Читать книгу Mit intelligenten Kindern intelligent umgehen - Christa Rüssmann-Stöhr - Страница 11
ОглавлениеBEGRIFFSVIELFALT
Bei unserem Thema herrscht Verwirrung wie beim Turmbau zu Babel:
• „Hochbegabung“
• „besondere Begabung“
• „Sonderbegabung“
• „überdurchschnittliche Begabung“
• „Hochleistungsdisposition“
• „potenzielle Hochbegabung“
• „allgemeine Hochbegabung“
• „spezifische Begabungen“
• „intellektuelle Hochbegabung“
• „intellektuelle Begabung“
• „nicht-intellektuelle Begabung“
• „besonderes Talent“
• „generelle Intelligenz“
• „emotionale Intelligenz“
• „soziale Intelligenz“
• „allgemeine Intelligenz“
• „multiple Intelligenzen“
• „mathematisch-räumliche Intelligenz“
• „sprachliche Intelligenz“
• „fluide und kristalline Intelligenz“
So lauten einige der gebräuchlichen Begriffe in diesem Zusammenhang. Sie meinen teilweise dasselbe, teilweise Unterschiedliches. Geradezu eine Inflation von Begabungen und Intelligenzen.
THEORIEVIELFALT
Vergleichbares gilt für den theoretischen Hintergrund. Theorien zur Hochbegabung gibt es seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Experten sind sich bis heute nicht einig. Es gibt nicht die einzige, unumstrittene Auffassung,
• was Hochbegabung oder besondere Begabung eigentlich ist,
• womit sie zusammenhängt,
• wie sie entsteht,
• wie man am besten mit ihr umgeht.
Einig sind sich alle Experten darin, dass Intelligenz nicht homogen ist, dass sich Intelligenz also aus mehreren Aspekten ergibt. Ein Modell geht von einer Vielzahl unabhängiger Faktoren aus. Andere Experten sehen einen generellen Grundfaktor und darüber hinaus einzelne Spezialfaktoren.
Eine weitere Unterscheidung, die Eingang in die Konstruktion von Testverfahren gefunden hat, ist die Differenzierung zwischen sogenannter fluider und kristalliner Intelligenz. Unter fluider Intelligenz (von lateinisch fließend) wird „Bewegliches“ verstanden, also Denkgeschwindigkeit, Gedankenvielfalt, Kreativität, Originalität, Gehen eigener Denkwege, Phantasie. Kristalline Intelligenz ist dagegen eher etwas „Festes“, wie alles Gelernte, unsere Erfahrungen, Bildung, Wissen. Kristalline Intelligenz nimmt mit den Jahren zu, fluide Intelligenz nimmt mit den Jahren eher ab.
Bekannte deutsche Forscher auf dem Gebiet sind C. Fischer, K. A. Heller, F. J. Mönks und D. H. Rost, von denen jeder sein eigenes Konzept vertritt.
Lassen wir die Diskussion in der Wissenschaft beiseite, denn sie hilft im Alltag – im Umgang mit besonders begabten Kindern – nicht viel weiter. Was nun ist mit Hochbegabung gemeint?
Hochbegabung gleich Einstein oder Beethoven?
Es geht nicht um spezielle Sonderbegabungen à la Mozart oder Beet-hoven auf einem bestimmten Gebiet, sei es die Musik, die Kunst oder der Sport. Hochbegabung bezieht sich auf grundlegende Faktoren, die Intelligenz ausmachen, wie z.B. Denkgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsspanne, Erkennen logischer Zusammenhänge und Regeln, neugieriges kreatives Finden, das Wissen darum, warum etwas so und nicht anders ist.
HOCHBEGABUNG = DENKSTRUKTUREN
Intellektuell hochbegabt ist jemand,
• der sich schnell und effektiv neues Wissen aneignen kann, landläufig schnelle Auffassungsgabe genannt;
• der neues Wissen, neue Erkenntnisse mit bereits vorher Eingespeichertem breit vernetzen kann;
• der sein Wissen in neuen Situationen gezielt einsetzen kann;
• der seine Denk- und Lösungsstrategien auf ungewohnte Fragestellungen zielsicher übertragen kann;
• der gut auch schwierige Probleme lösen kann.
Wie viel ist drei Viertel von 60?
Ein Beispiel für die Denkstrukturen Hochbegabter: Ein siebenjähriger Junge gab auf die Frage: „Wie viel ist drei Viertel von 60?“ die richtige Antwort: 45.
Da er Bruchrechnen nicht kannte, konnte er nicht den für uns üblichen Weg der Berechnung (60 : 4 x 3) beschritten haben. Wie er darauf gekommen ist? Er hat nicht geraten, sondern logisch abgeleitet: „Die Stunde hat 60 Minuten. Und eine Dreiviertelstunde hat 45 Minuten. Also muss es 45 sein.“
Wie viel ist 7 mal 7?
Ein Vorschüler, fünf Jahre alt, murmelt: „2 mal 7 ist 14, dann 28, 3 ... ist 48, dann muss ich noch eins dazu, raus kommt also 49.“ Was steckt hinter dieser kryptischen Äußerung? Der Gedankengang des Kleinen war offensichtlich folgender: 2 x 7 ist 14. Dann ist 4 x 7 das Doppelte, also 28. Dann müssen noch 3 x 7, also 21 dazu. Da nehme ich erst die glatte Zahl 20, da bin ich bei 48. Und dann bleibt noch eins, was dazu muss. Also ist das Ergebnis 49.
Wann hast du Geburtstag?
Und ein letztes Beispiel. Es geht um die Bestimmung des Geburtsdatums. Frage: „Wann hast du Geburtstag?“ Antwort eines Fünfjährigen: „Am 13. Februar.“ Nächste Frage: „Und in welchem Jahr?“ Erstaunte Antwort: „In jedem Jahr.“ Völlig korrekte Antwort auf die ihm gestellte schwammige Frage.
HOCHBEGABUNG GLEICH GUTE LEISTUNG? UND GLEICH GUTE SCHULNOTEN?
Begabung ist nicht gleich Leistung. Der Hochbegabte als Primus mit nur Einsen auf dem Zeugnis: Das ist ein Vorurteil, das muss ganz und gar nicht so sein. Die Meinung, dass besonders begabte Kinder aufgrund ihrer enormen Begabung schulische Anforderungen gut bewältigen, dass ihnen alles leicht(er) von der Hand geht, ist ein Mythos. Oder um es anders zu sagen: Lernen und üben müssen auch Hochbegabte. Viele Probleme mit besonders begabten Kindern ergeben sich daraus, dass sie das Üben, die Anstrengung und das Lernen nicht oder viel zu spät lernen. Nur ca. 20 bis 25 Prozent der Ursachen für gute Schulleistung sind auf die Intelligenz zurückzuführen, also weit mehr als zwei Drittel liegen an anderen Faktoren! Oder anders herum: Man muss keineswegs hochbegabt sein, um in Schule oder Beruf Erfolg zu haben. In Zahlen: Lediglich 15 Prozent der hochleistenden Schüler sind Hochbegabte. Die anderen 85 Prozent sind nicht hochbegabt und erbringen trotzdem Höchstleistungen.
Begabung ist ein Potenzial. Persönlichkeitsmerkmale wie Motivation, Arbeitshaltung, Lernstrategien, Anstrengung, Durchhaltevermögen müssen hinzukommen. Und es gibt noch einen dritten wichtigen Faktor, von dem die Leistung abhängt: das soziale Umfeld.
„DIE“ HOCHBEGABUNG GIBT ES NICHT
Ebenso wie normal begabte Kinder sehr verschieden sind, so sind auch Hochbegabte keine einheitliche, eindeutig erkennbare Gruppe. Unter Hochbegabten findet man eine ebenso große Vielfalt von kleinen Persönlichkeiten, eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen. Unauffällig Angepasste, auffällige Chaoten, unbeliebte Besserwisser, beliebte Klassensprecher, usw. usw.
Underachiever
Es gibt sehr wohl Hochbegabte, die sehr schlechte Noten haben, die in der Schule versagen. Auf neudeutsch nennt man sie „Underachiever“ (Minderleister oder Geringleister), da sie viel mehr leisten könnten als sie tatsächlich zeigen. Hochbegabung ist eben nur die Möglichkeit zur Leistung, nicht die Leistung selbst. Daher gehen schulische Fördermaßnahmen, die sich auf Leistung beziehen – und das ist bei den meisten nach wie vor der Fall –, an Hochbegabten oft spurlos vorbei.
Hochbegabung braucht Unterstützung
(Hoch-)Begabung ist, wenn man so will, der gute Boden, der bei entsprechender Pflege viele hervorragende Pflanzen hervorbringen kann. Wenn dieser gute Boden aber schlecht beackert wird, dann wächst nicht viel außer Unkraut. Das heißt: Hochbegabte Kinder bedürfen ebenso wie Minderbegabte einer besonderen Förderung, einer „Sonderpädagogik“. Hier sind Eltern wie Lehrer gefordert. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Das Leistungsvermögen von Hochbegabten wird üblicherweise viel zu optimistisch eingeschätzt. Oder mit anderen Worten, von alleine entwickelt sich nicht viel. Ausgeklügelte individuell zugeschnittene Lerngelegenheiten mit hochwertigem Feedback sind absolut notwendig, damit auch besonders begabte Kinder lang andauernde Lernprozesse konzentriert durchhalten.
Hochbegabung ist äußerlich nicht sichtbar. In Situationen, in denen die besonderen Fähigkeiten Hochbegabter nicht zum Tragen kommen können, werden Hochbegabte nicht auffallen.
Hochbegabung gleich Behinderung?
Hochbegabung ist keine Krankheit, keine therapiebedürftige Behinderung. Hochbegabte sind keine durchgeistigten wunderlichen Sonderlinge, die an der richtigen Welt vorbei leben, Typ „zerstreuter Professor“. Auch die „Genie-Wahnsinn-These“ entspricht nicht den Tatsachen. Hoch- bzw. höchstbegabte Menschen entwickeln nicht zwangsläufig eine pathologische Persönlichkeitsstörung. Hochbegabung ist Potential, das allerdings nur bei entsprechender Erziehung und Unterrichtsgestaltung zu kreativ-schöpferischen oder wissenschaftlichen Leistungen führt.
Hochbegabung gleich Erfolg und Karriere?
In Schlüsselpositionen in der Wirtschaft oder in der Politik sitzen selten Hochbegabte. Wo Macht und Durchsetzungsverhalten eine große Rolle spielen, ist die ausgeprägte Sozialkompetenz Hochbegabter fehl am Platz. Sie streben deshalb in der Regel keine Führungspositionen an, sie verweigern sogar klassische Karrierewege, weil sie fürchten, dann nicht mehr inhaltlich sinnvoll arbeiten zu können. Andererseits wollen sie hoch motiviert ihre Umgebung, ihre Arbeit, ihre sozialen Beziehungen zum Besseren gestalten. Hochbegabte bringen sich hier deutlich mit Verbesserungsvorschlägen ein – nicht immer zur Freude von Chef und Kollegen.
Hochbegabten geht es zumeist um logische Konsequenzen, um sachliche Richtigkeit beziehungsweise grundsätzliche Klarheit. Dieses Bestreben kann dazu führen, dass einige Hochbegabte gegen die Autorität oder das System rebellieren und von daher aggressiv und renitent erscheinen. Sie haben ihre Schwierigkeiten mit dem normalen Erziehungssystem, ebenso wie Minderbegabte damit ihre Schwierigkeiten haben.
Hochbegabte Kinder ziehen sich durch ihre hohe soziale Sensibilität eher zurück – die anderen gleichaltrigen Kinder sind zu laut, zu dumm, zu derb, zu aggressiv... Hochbegabte sind nicht aggressiv – Aggression und körperliche Gewalt finden sich eher bei Kindern, die unterdurchschnittlich intelligent sind.
Hochbegabung/Intelligenz: eine Sache der Gene?
Seit Jahrzehnten gibt es einen Zweig der Intelligenzforschung, der sich mit der Anlage-Umwelt-Frage beschäftigt: Ist Intelligenz angeboren oder von der Umwelt des Kindes geprägt, also erziehungsabhängig? Die Antwort darauf ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch. Der heutiger Stand der Wissenschaft besagt: Die Intelligenz ist zu ca. 50 Prozent durch die genetische Ausstattung bestimmt und zu ca. 50 Prozent durch die Umgebungsbedingungen, etwa familiärer Umgangsstil, Schule, Freunde.
Dazu noch einmal das Landwirtschaftsbild zur Verdeutlichung: Hat der Bauer einen schlechten Ackerboden, bearbeitet ihn aber mit viel Bodenverbesserungsmitteln und Dünger, so wird er trotz schlechter Ausgangslage eine gute Ernte erhalten können. Hat der Bauer dagegen einen ausgezeichneten Boden, bearbeitet ihn aber nicht sorgsam, so wird er trotz guten Bodens im Laufe der Jahre nur eine schlechte Ernte einfahren. Genauso ist es mit den intellektuellen Fähigkeiten: Werden sie nicht gefördert und trainiert, verkümmert auch eine gute genetische Anlage. Auch Hirnzellen, die die Basis für den Grips darstellen, sind Körperzellen. Sie müssen wie Muskeln beansprucht, trainiert werden, sonst werden sie träge und schlaffen ab.
Aber der Bauer kann das Pflanzenwachstum auch durch zu viel Dünger erzwingen wollen. Entsprechend: Gerade für die frühe Kindheit darf nicht vergessen werden, dass Reifungsprozesse ihre Zeit brauchen, dass Förderung „um jeden Preis“ Schaden anrichten kann.