulieren.“

„Wo ist überhaupt mein Turm?“

Uk und Na führten ihn zu einer kleinen, unscheinbaren, ungeschützten Tür zwischen den Regalen mit Büchern über „Fischerei in den Nordmeeren“ und „Rufzauber für Fischer“ auf der einen Seite und „Empfängnisverhütende Zauber für Geflügel“ auf der anderen. Ganz offensichtlich hatte man ihn in die unwichtigste Ecke der Kristallkammer verfrachtet. Und die Tür würde er wohl selbst schützen müssen. Was bedeutete, dass vermutlich jeder stärkere Zauberer seinen Schutz nach Belieben knacken konnte. Und stärker waren hier alle.

Uk und Na erklärten ihm noch, wie er sie rufen konnte, dann ließen sie ihn mit seinem neuen Zuhause allein. Jo stieß die Tür auf. In einem kurzen, engen Korridor standen seine Sachen. Diener gab es hier also offensichtlich auch. Wo mochten sie leben? So, wie die Kristallkammer aufgebaut war, wahrscheinlich im Untergrund. Oder in der Stadt. Aber irgendwie konnte Jo sich nicht vorstellen, dass die Zauberer ihren Dienern erlauben würden, mehr Zeit als unbedingt nötig in der Stadt zu verbringen. Er schnappte sich sein Bündel und stieß die nächste Tür auf. Ein kleiner, runder Raum, in dessen Mitte eine Wendeltreppe nach oben führte. Dem Mobiliar nach so etwas wie ein Esszimmer.

Die Treppe führte in ein weiteres rundes Zimmer. Eindeutig ein Schlafraum. Eine weitere Etage. Hier endete die Treppe. Der Raum war gesäumt von leeren Bücherregalen und Arbeitstischen. An der Wand hingen ebenso leere Haken. Jo packte seine beiden Spiegel aus. Gotetuli bekam den Platz direkt hinter der Treppe. Er verhängte ihn sorgsam. Dann griff er nach seinem Arbeitsspiegel. Zwei Dinge waren jetzt wichtig. Jo konzentrierte sich. Zuerst der Schutzzauber. Der Einfachheit halber zog er ihn durch die ganze Wand seines neuen Turms, inklusive der Tür. Dann ein zweiter Schutzzauber. Wer immer in seinem Arbeitszimmer spionieren wollte, sollte ins Schwitzen kommen. Jo legte alle seine Kenntnisse hinein. So. Das war geschafft. Und jetzt noch ein kleiner Überblick. Er befahl seinen Wänden, durchsichtig zu werden. Der Turm gehorchte. Wörtlich. Nicht nur die Wände, auch der Fußboden wurde durchsichtig. Einen schrecklichen Moment lang hatte Jo den Eindruck, in die Tiefe zu stürzen. Dann fing er sich wieder. Göttin, waren seine Nerven schlecht!

Ein flüchtiger Blick rundum überzeugte ihn, dass die Aussicht sich nicht lohnte. Sein winziger Turm stand in einem Talkessel zwischen drei mächtigen Türmen, deren Wucht ihn fast erdrückte. Von der Stadt konnte er nichts sehen. Bei so einer Aussicht würde er trübsinnig. Jo befahl der Wand, wieder undurchsichtig zu werden.

***

Dacas wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Es war lächerlich. Ein König sollte nicht weinen, wenn seine Tochter den Thronerben des Nachbarlandes heiratete. Auch nicht, wenn es seine Lieblingstochter war. Selbst dann nicht, wenn diese Tochter das Ebenbild ihrer innig geliebten Mutter war.

Wenn er wenigstens sicher sein könnte, dass Sirit glücklich würde. Aber der karapakische Erbe hatte etwas an sich, was ihn unheimlich erscheinen ließ. Und Dacas Menschenkenntnis hatte ihn selten getäuscht. Ein schöner junger Mann, intelligent und gesund, daran bestand kein Zweifel. Ein wenig eitel und sehr von sich eingenommen, aber welcher junge Mann würde sich anders verhalten, schon gar, wenn er ein Prinz war? Und trotzdem, so, wie er sich bei seinem Besuch den Dienern gegenüber benommen hatte, insbesondere den Dienerinnen … Dacas konnte den Finger nicht genau auf das legen, was ihn warnte, aber es war da. Ein kleines, nagendes Gefühl.

Sirit schien dieses Gefühl zu teilen. Die junge Braut sah aus, als ob sie zu einer Totenfeier musste, statt zu ihrer Hochzeit. Außer, dass sie keine Träne vergoss. Steif stand sie da in der üppigen blauroten Pracht ihrer Brautgewänder und starrte dem karapakischen Brautzug entgegen, der sich gerade mit zweihundert Berittenen, fünfhundert Fußsoldaten, einem Dutzend Gauklern und Musikanten, mehreren Ochsenkarren und etlichen Sänften durch die Straßen Tolors auf den Palast zu bewegte. An der Spitze ritt der älteste Sohn des karapakischen Königs, in exzellenter Haltung, einen Königsfalken auf der Schulter. Ja, wenn er der Brautgemahl seiner Tochter gewesen wäre, dann hätte er nicht um Sirit gefürchtet. Aber Ioro war nur der Feldherr. Seine Aufgabe war einzig, die Braut seines Bruders sicher nach Sawateenatari zu geleiten.

Dacas wischte eine zweite Träne aus seinem unbotmäßigen Auge.

*

Ioros Hengst tänzelte auf der Stelle. Er fasste den Zügel stärker. Die tolorische Bevölkerung hatte zwar den Brautzug pflichtschuldigst begrüßt, aber von Jubel war die Stimmung weit entfernt. Mehr als jede offizielle Äußerung ließ ihn die Zurückhaltung der Menge spüren, wie wenig dem Volk gefiel, dass ihre Prinzessin ausgerechnet den Sohn ihres Erbfeindes heiratete.

Sie waren Narren. Jede noch so schlechte Heirat einer Prinzessin war besser als Krieg zwischen den benachbarten Königreichen. Die Tolorier hatten Glück, das ihr König Dacas vernünftig genug war, um das einzusehen, zumal die Einfälle der Nomadenstämme in beiden Königreichen von Jahr zu Jahr zunahmen und es höchste Zeit wurde, beider Kräfte militärisch zu vereinen. Wenigstens die Adeligen besaßen Verstand genug, das zu begreifen.

Er lenkte den Hengst weiter. An den Eingangsstufen zum Hauptflügel des Schlosses wartete ein Page. Ioro sprang ab und warf ihm die Zügel zu. Der Hengst rollte mit den Augen, ließ sich dann aber von dem Kind zur Seite führen. Ioro schritt die Stufen hinauf und verbeugte sich vor Dacas. Der Falke flatterte, um sein Gleichgewicht zu halten.

Dacas zog die Augenbrauen überrascht zusammen. „Ihr reist mit einem verkrüppelten Falken?“

„Er ist nicht verkrüppelt!“ Schnell rief Ioro sich zur Raison. Er durfte nicht so emotional reagieren. „Seine Federn verbrannten, als er mir das Leben rettete. Sie werden nachwachsen. Er wird schon bald wieder fliegen können. Bis dahin aber ist es nur gerecht, das ich ihn trage, schließlich verdankt er mir seine vorübergehende Einschränkung.“

Dacas nickte, als ob ihm gerade etwas bestätigt wurde. Kunststück. Ioro wäre jede, absolut jede Wette eingegangen, dass Dacas genau über die vergangenen Geschehnisse in Sawateenatari informiert war. Aber der alte Fuchs war schlau genug, so zu tun, als wüsste er von nichts. Die zukünftige Familie seiner Tochter sollte ihr Gesicht wahren dürfen vor dem tolorischen Volk.

Jetzt regte auch Sirit sich, die bislang starr wie eine Marmorstatue zwischen ihrem Vater auf der einen und ihrem Bruder und ihrer Mutter auf der anderen Seite gestanden hatte. Es war nur ein winziges Kräuseln ihrer Mundwinkel, eine kaum merkbare Bewegung ihres Kopfes, aber Ioro hatte den Eindruck, dass Sirit sich über seine Verteidigung des Falken freute. Tolioro hatte mehr Glück als Verstand, dass er diese Frau heiraten durfte. Sie war zwar hässlich, aber ganz offensichtlich nicht nur intelligent, sondern auch mitfühlend. Obwohl Ioro bezweifelte, das ausgerechnet diese Eigenschaft bei seinem Bruder auf Gegenliebe stoßen würde.

Er stieg die Stufen empor, kniete vor Sirit nieder und präsentierte ihr Tolioros Brautgabe. Funkelnd brach sich die Sonne in dem blutroten Stein.

Ein kollektives Stöhnen lief durch die Menge.

Der heilige Stein der Brennenden Göttin, der Göttin Tolors! Der Stein, den Karapak vor mehr als fünf Generationen bei einem Vorstoß auf die Ebenen der Steinsäulen aus dem Roten Tempel entführt hatte! Der heilige Stein kehrte zurück nach Hause!

Sirit streckte zwei zitternde Hände aus. Behutsam nahm sie den Stein vom Kissen, führte ihn an ihre Lippen. Dann hob sie ihn über ihren Kopf, reckte ihn, so hoch sie konnte, und präsentierte ihn der Menge.

Tolor erzitterte unter einem frenetischen Freudenschrei. Der Bann war gebrochen. Jubelnde Menschen durchbrachen die Absperrungen und strömten zu den überraschten karapakischen Reitern und Fußsoldaten. Sie umarmten die völlig verblüfften Männer, steckten ihnen Blumen zu und küssten sie. Es dauerte nur wenige Momente und aus der geordneten Hochzeitskarawane war ein riesiges, feierndes, tanzendes, jubelndes Menschenknäuel geworden.

Ioro lächelte. Er hatte recht gehabt. Diese Hochzeitsgabe war die einzig richtige, die einzig mögliche, wenn Kanatas Friedensangebot überzeugend wirken sollte.

*

Sirit schob den Vorhang ihrer Sänfte ein wenig zur Seite. Das Panorama der Berge war atemberaubend schön. Es schnürte ihr die Kehle zusammen. Das letzte Mal, das allerletzte Mal in ihrem Leben, dass sie ihre heimatlichen Berge sehen konnte. Schon morgen würden sie das karapakische Flachland erreichen, das sie nie in ihrem Leben wieder verlassen sollte. Am liebsten hätte sie so laut losgeheult wie ihre Dienerinnen, die in den anderen Sänften saßen. Wenn man ihr wenigstens erlauben würde, zu reiten, dann hätte sie die Berge noch ein letztes Mal in all ihrer Schönheit genießen können, statt in diesem düsteren, stickigen Kasten zu sitzen. Aber nein, Karapakier hielten es für würdelos, wenn Frauen auf Pferden saßen. So war es ihr nicht einmal vergönnt, richtig Abschied zu nehmen von ihrer Heimat. Sirit schluckte ihre ungeweinten Tränen.

Von vorne erklangen Rufe. Die Karawane wurde langsamer. Sirit war irritiert. War schon wieder einem der Ochsenkarren ein Rad gebrochen? Die Karapaki waren verrückt, in den Bergen mit Ochsenkarren zu fahren. Kein tolorischer Händler hätte sich auf derartigen Unsinn eingelassen. Maultiere und Tragochsen, damit schafften intelligente Leute ihr Hab und Gut durch die Berge. Aber wenn sie so an Tolioro dachte, dann war es mit der Intelligenz der Karapakier wohl nicht so weit her, wie die selbst dachten. Nur von dessen älterem Bruder hielt sie ein wenig mehr. Dieser Ioro schien nachzudenken, bevor er handelte. Und er war fähig, ihr beim Spiel Paroli zu bieten.

Da kam er auch schon. Diesen speziellen Hufschlag kannte sie mittlerweile fast im Schlaf.

Sie schob den Vorhang noch ein wenig weiter zur Seite und blickte zu dem Mann auf. Der neigte höflich seinen Kopf.

„Geehrte Dame, ich habe mir erlaubt, die heutige Etappe etwas früher zu beenden“, sagte er. „Wir haben gerade das Ufer des Migao erreicht. Man hat mir gesagt, dass Ihr diesen See sehr liebt.“

Jetzt begannen ihre Tränen doch zu fließen. Sirit ließ schnell den Vorhang zufallen und versuchte, sich zu sammeln. Diese Geste des Mitgefühls hatte sie nicht erwartet. Nicht von einem königlichen karapakischen Feldherren. Ein geschenkter halber Tag für einen letzten Aufenthalt in ihren Bergen. Der See war ihr egal, Sie hatte ihn noch nie in ihrem Leben besucht. Und das musste auch der Karapaki wissen. Aber die Berge, ihre Berge … Sie dankte der Göttin, dass es Ioro war, der sie in ihre neue Heimat geleitete.

*

Tolioro hob den Krug mit billigem Wein und nahm einen Schluck. Er verzog das Gesicht. Sauer. Nun ja, das war zu erwarten gewesen. Was sollte so eine billige Kaschemme auch sonst anbieten.

Wo blieb nur sein Kontaktmann?

Am Nebentisch erhob sich ein Zecher und wankte schwankend in seine Richtung. War der das? Nein, der Mann war wirklich betrunken. Glasige Augen starrten ihn kurz an, dann schlurfte der Mann weiter. Seine Hand schleppte über den Tisch, Tolioros Krug fiel um. Sofort bildete sich eine große Lache und einige dünne Fäden Wein begannen zwischen den groben Brettern durchzusickern. Tolioro spürte, wie seine Hose nasse Flecken bekam. Einen Moment war er versucht, dem ungeschickten Tölpel die Klinge zwischen die Rippen zu rammen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, weshalb er hier war. Angewidert starrte er auf die rote Pfütze und zog seine Beine zurück.

„War keine Absch…sch..schicht“, nuschelte der Mann und tätschelte ihm ungeschickt den Rücken. „War’n Versehn. Wirklisch. Nnn Versehn.“

Wenn der Kerl nicht bald abzog, war er tot!

Aber was tat der da? Der wollte sich doch wohl nicht wirklich zu ihm setzen?

Genau das tat der Betrunkene. Wie selbstverständlich rutschte er zu Tolioro auf die Bank, machte sich schön breit und schob dabei Tolioro ein Stück zur Seite. Dann legte er plump-vertraulich seinen Arm um Tolioros Schultern und zog dessen Kopf zu sich heran. Tolioro versteifte sich.

„Du werscheischt mir, hä?“

Während Tolioro noch überlegte, welchen Körperteil er dem Mann zuerst abschneiden sollte, rückte der mit seinem fettigen Bart noch näher und flüsterte: „Tut so, als ob Ihr auch betrunken seid. Geht auf mein Spiel ein, Ihr wollt doch keine Aufmerksamkeit erregen, nicht hier, oder?“ Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Isch geb disch ein aus. Ein guten. Nich hier, woanners, wo’s bescher schmeggt. Komm.“ Er zerrte Tolioro hoch und Richtung Ausgang. Tolioro ließ sich widerwillig mitziehen. Niemand beachtete sie.

Hinter der nächsten Straßenecke riss Tolioro sich ungestüm los, zückte seinen Dolch und setzte ihn dem Fremden an die Kehle. „Was sollte das gerade?“, zischte er.

„Ihr seid inkognito, oder?“, gab der andere kalt mit plötzlich nüchterner Stimme zurück. „Es erschien mir am einfachsten, auf diese Art und Weise Eure Tarnung zu bewahren.“

Tolioro knurrte wütend. „Und warum sollte ich dir nicht trotzdem für dein unverschämtes Verhalten die Kehle durchschneiden?“

„Weil Ihr dann nicht hören würdet, was Graf Chilikit Euch ausrichten lässt“, gab der Mann unbeeindruckt zurück.

Tolioro steckte nach kurzem Zögern die Waffe weg. „Dann lass hören.“

„Nicht hier. Gehen wir an einen weniger öffentlichen Ort.“

Tolioro musterte spöttisch die ramponierten Mauern und die zugenagelten Fenster der benachbarten Gebäude. „Öffentlich?“

„Auch Ratten haben Ohren.“

Wenige Straßen weiter führte der Fremde ihn in ein kleines fensterloses Haus und verschloss hinter ihnen die Eingangstür. Er entzündete ein Licht. Tolioro wartete in einigem Abstand. Sein Misstrauen war noch nicht besänftigt.

Sein Gegenüber hob in gespielter Ergebenheit die Hände. „Keine Gefahr, ich bin unbewaffnet gekommen. Ihr mögt mich durchsuchen, wenn Ihr mir nicht glaubt“, fügte er mit leichtem Spott hinzu.

Tolioro ballte die Faust hinter dem Rücken. Verdammter hochnäsiger Kerl. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. „Was also lässt mir Graf Chilikit ausrichten?“

„Eure Braut ist unterwegs.“

Tolioro schnaubte verächtlich. Daran hatte er keinen Moment gezweifelt. Ioro holte seine Braut schließlich, Ioro, sein wunderbar guter, wunderbar zuverlässiger Bruder.

„Eure Brautgabe hat alle in Tolor von Euren lauteren Absichten überzeugt. Ganz Tolor feiert Euch.“

Ja, aber auch das nur, weil sein Bruder wieder so oberschlau gewesen war. Ioros Vorschlag war es gewesen, dieses dämliche Juwel nach Tolor zurückzuschaffen. Na gut, wenigstens feierten sie ihn dafür und nicht Ioro. Trotzdem …

„Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass euer Vater Ioro nach wie vor nicht traut.“

Das war endlich mal eine gute Nachricht. Aber woher konnte Chilikit das wissen?

„Wenn Ihr Euch bei dieser Heirat schlau verhaltet und überzeugend für euren Vater schauspielert, dann habt Ihr gute Karten.“

Das wiederum hatte er sich selbst denken können. Mal ganz abgesehen davon, dass seine Mutter ihm seit Tagen damit in den Ohren lag.

„Ihr werdet, als frisch verheirateter Ehemann, vermutlich sehr viel Zeit mit Eurer Frau verbringen wollen.“

Mit dieser hässlichen, blassen Missgeburt? Bestimmt nicht!

„Sollte Euch aber dennoch einmal der Sinn nach etwas Abwechslung stehen, so erlaubt sich Graf Chilikit, Euch als Hochzeitsgeschenk ein bestimmtes Haus in Sawateenatari zukommen zu lassen. Ein Haus, in dem einige der schönsten jungen Frauen Tolors auf Euch warten. Weit genug entfernt vom Palast und gut abgeschirmt vor den spähenden Augen eures Vaters.“

Das hörte sich schon besser an.

„Da Graf Chilikit weiß, dass ihr einen hohen Bedarf an jungen Frauen habt, wird er immer rechtzeitig für Nachschub sorgen. In den Bergen gibt es viele Dörfer. Ein paar Esser weniger am Tisch werden dort begrüßt. Und niemand stellt Fragen.“

Das hörte sich sogar ausgezeichnet an! Tolioro fühlte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss.

„Das“, sagte der Zauberer, „war nur die höfliche Vorrede. Jetzt kommen wir zum ernsten Teil der Botschaft, zum Geschäft.“

Geschäft? Ja, da war noch diese Kleinigkeit, die er Graf Chilikit zugesichert hatte.

„Ich war nicht derjenige, der meinem Vater diese illegalen Geschäfte unter die Nase gerieben hatte“, knurrte er wütend.

„Das wissen wir.“ Der Zauberer lächelte so liebenswürdig wie eine Baumschlange. „Seid gewiss, das wissen wir. Nein, diese Erkenntnisse hatte Euer Vater von seinem Geheimdienst. Und der wiederum hatte einen Tipp bekommen vom tolorischen Geheimdienst. Sozusagen ein Freundschaftsdienst unter Königen. Wir wissen, wer es war. Die undichte Stelle existiert nicht mehr.“

Tolioro konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken.

„Aber die Geheimdienste sind jetzt alarmiert. Wir werden unsere Geschäfte für einige Zeit einstellen müssen. Jetzt liegt es an Euch, Hoheit, Bedingungen zu schaffen, dass wir sie wieder aufnehmen können.“

„Und wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Tolioro verärgert. „Soll ich zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, sei doch mal so nett und erlaube diesem bestimmten Tolorier, zollfrei illegale Waren nach Karapak einzuführen? Überreden oder gar bestechen kann den König niemand.“

„Genau das ist der Punkt.“ Die Augen des Fremden glitzerten im Zauberlicht. „Der König wird sich nie darauf einlassen. Nicht, solange er lebt. Und auf unserer Seite … nun, sagen wir, König Dacas ist eher noch weniger als Euer Vater geneigt, ein Auge zuzudrücken. Wenn wir freien Handel und gute Geschäfte wollen, müssen wir die passenden Rahmenbedingungen schaffen.“

„So, passende Rahmenbedingungen.“

„Passende Rahmenbedingungen, ja“.

„Eure Rahmenbedingungen schließen nicht zufällig den plötzlichen Tod zweier Könige ein?“

„Ich sehe, wir verstehen uns prächtig“, sagte der Fremde und lächelte.

*

Ganz Sawateenatari war auf den Beinen und jubelte. Zumindest schien es Sirit so. Zur Abwechslung war sie froh um die Sänfte und ihre Vorhänge. Wer wusste, ob die Karapaki noch jubeln würden, wenn sie sehen könnten, was für eine Frau ihr Kronprinz heiraten sollte. Das eine wusste sie mittlerweile mit Sicherheit: Hellhäutige Menschen gab es so gut wie gar nicht im Reich Karapak, und die Karapakier betrachteten helle Haut und helle Augen als abgrundtief hässlich. Freiwillig hätte Tolioro sie bestimmt nie genommen. Es war also zumindest zweifelhaft, ob diese Jubelrufe wirklich ihr galten.

Natürlich konnte auch Ioro der Adressat sein. Von dieser Brandnarbe abgesehen, sah der junge Mann wirklich gut aus. Ja gut, er hatte die Falkennase aller Männer aus dem Hause Mehme, aber in seinem Gesicht wirkte sie irgendwie passend. Man konnte sich daran gewöhnen. Insbesondere dann, wenn er lächelte. Dann strahlten auch seine Augen förmlich. Schade, dass nicht Ioro ihr Gemahl sein würde.

Sirit hörte den schrillen Ruf des Falken, der Ioro ständig begleitete. Der Prinz konnte nicht weit weg sein. Sie hatte ihn jetzt mehrere Wochen jeden Tag gesehen, mit ihm gespeist und mit ihm gesprochen. Er war ein guter Unterhalter, wusste genau, was bei Frauen gut ankam. Mindestens jede zweite ihrer Dienerinnen war in den Prinzen verliebt. Ioro hatte sie alle höflich, aber bestimmt abgewiesen. Wirklich sehr, sehr schade, dass nicht Ioro der Kronprinz von Karapak war.

*

Iragana beobachtete das Eintreffen der Hochzeitskarawane unten im großen Hof des Palastes. Ihr Mann und Tolioro standen vor den bronzebeschlagenen Flügeltüren. Die Sänfte mit den aquamarinblauen Vorhängen wurde nach vorne getragen. Ioro sprang vom Pferd und schritt zu der Sänfte, um die Vorhänge zurückzuschlagen. Dann erschien eine zarte, sehr blasse Hand. Ioro ergriff sie und half der zukünftigen Frau seines Bruders, die Sänfte in formvollendeter Haltung zu verlassen.

Iragana nickte zufrieden. Die Tolorierin hatte es nicht gewagt, die Sitten ihrer barbarischen Heimat einzuführen. Sie trug, wie jede ehrbare karapakische Frau, den blauen Hochzeitsschleier über den Kopf gezogen. Die schweren Kleider ermöglichten ihr keine raumgreifenden Bewegungen, sie trippelte neben Ioro her, fast wie ein kleines Mädchen. Sie war tatsächlich sehr kurz geraten. Das war gut, Tolioro mochte kleine Frauen. Allerdings … wenn man genauer hinsah, konnte man sehen, dass diese tolorische Frau deutlich fülliger war als eine Karapakierin. Und nach allem, was Iragana gehört hatte, war diese fremde Prinzessin ziemlich hässlich. Blasse Haut, blaue Augen, zu dick. Nichts, was Tolioro anziehend finden würde. Nicht einmal ihr Name war schön. Sirit. Hart klang das. Aber was sollte man von einem Weib aus den Bergen schon besseres erwarten.

Zumindest bestand so die Chance, dass sie lange genug leben würde, um Tolioro einen Erben zu gebären.

*

Sirit schielte durch den dünnen Stoff ihres Schleiers hoch zu den beiden Männern. Kanata sah aus wie Ioro. Wie ein deutlich älterer Ioro. Die gleiche Haltung, die gleiche Nase, die gleiche Selbstsicherheit. Neben ihm wirkte Tolioro wie ein grüner Junge. Es verbesserte keineswegs die Lage, dass er ziemlich gelangweilt wirkte und seine zukünftige Ehefrau keines Blickes würdigte.

Sirit verbeugte sich schweigend. Nur gut, dass das Protokoll von ihr keine Worte verlangte. Zwar konnte sie fließend Karapakisch, aber jetzt und hier … sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich ein Wort herausgebracht hätte. Ein dicker Kloß schien in ihrem Hals zu stecken.

Kanata winkte sie herauf. Sirit gehorchte und stellte sich neben Tolioro. Kanata winkte erneut. Ein Schreiber präsentierte ihm den Vertrag. Kanata tat, als ob er ihn lesen würde, aber sein Blick ruhte dabei auf Sirit. Sie hob trotzig das Kinn. Was sollte das? Auch ihr Vater war ein König! Kanata nickte und unterschrieb. Dann wandte er sich an das junge Paar. „Morgen, wenn ihr die Ehe vollzogen habt, werde ich den Vertrag siegeln.“

Dann stolzierte er zurück in den Palast.

Sirit stand wie vom Donner gerührt. Das war alles? Das sollte ihre Hochzeitszeremonie sein? Die hatte sie sich anders vorgestellt. Kanata hatte ihr überdeutlich gezeigt, dass nicht sie selbst wichtig war, sondern nur der Vertrag. Sie schluckte. Ioro hatte ihr immer wieder gesagt, dass in Karapak die Frauen nicht die gleiche Rolle spielten wie in Tolor. Zum ersten Mal glaubte sie ihm wirklich.

Tolioro zerrte ungehalten an ihrem Ärmel. Er wollte hinein. Sirit senkte den Kopf und folgte ihrem Ehemann.

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