Читать книгу Gemmotherapie in der Kinderheilkunde - eBook - Chrischta Ganz - Страница 7

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EINFÜHRUNG

Dr. Pol Henry und die Gemmotherapie

Der belgische Arzt, Homöopath und Naturforscher Dr. Pol Henry (1918–1988) forschte mit embryonalem Pflanzengewebe (Knospen, Trieb- und Wurzelspitzen), das er in Glycerin und Alkohol auszog, und untersuchte dessen Wirkung auf den Menschen. Die erste vertiefte Knospenanwendung erfolgte mit der Moorbirkenknospe (Betula pubescens), bei der Dr. Henry eine anregende Wirkung auf die Kupffer’schen Sternzellen der Leber entdeckte und somit ein in der Heilpflanzenkunde bisher unbekanntes Anwendungsgebiet für die Moorbirkenknospen erschloss.

Die Erfahrungen mit den Knospenauszügen übertrafen die Erwartungen von Dr. Henry bei Weitem. Dr. Max Tétau (1927–2012), ein langjähriger Mitarbeiter und Freund Dr. Henrys, gab dieser Heilmethode den bis heute üblichen Namen »Gemmotherapie«. Im Jahr 1982 erschien Dr. Henrys Buch Gemmothérapie thérapeutique par les extraits embryonnaires végétaux, 1965 wurde die Arzneimittelherstellung von Gemmotherapeutika in die Pharmacopée française aufgenommen und bekam damit offizielle Anerkennung. Und 2011 hielt das Herstellungsverfahren schließlich Einzug ins Europäische Arzneibuch, die Pharmacopoeia Europaea, und wurde den homöopathischen Arzneimitteln zugeordnet. Heute sind Gemmotherapeutika in allen europäischen Ländern, in den USA, in Australien und Neuseeland erhältlich. Die größte Verbreitung haben sie in den frankophonen Ländern. Im deutschsprachigen Raum gewinnt die Gemmotherapie immer mehr Anhänger und ist mittlerweile gut bekannt.

Aber ist die Anwendung von embryonalem Pflanzengewebe, vor allem der Knospen, innerhalb der Heilkunde wirklich etwas so Neues? – Ganz sicher nicht! Die ländliche Bevölkerung nutzt seit jeher die stoffwechselanregenden und »verjüngenden« Kräfte frischer Pflanzentriebe. Ein herausragender Vertreter der naturverbundenen Volksheilkunde, der Schweizer »Kräuterpfarrer« Johann Künzle (1857–1945), empfahl in seinem Buch Chrut und Uchrut das Sammeln von jungen Schossen (Trieben) von allen Dornenarten, um sie in wässriger Abkochung kurmäßig einzunehmen. Es darf sicher davon ausgegangen werden, dass er mit seiner auf Naturbeobachtung basierenden Empfehlung nicht allein dasteht. Historische Zeugnisse von Knospenanwendungen zu Heilzwecken reichen bis ins alte Ägypten. Auch die heilige Hildegard von Bingen (1098–1179), eine wichtige Vertreterin der frühmittelalterlichen Heilkunde, gibt detaillierte Informationen zur Anwendung von Birken-, Schwarzen-Johannisbeer-, Edelkastanien-, Heckenrosen-, Eschen-, Pappel-, Apfelbaum- und Lindenknospen.

Es ist Dr. Pol Henry, Dr. Max Tétau und ihrem Team zu verdanken, dass die Kraft der Knospen heute für die naturheilkundliche Therapie wieder zur Verfügung steht.

Embryonales Pflanzengewebe – Ort der gespeicherten Lebenskraft

In der Gemmotherapie wird das Kostbarste und Lebendigste jeder Pflanze verwendet, um es dem Menschen zur Verfügung stellen zu können: embryonales Pflanzengewebe aus Knospen, Keimlingen, Wurzel- und Sprosstrieben, das sich in hoher Zellteilungsaktivität befindet. Das Potenzial dieses pflanzlichen Gewebes, wofür die Knospe im konkreten wie auch im übertragenen Sinne steht, manifestiert sich in der ausgezeichneten Heil- und Regenerationskraft der sogenannten Gemmomazerate (Alkohol-Glycerin-Lösungen; vom lateinischen macerare für »einweichen«). Diese Kraft lässt sich sinnbildlich mit dem Aufbrechen einer Knospe oder dem Durchbrechen von Asphalt durch einen jungen Pflanzentrieb veranschaulichen. Die Kraft dieses jungen Gewebes bewährt sich auch deshalb in besonderem Maß in der Kinderheilkunde.


Querschnitt einer Eschenknospe


Querschnitt einer Fliederknospe

Die Bedeutung der Pflanzensoziologie innerhalb der Gemmotherapie

Dr. Pol Henry wies immer wieder darauf hin, sich bei der Kombination von Heilmitteln von natürlichen Pflanzengesellschaften inspirieren zu lassen. Damit beschritt er einen von vielen Naturheilkundigen empfohlenen Weg, der Natur als wichtigstem Lehrer zu folgen. Dieser Lehrer offenbart sich in einer Sprache, die den alten Heilkundigen als »Signaturenlehre« geläufig war. Ein Teil der Heilpflanzen-Signaturenlehre gründet darauf, zu beobachten, welche Pflanzen sich gern vergesellschaften. Eine wiederkehrende Pflanzenvergesellschaftung wird sinnvoll für die einzelnen Pflanzen sein, sie werden gegenseitig voneinander profitieren. Genauso wird man gut daran tun, sie in der Therapie zu kombinieren. Ihre Heilwirkungen werden dadurch verstärkt (Synergismus) und abgerundet.

Am Beispiel des natürlichen Biotops des Erlenbruchwaldes mit der entsprechenden Pflanzengesellschaft möchten wir dies verdeutlichen. Der Erlenbruchwald ist ein in Mitteleuropa einst häufiges, heute durch Trockenlegung gefährdetes Biotop. Er ist gekennzeichnet durch einen anhaltend nassen, sumpfigen Grund ohne starke Wasserströmungen. Überschwemmungen finden in der Zeit der Schneeschmelze statt und können mehrere Wochen bis Monate andauern. Der Nährstoffgehalt des Bodens ist im Vergleich zu einem Moor relativ hoch, der Boden ist leicht sauer (pH 5,3 bis 6,5). In diesem Biotop typisch sind die Schwarzerle (Alnus glutinosa), die Gewöhnliche Esche (Fraxinus excelsior), die Moorbirke (Betula pubescens) und die Schwarze Johannisbeere (Ribes nigrum). Gemmomazerate dieser vier Bäume und Sträucher lassen sich also vorteilhaft miteinander verbinden, sie wirken synergistisch. Dieses Biotop findet seine Entsprechung beim exsudativen Stadium einer Entzündung.

Bäume und Menschen – Bäume und Kinder

Knospen entstehen, ruhen und treiben aus. Der Zyklus einer Knospe verbindet Herbst, Winter, Frühling und Sommer und lässt den Menschen am Jahreskreis teilhaben. Das Leben eines Baums und eines Strauchs erzählt vom Werden und Vergehen, Wachsen und Sterben, von einer Welt von Samen, aufbrechenden Knospen, von Saft und Holz, wachsenden und fallenden Blättern. Bäume und Sträucher bieten Insekten, Vögeln, Pilzen und vielen anderen Lebewesen Nahrung und Schutz. Und ihre Wurzeln greifen tief in die Ahnenwelt, wo das Wasser des Lebens sorgsam gehütet wird.

Mit der Gemmotherapie eröffnet sich uns eine neue Form, die alte Baumheilkunde wiederaufleben zu lassen und weiterzuentwickeln. Bäume richten ihre Aufmerksamkeit durch die Wurzeln auf den Boden und sind tief verankert und verbunden mit Mutter Erde. Über ihre Blätter und Äste kommunizieren sie mit der Luft und dem Himmel. Die Bewegungen der Bäume und Sträucher sind abhängig von Licht, Wind und Regen. Sie wenden sich der Sonne, dem Mond und allen Sternen zu. Oft haben Bäume ein hohes Alter und strahlen Größe, Erhabenheit, Güte und Weisheit aus. Seit Menschengedenken sind wir bei ihnen willkommen – sie scheinen uns zu rufen, damit wir zu ihnen gehen.

Bäume sind des Menschen große Brüder, seine Freunde, Begleiter und Vertraute. Ebenso, wie sie im Boden wurzeln, stehen wir mit beiden Füßen auf der Erde. Und wie sie ihre Äste in die Luft hinausstrecken und dem Himmel entgegenwachsen, stehen wir aufrecht und recken unseren Kopf in die Höhe. Sie wandeln unser ausgeatmetes Kohlenstoffdioxid in Sauerstoff um und ermöglichen uns damit unser Leben. Wir sind stofflich und energetisch mit ihnen verbunden. Die Menschen in unserem Kulturkreis lebten vormals über Jahrtausende hinweg in tiefer Verbundenheit mit den Bäumen und Sträuchern ihrer Umgebung. Diese als nah verwandt empfundenen Vertreter des Pflanzenreichs prägten das Alltagsleben bis tief in die Heilanwendungen hinein. Sorgen und Krankheiten wurden ihnen anvertraut. Man war sich sicher, dass die Bäume genauso wie die gesamte Natur Anteil am menschlichen Leben nahm. Es war ein Leben geprägt vom Gefühl des Miteinanders und weit weniger des Nebeneinanders.

Gerade Kinder fühlen sich mit Bäumen und Sträuchern oft sehr verbunden und spüren intuitiv ihre nahe Verwandtschaft mit dem jungen Pflanzengewebe von Knospen, Wurzel- und Triebspitzen.


Nach evolutionsgeschichtlichen Maßstäben wird offensichtlich, wie nah der Mensch mit den Bäumen verbunden ist. Fast die gesamte Zeit seiner zwei Millionen Jahre verbrachte er in tiefer Verbindung mit der Natur. Erst seit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung waren nicht mehr natürliche Lebensräume, sondern urbane Ballungsgebiete das Zentrum des Lebens. Diese Entwicklung hält weltweit an. Typisch für den städtischen Alltag sind vermehrte unnatürliche Sinnesreize, ja, es findet eine regelrechte Reizüberflutung statt. Kinder wie auch Erwachsene werden durch diese Entwicklung von ursprünglichen Naturerlebnissen isoliert.

Natürliches Grün hingegen führt uns zu Innenschau, Selbstreflexion und Intuition, die für das menschliche Leben und besonders für die Entwicklung der Kinder immens wichtig sind. Naturnahe Umgebungen wie ein Wald bieten uns ebenfalls eine große Menge an sinnlichen Eindrücken und Empfindungen wie Farben, Lichteffekten, Geräuschen, Gerüchen, Temperaturempfindungen und so fort. Im Gegensatz zur Reizüberflutung in den urbanen Gebieten wird uns hier aber ein Gefühl von stiller Faszination mit gleichzeitiger innerer Ruhe und Kraft geschenkt. Der Moment wird bewusst wahrgenommen, oft begleitet von einem wohligen psychischen Erleben und einem seelischen Erwachen. Dies ist eins der Geschenke der Bäume an uns. Was wir erleben und empfinden, wenn wir in die Aura eines Baums oder in einen Wald treten, ist eine Vielzahl von bewussten und unbewussten Einflüssen, die wir als Individuen in unserem Inneren zu einer Erfahrung zusammensetzen. Sobald ich als Mensch zu einem Baum gehe oder in einen Wald eintrete, werde ich Teil dieses »Lebewesens«, dieses Ökosystems. Oft geht einem dabei das Herz auf, was in der modernen Psychologie mit dem Prozess des »evolutionären Rückerinnerns« erklärt wird. Als ehemaliger Waldmensch betrete ich somit erneut mein damaliges Zuhause.

Mütterliche und väterliche Bäume

Zu allen Zeiten verehrten Menschen die mütterlichen und väterlichen Kräfte der Natur. Diese Kräfte manifestieren sich auch in unserem ursprünglichen Zuhause, dem Wald. Da gibt es Bäume mit mehr mütterlichen oder väterlichen Eigenschaften (manchmal auch beides in einem Baum vereint). Wer mit wachen Augen durch die Welt geht, erkennt in der Natur die mütterliche oder väterliche Ausstrahlung von Bäumen und Sträuchern. So ist zum Beispiel die Linde ein typisch mütterlicher Baum, die Eiche hingegen ein typisch väterlicher. Die Knospenheilmittel können darum auch nach solchen Gesichtspunkten ausgewählt werden. Fehlt es einem Kind beispielsweise an väterlicher Präsenz, kann die Eiche, eingesetzt als Gemmomittel, Gutes tun.


MütterlicheEchter Feigenbaum
BäumeFeldulme
Hängebirke
Schwarzer Holunder
Mandelbaum
Wolliger Schneeball
Silberlinde
Silberweide
Sommerlinde

VäterlicheBergkiefer
BäumeBrombeere
Edelkastanie
Hainbuche
Libanonzeder
Olivenbaum
Riesenmammutbaum
Stieleiche
Walnussbaum

Bäume als Entwicklungshelfer für die Menschen

Bäume begleiten den Menschen also seit jeher als Vertraute, als Brüder und Schwestern, als Mütter und Väter. Wer in diese Wahrnehmung eintaucht, wird oft ein wohlwollendes Entgegenkommen fühlen können, als ob sie einem zulächeln würden.

Überall dort, wo ein Zustand der Schwäche oder der Störung die natürliche Ordnung infrage stellt, stabilisiert und stärkt die Freundschaft mit den Bäumen und Sträuchern kraftvoll und schützend den rechten Lauf der natürlichen Ordnung – wie eine Botschaft der Hoffnung. Bäume als begleitende Entwicklungshelfer steigern die Verfügbarkeit von Ressourcen und Selbstheilungskräften und führen über neue Assoziationen zu anderen Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten.

So hilfreich und kraftvoll Bäume und Sträucher – überhaupt alles Grün um uns herum – unseren Lebensraum schützen, so offen bleibt, wie diese Kraft entsteht. Ist es die lebens- und gesundheitsbestimmende dynamische Grundidee der Natur, die die Bäume in uns wecken können? Sicher ist, dass Bäume das höhere Selbst, die Spiegelungen körperinnerer Organ- oder Zellkräfte und unsere Ressourcen und Selbstheilungskräfte direkt ansprechen.

Rituale – Sichtbarmachung verborgener Vorgänge

Der Weltenlauf, in den jeder Mensch und jedes Kind als winzig kleines Teilstückchen eingebunden ist, wird wohl ein immerwährendes großes Geheimnis bleiben. Und dennoch sind die natürlichen Gesetzmäßigkeiten im Alltag spürbar. Wir nehmen Tag und Nacht, die Jahreszeiten, individuelle Befindlichkeiten, Gesundheit und Krankheit als persönliche Erfahrungen ebenso wahr wie die kosmischen Abläufe. Auf diese Art und Weise gestalten wir das Leben und erfahren Veränderungen. Die Erscheinungen der Natur laden uns ein, mitzuschwingen, mitzutanzen, mit wachem Geist und hellen Sinnen ihre aktivierenden und regenerierenden Qualitäten zu erleben. Leben ist Rhythmus. Ohne Rhythmus ist das Leben nicht möglich. Wir sind eingebunden in das Ein- und Ausatmen des Kosmos, in den Rhythmus des Universums.

Kinder sind wesentlich stärker in diese Zyklen integriert als Erwachsene. Sie bekunden beispielsweise keine Probleme im Wechsel der Jahreszeiten. Sie kennen keine Frühjahrsmüdigkeit, keine Angst vor der Kälte des Winters, sie leben in den natürlichen Veränderungen, wie sie sich ereignen, freuen sich darauf, die von der Natur dargebrachten Geschenke entgegenzunehmen und damit zu spielen. Sie schwingen auf ursprüngliche Weise mit den inneren und äußeren Lebensrhythmen mit, was eine der besten Voraussetzungen für eine störungsfreie Entwicklung des Kindes ist.

Um diese Verbindungen von Vegetationsrhythmen, Mythologie, Brauchtum und Kosmos mit dem persönlichen Leben stärker ins Bewusstsein zu rufen, öffnet sich uns der weite Raum der Rituale. Damit lassen sich die natürlichen Zyklen und Rhythmen, denen wir Menschen genauso ausgesetzt sind wie die uns umgebenden Tiere und Pflanzen, angemessen würdigen. Rituale machen diese Verbindungen sicht- und spürbar. Unsere Vorfahren waren wie gesagt noch viel stärker in die natürlichen Vorgänge eingebunden – das Beachten und Verstehen der Wechsel, die das Leben ausmachen, war für sie existenziell. Auch Kinder spüren diese Rhythmen intuitiv. Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, wie abstrakt und unverständlich zum Beispiel der Begriff »bis Donnerstag« sein kann. Wenn ich den Kindern aber sage: »Noch zweimal schlafen«, erfassen sie die Zeitspanne sehr gut.



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