Читать книгу "Eugens Steppe" - Christian Behrens - Страница 3

Einstieg

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Kolja drückt mir seine Hand auf die Schulter. Ich mag diese gespielte Zärtlichkeit nicht, sie beunruhigt mich immer wieder aufs neue. Aber jetzt, hier in diesem zivilisierten Stehcafé, fühle ich durch diese Hand etwas Kräftiges, Familiäres, etwas von meinem Stamm, das mich sicher in der Höhle schlafen lässt, während draußen der Sturm tobt. Beinahe hätte ich meine Wange auf Koljas grobe Hand gelegt, doch ich kann mich mittlerweile beherrschen.

An dieser Stelle möchte ich, Eugen Schreiber, darauf hinweisen, dass man unsere Beziehung zu keinem Zeitpunkt hätte freundschaftlich nennen können. Im Gegenteil: Koljas oberflächliches Lächeln und seine brüderlichen Berührungen lassen keinen Zweifel daran, dass ich nur ein notwendiges Übel bin.

Wir geben uns die Hände. Meine Hand bemüht sich kräftig, seiner etwas Bemerkenswertes entgegen zu drücken. „Der Wagen steht bei den Taxis!“ Kolja macht eine auffordernde Kopfbewegung.

Am Taxistand erwartet uns schon ungeduldig einer von diesen 'Wartepfeifen', die das Abhängen zum Beruf kultivieren. Als er sich sicher ist, dass wir zu dem Wagen auf seinem Platz gehören, stellt er sich Kolja in den Weg und droht mit Anzeige, Polizei und überhaupt, wie Kolja dazu käme ... Ich setze mich gleich in den Wagen.

Obwohl ich Kolja noch nicht sehr lange kenne, habe ich sein Wesen gleich durchschaut: Oberflächlich betrachtet wirkt er ruhig, ja geradezu zurückhaltend, sein Handeln ist jedoch völlig unberechenbar. Kolja geht provozierend langsam um seinen Wagen und sucht die wütenden Augen des Kläffers vor der beigefarbenen Limousine. Abwartend baut er sich mit verschränkten Armen vor dem Taxifahrer auf, um ihm dann mit seiner Stirn einen wuchtigen Kopfstoß zu versetzen. Selbstsicher lächelnd umkreist er zufrieden sein Opfer. Ohne ein Anzeichen von Eile, fast schon gelangweilt, setzt er sich zu mir in den Wagen und startet den Motor. Bis wir auf die Hauptstraße einbiegen, sehe ich noch, wie sich der Taxifahrer, den blutenden Kopf haltend, auf das weiße Lammfell des Autositzes fallen lässt.


Da es bisher in solchen Situationen zu keinerlei Konsequenzen für uns kam, wich meine anfängliche Angst einem angenehmen Gefühl der Bequemlichkeit. In Koljas Nähe fühlte ich mich trügerisch sicher. Mir ist durchaus klar, dass seine Entgleisungen sich auch gegen mich richten könnten. Wir biegen auf die Hauptstraße ein.


Durch die verschmierten Autofenster überdenke ich, was sich bald abspielen wird. Es ist mir in seiner ganzen Auswirkung bewusst und äußert sich danach jedes Mal von Neuem in denselben Symptomen: Schlaflosigkeit, das erschreckende Spiegelbild am Morgen, mit der ungläubigen Miene, sich erkannt zu haben.

Das Wort 'abspielen' wähle ich übrigens aus dem Grunde, da es sich dabei um eine filmreife Szene handeln wird. Nur die Darsteller werden improvisieren. Wir haben gar kein richtiges Drehbuch, eher eine grob vorgegebene Rahmenhandlung, in der wir frei agieren können. Kolja ist dabei sehr wichtig, denn er hat als Regisseur und Hauptdarsteller das gewisse Einfühlungsvermögen, wann man eine Szene schneller machen muss, oder wann in einem Dialog eine Pause gesetzt wird. Jedenfalls hat er unter seinem fein rasierten Kinn eine bläuliche Tätowierung auf dem Hals, so eine primitive Erinnerung an den Knast. Kolja trägt immer noble Klamotten, aber diese Tätowierung mit ihrer dilettantischen Machart verstärkt nur den Eindruck seine Gefährlichkeit.

Was mich angeht, so bin ich von seiner Hemmungslosigkeit fasziniert. Nicht der kindliche Drang, ihm gefallen zu wollen, hält mich bei ihm, sondern die Faszination, dass Kolja in dieser Gesellschaft ein natürliches Phänomen darstellt, ein nicht erklärbares Naturschauspiel, dem die Zivilisation nichts weiter entgegenzusetzen hat, als ein hilflos staunendes Beobachten. Wie er diese hilflose Ohnmacht erzeugt und was sie in mir hinterlässt, ist der Grund für meine treue Gefolgschaft.


Der heutige Fall, wegen dessen wir uns getroffen haben, behandelt einen deutsch-russischen Tierarzt, der, aufgrund einer fehlenden Zulassungs- voraussetzung, seiner Arbeit hier nicht mehr nachgehen darf und aus Mangel an finanziellen Reserven beträchtliche Verbindlichkeiten bei Koljas Auftraggebern hat.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Einführung halten soll. Im ersten Moment hört es sich nach einer einfachen, moralisch unverfänglichen Situation an, mit der ich mich anfreunden könnte: klare Grenzen, in denen man das Wort sucht, ohne aufzugeben, wo alles kultiviert und harmonisch verläuft. Jedoch liegt die Unwägbarkeit in den Möglichkeiten, wie die Natur sich ihre Bahn brechen wird, ehe sie uns ihr wahres Gesicht zeigt.


Wir biegen in eine Hochhaussiedlung ein. Auf einer Hauswand steht 'QUADRATISCH, PRAKTISCH, WUT!!!!' gesprayt. Mehrere Typen stehen um ein Auto herum, dessen Türen offen sind. Der Homeboy im Wagen beschallt mit tiefen Bässen die Nachbarschaft, fuchtelt mit einem Butterfly herum; die anderen rauchen linkisch, rotzen nach jedem Wort vor sich auf den Boden.

Die Hausnummer neun zu finden, ist schwierig. Alle Lampenkästen mit den aufgeklebten Hausnummern sind runter gerissen worden.

Mein eigentliches Interesse gilt mehr dem gegenüberliegenden Waldstück. Die Häuserblocks grenzen direkt daran an, sodass der Eindruck entsteht, hier wird der Zivilisation Einhalt geboten und die Wildnis hier beginnt. Mich überfällt eine feuchtwarme Automüdigkeit und der Wald lockt meine Sinne. „Wir sind da!“ Koljas Stimme klingt erleichtert. Wir schälen uns aus unseren Sitzen, gehen zum Hauseingang. Eigentlich suche ich den Namen des 'Kunden' nicht wirklich.


Den glutenden Horizont vor Augen, umfängt mich die Dunkelheit hinterrücks. Mein Blick schweift wieder zum Wald. Bäume wiegen sich im Wind. Ich nehme noch einen Luftzug, bevor Kolja mich in den Eingang zieht. Wie warm hier die Winter sind! Die Tür drückt sich stotternd zwischen mich und meinen Wald.

Im Inneren des Hauses beängstigendes Gekreische und Stöhnen, dazu Musikfetzen, Licht an – aus, Hundegebell, kein Mensch da. Es riecht nach Pisse, Farbfratzen an den Wänden, ein Knall, Glas splittert, Gelächter. Wir stehen vor der Tür. Ein leichtes Schwindelgefühl, ich stütze mich an der Wand ab. Kolja bedeutet mir zu klingeln. Er bezieht Deckung an der Wand. Mir wird übel.

Die Tür wird geöffnet und zum Vorschein kommt ein feines, freundliches Gesicht. „Ja bitte?“ „Sind sie der Tierarzt?“, frage ich stockend. Es bejaht und nickt.

Kolja drückt mich zur Seite und tritt mit voller Kraft gegen die Tür. Augenblicklich platzen die Lippen des Arztes, sein Nasenbein bricht, da die Türkante direkt in sein Gesicht schlägt. Durch die Wucht wird er nach hinten geschleudert, wo er nach zwei Schritten die Balance verliert und auf die Mülltonne fällt. Kolja bringt sich in Stimmung. Seine pulsierenden Halsadern hauchen der Tätowierung jetzt Leben ein. „Pass auf, alter Mann, ich frage dich nur ein Mal: Wo ist das Geld?“ Koljas Stimme ist ruhig. Seine Professionalität beeindruckt mich immer wieder. Der Tierarzt röchelt irgendetwas; Blut läuft ihm in den Rachen.

Ein kleines Mädchen steht in der Tür und beobachtet mit versteinerter Miene die Szene. Die Tochter des Blutenden. Kolja steht mit einem Fuß auf dem Hals des Vaters und dreht sich dann zu mir um: „Kümmere dich darum!“

Jetzt trete ich über die Schwelle - in den inneren Kreis. Ungewollt und doch mit Absicht. Erliege dem unwiderstehlichen Duft, der aus dieser Wohnung strömt und mich aus den friedlichen Tiefen meines Waldes lockt, mich bis aufs Blut reizt, mich durch das Treppenhaus jagt und mich meiner Erlösung entgegen stürmen lässt. Meine Hände verschließen die Tür.

Der Vater hebt den blutenden Kopf und deutet mit der Hand auf seine Tochter. Ihre Hand liegt jetzt in meiner und wir sind in ihrem Zimmer.

Ein Raum, scheinbar luftleer, alle Gesetze außer Kraft. Tatsächlich existiert nur dieser Raum; schon der Rest der Wohnung ist nicht mehr real und verlässt uns. Die Schreie des Vaters, ihres Schreckens durch die Entfernung beraubt, verklingen weit hinter uns.

Sie setzt sich auf das Bett, starrt in den kleinen Fernseher. Ich sitze neben ihr, streiche ihr die stumpfen Haare nach hinten und spüre des Vaters Hilflosigkeit. Sein sinnloses Aufbäumen gegen mein sanftes Kosen ihrer Wangen. Sie beginnt zu schluchzen.


Nur wir zwei, auserwählt, in unserem Raum, losgelöst vom Menschsein. Wir verabschieden uns zu Horizonten, die uns wirkliche Freiheit versprechen. Ihre Schlafanzughose schiebe ich langsam nach unten. Geistesabwesend, den Fernseher nicht aus ihrem Blick verlierend, dreht sie sich leise wimmernd zur Seite, um die Hose besser abstreifen zu können. Elfenbein! Wie wahr dieses Wort ist! Meine Hand gleitet zwischen ihre Beine. Ihr Vater muss viel erleiden. Mein Schwanz regt sich auf und ich schließe ruhig die Augen.


Hiermit beschließe ich,

kraft der mir übertragenen Verantwortung für diesen Raum,

mein Recht wahrzunehmen, alle Gesetze aufzuheben.

Des Weiteren sind den Trieben und Instinkten eine

Generalamnestie zu gewähren. Um dies durchzusetzen, ist

Gewalt unbedingt anzuwenden und straffrei zu ahnden.

Da wir uns in einem Ausnahmezustand befinden,

ist das oben Genannte gerechtfertigt, um dem Chaos ein

Ende zu setzen.


Sie sitzt auf meinem Schoß. Das Streicheln ihrer Schenkel scheint sie zu beruhigen, ihr Wimmern hat aufgehört. Während ich meine Hose öffne, legt sie ihre kleinen Arme um meinen Hals.

So viel Liebe! So viel Glück, nur für uns zwei! Meine Augen schwanken, taumeln umher, doch bevor ich sie schließe, fallen sie auf ein Poster an der Wand. Ein kleines, weißes Lämmchen, das auf einer satten Frühlingswiese steht.

Ich betrachte es sehr lange, bis nach und nach seine Konturen verschwimmen und ich nur noch die Augen erkenne. Schwarze Augen, tiefe, schwarze Knopfaugen, die mich anstarren, fixieren, die mich durchbohren. Sie dringen ein in meinen Raum, in mein mühsam aufgebautes Reich und zerschmettern alles mit einem Schlag. Ich bin wie gelähmt. Kann mich nicht mehr abwenden. Da hebt es plötzlich den Kopf und spricht zu mir:


„Siehe, für mich war es nur ein Augenblick,

der dich im Innersten erschüttert hat und du

erkennst wohl, dass ich stärker bin, denn du

bist nur ein schwacher Herrscher, mit einem

kleinen Reich. Unser Kampf war kurz, deshalb

bin ich voller Gnade und überlasse dich nicht

der entfesselten Urgewalt, die jene zerschlägt,

welche sich vorher an ihrer Macht berauschten

und sich meiner Blicke widersetzten. So stelle

ich dich jetzt unter meinen schützenden Schild,

du stehst in meiner Schuld, ob du willst oder

nicht. Bedenke diese Worte wohl!“


Meine Hand streichelt das Mädchen wohl schon eine ganze Weile. Ihr Körper hängt müde an meiner Brust. Das Warten hat sie viel Kraft gekostet.

Durch die Dunkelheit des Zimmers sehe ich hinüber zu dem Fenster, starre auf die weit entfernten Lichtpunkte, die schwach im Nachthimmel flackern. Diese beängstigende Höhe raubt mir den Atem. Lautlosigkeit. Mein rauschender Blutstrom verlangt nach einer Zigarette. Das Mädchen setze ich neben mir auf das Bett. Ihre Augen wenden sich überrascht und fragend vom Fernseher ab. Im dunklen Zimmer, am geöffneten Fenster, sauge ich mit dem Rauch den milden Winterabend ein und vernehme entfernt, durch Luftmassen gefiltert, Irdisches. Stillstand, Ruhe, Nichts.


Die Tür fliegt auf, Kolja stürzt herein. Er sieht kurz auf uns und beginnt zu grinsen. „Ich kann dich nicht mitnehmen, muss noch einen Privatauftrag erledigen.“

Hoffentlich denkt er an meine Bezahlung. Es würde mich Überwindung kosten, ihn öfter darauf anzusprechen, aber ich brauche das Geld.


Im Wohnungsflur klebt überall Blut, die Kampfspuren an den Pressholzmöbeln weisen mir den Weg in die Küche. Hier liegt der Vater: Benommen, blutig, auf grauem Linoleum. Den Kopf an die Wand gelehnt, scheint er Kolja nichts entgegen gesetzt zu haben.

Langsam taste ich mich in die Küche hinein, bleibe dann stehen. Nicht das viele Blut lässt mich zögern, es sind seine Augen. In der Brechung das Versagen, die Unfähigkeit zu beschützen. Durch die physische Unterlegenheit, der Liebe die Berechtigung genommen zu haben. Man muss der Wahrheit ins Gesicht sehen: Reden ist Silber, schlagen ist Gold!

Das Mädchen sitzt noch immer verstört vor dem Fernseher im Kinderzimmer. Leise, kaum hörbar, flüstere ich ihr zu, dass ich den Notarzt gerufen habe. Wohl mehr zu meiner eigenen Beruhigung. Beim Verlassen der Wohnung erkenne ich mich wieder, streife alles ab, lass es hinter mir, entferne mich, schnell, schneller.


Das Licht ist aus! Dunkelheit! Lichtfetzen quellen aus den Türspalten, halten mich fest, am Abgang, befreie mich, nicht stehen bleiben, die Treppe und der Abstieg in die Welt beginnt! Hastig gerannt, halb gesprungen. Unten empfängt man mich mit Gebrüll. Zwei Hunde springen, mein Körper an der Wand, Wegrutschen, Schmerzen im Knie. Raus, fort von den Hunden, die Tür schlägt zu.

Unmöglichkeit des Stehenbleibens. Schnell, zwei Steinplatten auf einmal, planloser Rückzug aus der Siedlung am Rande der Stadt. Flucht in die Zivilisation. Das Gehen wird zum Rennen.


Im Wald beruhigt der tiefe, nasse Boden meinen ängstlichen Bewegungsdrang und ich bemerke, wie wieder das Denken von mir Besitz ergreift. Durch das Dickicht kann ich die Lichter einer großen Straße erkennen. Über bemooste Autoreifen und alte Plastikeimer arbeite ich mich dorthin vor. Auf dem festen Boden angekommen, gehe ich ein Stück die Straße entlang.

Der Fußgängerweg ist gesäumt mit Werbeplakaten, auf denen eine Krankenschwester zu sehen ist, die irgend so einen Schokoriegel zwischen ihre Brüste geklemmt hat. Ich bleibe kurz stehen.


Die U-Bahn fährt gerade davon. Warten. Lasse mich auf einem Plastiksitz nieder und betrachte den Boden. Der nächste Zug fährt ein. Ein milder Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. Es ist spät. Im Wagen nur ein junges Pärchen, vertieft ins Liebesspiel. Ich setze mich in die Reihe dahinter. Im Glas spiegeln sich die Beiden und ich kann sie gut erkennen. Der Typ ist groß und muskulös, macht sich über das Mädchen her, schlägt die Zunge immer tiefer in ihren Hals. Sie presst ihren Unterleib wie eine in die Enge getriebene Wespe an den Oberschenkel. Seine Hand sucht das Naheliegendste unter dem Pullover. Beim Öffnen ihrer Augen blickt sie über seine Schulter hinweg auf mich und beginnt, mich lüstern anzuglotzen, versucht ein Lächeln mit seiner Zunge im Hals, breitet langsam ihre Beine auseinander. Ich wende mich ab und gucke aus dem Fenster. An meinem Starren ziehen Lichter vorbei, reißen lange Wunden in die Dunkelheit. Ich sehe das kleine Mädchen auf dem Bett. Wartend starrt es in den Fernseher. Es wendet sich um. Es hilft beim Öffnen des Gürtels. Es zieht die Hose herunter. Es setzt sich auf den Schoß. Tiefes Stöhnen - leises Wimmern. Der Fernseher ist aus. Er war immer aus. Sie hat ihrem Vater wohl sehr oft beim ausziehen helfen müssen.


Morgen muss ich Kolja nach dem Geld fragen. Vielleicht hat er ja einen neuen Job für mich. Ich brauche die Kohle, ich brauche Kolja. Ich glaube, er war schon immer ein Teil von mir.



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