Читать книгу "Eugens Steppe" - Christian Behrens - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеSchnell ging das mit dem Treffen.
Der Sachbearbeiter hatte ihm noch den Hinweis gegeben, dass er, wenn er es ernst meine mit der Arbeit, sofort dort anrufen solle, schließlich finge ja nur der frühe Vogel den Wurm. Verabredet haben sie sich an dem einzigen Platz in der Stadt, den Eugen bereits kennt. Er hatte sich gut vorbereitet: frische Sachen angezogen, sich restlos gesäubert, rasiert, ein bisschen Deo. Der erste Eindruck sagt alles.
Eugen will ihn auf jeden Fall Chef nennen, obwohl er sich am Telefon sehr jung angehört hat. So ein dienstbeflissenes „Chef“ macht gleich deutlich, dass er es ernst meint mit dem Job und keine Probleme bereitet. Den Zettel mit der Telefonnummer schiebt er in seine Jackentasche und verlässt die Telefonkabine an der Rolltreppe zur U-Bahn. Im Eingangsbereich des Bahnhofs überlegt er, wie er die nächste halbe Stunde rumkriegen will, denn vor drei würde das nichts, hatte ihm der Chef am Telefon gesagt.
Sein Hunger schickt ihn auf die Suche.
Die Bahnhofsbäckerei beeindruckt durch ihr Äußeres und wirkt durch die kathedralenähnliche Schallkulisse der Vorhalle noch prachtvoller. Aufwendige Buntglasscheiben in geschliffenem Edelstahl eingefasst, daneben, durch unbehauenen Naturstein abgegrenzt, große Türflügel, mit Kupferblech beschlagen. Im Innenraum hängen antike, messingfarbene Lüster mit original Kristallglaseffekt. Alles sehr würdevoll.
Hinter der Theke mit den belegten Brötchen sitzt eine offensichtlich minderjährige Bedienung. Sie hat etwas von einer Madonna, jedenfalls ihre Haltung.
Auf einem Hocker sitzend, liest sie angestrengt in einem Frauenmagazin. Eugen setzt sich mit einem Kaffee an einen rustikal gehaltenen, schweren Holztisch.
Vernarbte Holzbohlen … Welch' rotes Farbenspiel, wenn sein Vater mit dampfendem Wasser das Blut abwusch. Regelmäßig zerlegten sie zu Hause Schweine auf der großen Arbeitsplatte im Schuppen hinter dem Stall. Sogar die kleinsten brauchbaren Bestandteile wurden geschnitten, gewurstet, gekocht. Alles feucht, warm und rot auf dem Tisch.
Eugen verweilt in diesem sinnlichen Gefühl und beobachtet die gereizten Kunden in der Warteschlange. Wenn er mit dem Messer in die weiße, abgebrühte Haut eindringt oder die Innereien auf dem Tisch reinigt, er würde hier gerne den Ekel in den Gesichtern der eiligen Esser sehen. Wie schockiert sie wären, diese Uhrenbetrachter, beim Anblick von all dem Blut, das Eugens bisheriges Leben begleitet hat. Eugen ist plötzlich ganz erschrocken über sein ungerechtes Urteil.
Während er sich innerlich bei den Passanten entschuldigt, geht ein Schwarzer von Tisch zu Tisch, um Teller und Besteck auf einen Rollwagen zu räumen. Wenn der Mensch sich über die Tiere erheben will, ist es besser, der Tisch bleibt sauber und man bezahlt ganz zivilisiert. Essensreste gibt er in einen extra dafür bereitgestellten Plastiksack. Ein Obdachloser schaut zu Eugen rüber, um dann mit einem Blick zu verfolgen, wie George (er trägt ein Namensschild an seiner Schürze) seine Arbeit verrichtet.
An einem Tisch mit zwei Frauen geschieht George, wie dieser glaubt, ein kleines Missgeschick, aber tatsächlich ist es sehr viel schwerwiegender: Die beiden Frauen unterhalten sich sehr angeregt, weshalb ihnen im ersten Moment entgeht, dass George einen großen Kuchenrest, der auf einem Teller etwas abseits am Rande des Tisches steht, in den Plastiksack wirft. Wahrscheinlich hat er schon öfter größere Stücke entsorgt. Die Blonde mit dem sandfarbenen Kaschmir-Pullover bemerkt es zuerst und weist ihre Freundin, die eine zum Haarreif hochgeschobene Sonnenbrille trägt, diskret flüsternd darauf hin, dass George ihren Kuchen weggeschmissen hat. Diese stellt ihn zur Rede, was sich als wenig hilfreich erweist, da er die deutsche Sprache nur sehr lückenhaft beherrscht. Er scheint jedoch zu ahnen, dass es sich um den Kuchenrest handeln muss. Eilig greift er in den Sack und stellt das Stück, auf einem neuen Teller darreichend, vor sie auf den Tisch. Das Ganze quittiert er mit einem Lächeln.
Mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und vermutlich nicht gespielter Gelassenheit dreht sich die Ältere fragend in die Runde, um sich des Publikums für ihren folgenden Monolog zu versichern und beginnt mit ihrem Auftritt. Sie fände es ja gut, dass die Kulturen zusammenwachsen, dass wir voneinander lernen können, jeder die Chance bekommt, die er verdient (und hier hebt sie leicht den Zeigefinger), wie man es ja in den Castingshows immer wieder erleben könne. Doch der Erfolg kommt nur, wenn man bereit ist zu lernen, sich zu öffnen für neues Wissen. George müsse noch viel lernen (jetzt schaut sie ihn liebevoll an und wendet sich dann wieder dem Publikum zu), angefangen bei der Sprache, den Hygienevorschriften und außerdem würde es auch nicht schaden, die Benimmkultur des Gastgeberlandes zu studieren. Aber das würde schon was mit ihm, dem George, dafür hätte sie ein Näschen.
Keiner klatscht.
Verunsichert, weil er fast nichts verstanden hat, dreht sich George zur Filialleiterin um. Die kommt auch schon von der Kasse herbeigeeilt. Die kurzen blonden Haare geben ihrem aufgedunsenen Gesicht keine Chance und die Vermutung liegt nahe, dass sie selbst ihre beste Kundin ist. Sie spielt mit der Rechten am Schlüsselband und streichelt mit der Linken immer wieder den Button, der über ihrem wogenden Busen prangt und sie als 'Storemanager' ausweist.
So, wie sie es in unzähligen Seminaren gelernt hat, nimmt sie gleich eine devote Haltung vor den beiden ein und entschuldigt sich mehrmals, ganz bemüht, die Ehre der Filiale zu retten. Dann bietet sie eine Wiedergutmachung an und gesteht, dass der 'Foodassistant' erst seit Kurzem hier arbeite, deshalb müsse man ein bisschen Geduld mit ihm haben.
Anschließend wendet sie sich an George und weist ihn mütterlich darauf hin, dass er demnächst zuerst fragen muss, bevor er abräumen kann. Er nickt hastig und schiebt, beobachtet von allen Anwesenden, seinen Wagen zum nächsten Tisch.
Die Madonna hinter der Theke, widmet sich wieder ihrer Zeitung.
Im Weggehen hört Eugen die Filialleiterin noch sagen, dass sie sich schon ein wenig verantwortlich fühle für den armen Kerl, denn immerhin würde er ja arbeiten und stehe auf der guten Seite, nicht wie die Anderen, die nur herumlungern und Drogen verkaufen. Sie weist dabei mit ihrem Arm, bedeutungsschwanger wie eine Walküre, auf die andere Seite des Bahnhofs.
Wie gut, dass er hier auf der richtigen Seite steht, denkt Eugen. Und auch das mit der Arbeit hat er verstanden.
Wie spät ist es? Fünf vor drei! Er rennt aus der Bäckerei zum Parkplatz. Während er mit einem nadelnden Gefühl im Brustkorb rennt, fällt ihm ein, dass sie gar nicht besprochen haben, wie sie sich erkennen wollen. Am Telefon ging alles so schnell. Resigniert stellt Eugen fest, dass es immer dasselbe ist mit seinen Terminen und Abmachungen: darauf bedacht, nicht unangenehm aufzufallen, vermeidet er es, Fragen zu stellen oder ist so fasziniert von seinem Gegenüber, dass er den Überblick verliert.
Er kommt nicht drum herum sich auf den Bahnhofsparkplatz zu begeben, um einen chefähnlichen Mann zu suchen und selber wie ein Arbeitssuchender auszusehen. Er meint sich an 'neuer Parkplatz' zu erinnern, aber da stehen nur parkende PKW' s. Mit beiden Füßen auf dem neuen Bordstein wartet er und lässt die Fahrzeuge an sich vorbeiziehen. Dabei blickt er fragend in jedes hinein und nötigt den jeweiligen Fahrer zum flüchtigen Tritt auf das Gaspedal.
Ein großer, roter Kastenwagen fährt langsam auf den Parkplatz. Schon ein neueres Modell, das kann er an der Form des Kühlergrills erkennen. Das müsste der Chef sein. Ja, ja genau: großer, roter Kasten! Er geht dem Fahrzeug entgegen, stockender Verkehr, kurzes Hupen. Der Chef hinter der Scheibe winkt Eugen zu sich und öffnet, indem er sich weit zur Beifahrerseite hinüber streckt, die Sicherung des Türschlosses. Eugen eilt auf die offene Türseite zu.
„Bist du der vom Arbeitsamt? Haben wir telefoniert?“
Eugen nickt.
„Na, dann spring mal rein! Bevor die mich hier noch aus dem Wagen zerren oder abschleppen.“
Der Tonfall klingt etwas genervt, doch die Stimme seines Chefs ist so wie am Telefon. Er ist nur jünger als erwartet, vielleicht so um die dreißig. Dieser Eindruck entsteht wohl durch das volle schwarze Haar. Volles Haar macht Männer jünger und so unberechenbar, wie kleine Jungs, die immer irgendetwas aushecken und nicht erwachsen werden wollen.
Dazu ein blauer Overall, der wie ein riesiger Strampelanzug aussieht. Eugen fühlt sich gut. Er hat einen Spielkameraden gefunden und springt in den Wagen.
Im Inneren des Fahrzeugs bemerkt Eugen sofort einen starken Geruch. Kein Gestank, wie jene diesen Geruch nennen würden, die immer zuerst alles einordnen kategorisieren und Wertigkeiten festlegen, statt sich einfach dem Ungewohnten hinzugeben. Eben jenen, denen der Moment verwehrt sein wird, den eigenen, verschütteten Eindrücken nachzuspüren oder sich dieser Eindrücke zu erinnern: Momente in denen sie sich einfach nur unendlich glücklich fühlten oder zutiefst verängstigt waren. Wie diejenigen, die sich solcher Eindrücke entziehen; die nicht bereit sind, den Sinnen zu folgen und ihnen einen festen Platz in ihrem Inneren zu geben, aus dem heraus sie jeder Zeit ihre natürliche Offenbarung empfangen könnten.
Fett und breit liegt der Geruch von verbranntem Horn über den Geräten und Regalen des Wageninneren, verbrüdert mit kaltem Rauch und Eisenstaub. Eugen schmeckt den Kohlenruß, dessen sich seine Schleimhäute betäubt erinnern. Diese Gerüche kennt er – aber wie kommen sie hierher! Kurz schließt er die Augen, weil seine Nase es verlangt. Er riecht auch Kleber oder Chemisches, was scharf in die Nase geht und da ist auch noch ...
Sein Chef ist damit beschäftigt, den großen roten Kasten aus dem engen und aggressiven Innenstadtverkehr heraus zu manövrieren. „Was hat'n der Typ vom Arbeitsamt gesagt, was ich suche?“ Sie hätten ihm da nur gesagt, es habe mit Pferden zu tun und mit denen kennt er sich ein wenig aus.
„Das ist im Prinzip schon richtig, es hat mit Pferden zu tun, ob du dich mit denen auskennst, wird sich aber noch zeigen.“ Ein eher prüfendes Cheflächeln trifft Eugen, ein Lächeln, das wahrscheinlich schon viele Mitfahrer gesehen haben.
„Ich bin Hufbeschlagschmied und brauche unbedingt 'nen Aufhalter, so 'ne Art Mithelfer.“ Auf Eugens ratlos wirkendes Gesicht hin, was nichts damit zu tun hat, dass er den Beruf nicht kennt, sondern dessen aufwendige Bezeichnung nicht ganz versteht, formuliert er es anders: „Ich zieh' den Pferden die Schuhe an! Alles klar?“ Dabei macht der Chef eine hämmernde Bewegung mit der Hand.
„Ich schaff ' das nicht mehr alleine, mit so vielen Kunden. Das wird jetzt echt zu heftig.“ Beim Sprechen lehnt er sich selbstgefällig zurück und stemmt seinen Fuß breitbeinig gegen die Mittelkonsole. „Ich bin zwar nur 'ne 'One Man Show', aber im Moment brummt der Laden. Wenn ich jetzt nicht langsam 'ne Entlastung bekomme, kann ich mich in 'nem Jahr begraben lassen. Das ist der totale Knochenjob, absolut hardcore, wirst 'de ja vielleicht noch merken, aber ich lass' mir keinen Bock durch die Lappen gehen! Bringt 'ne Menge Kohle! - Und deine Erfahrungen mit Pferden?“
Verlegen wendet Eugen sein Gesicht zu Boden und erklärt kleinlaut, selber Pferde beschlagen zu haben, weil es dort, wo er herkommt, niemanden gibt, der es hätte machen können.
„Das ist ja spitzenmäßig! Da hab' ich ja wohl den absoluten Volltreffer gelandet!“ Die Miene des Chefs wird das erste Mal richtig freundlich. „Dann brauch' ich dir nich' lange erklären, was Sache is'. Spart 'ne Menge Zeit und Angst hast du dann auch keine vor den Böcken. Ich kann dir sagen, da erlebt man manchmal echt geile Storys mit den Leuten.“
Eugens Vermutungen gehen in die Richtung, dass die Sache jetzt gut für ihn läuft, weshalb er sich etwas entspannt und mit dem Rücken an den Sitz lehnt.
„Dein Akzent, sag' ma', is' irgendwie polnisch oder so, oder wo kommst du her?“ Die lässige Sitzposition verlassend, gibt er leicht stotternd an, er sei aus Kasachstan, aber eigentlich Deutscher mit sowjetischer Geburtsurkunde. „Na bestens, Alter! N'en Kollege von mir hat auch n'en Russen, seitdem gibt’s kein Stress mehr mit den Böcken, so'n richtiger kleiner Pferdeversteher, der hat sie alle im Griff. Vielleicht bist du ja auch n'en Pferdeflüsterer? Könnte ich gut gebrauchen, hab' so'n paar richtige Mistviecher in der Kundschaft. Dann weißt du schon mal, was auf dich zu kommt.“
Sie verlassen den hektischen Innenstadtring in Richtung Norden. Fahren vorbei an kleineren Geschäften mit neonfarbenen Ausverkaufaufklebern, angegrauten fünfziger Jahre-Fassaden und Dönerbuden, die den Sprung in die City nicht geschafft haben.
Über seine genaue Tätigkeit würde Eugen gern mehr erfahren, aber er will seinen Chef jetzt nicht mit einer vorlauten Frage unterbrechen, sondern geduldig seinen Ausführungen folgen, denn er hat ja noch viel zu lernen.
„Als ich mit dem Job angefangen habe, musste ich auf vermatschten Wiesen Ponys auschneiden, die von den Besitzern nur als lebende Rasenmäher benutzt werden, oder Gnadenbrotpferde, die nur einmal im Jahr 'nen Schmied sehen. Kannst'e dir ja vielleicht vorstellen, was da an Horn dran war. Hab' da manchmal fast 'ne Stunde gebraucht und Theater haben die natürlich auch gemacht. Oder die Jährlinge und Dreijährigen ... Darf gar nicht dran denken, wie oft ich durch die Gegend geflogen bin. Musste eben nehmen, was kam. Egal, jetzt hab' ich mich durchgebissen, kann mir die Böcke aussuchen. Mach' hauptsächlich Beschlag, da kommt die Kohle rein. Da pick' ich mir schön die Sportpferde raus, die stehen ruhig, gute Arbeitsbedingungen. Trocken und so, weißt du. Und die Besitzer lassen mich in Ruhe. Quatschen mich nicht zu mit Fragen, wie diese ganzen Wald- und Wiesen- Reiter, die jedes Mal mit 'nem neuen Kram ankommen, den sie in irgendeiner Pferdezeitung gelesen haben. Diese ganzen Pferdeleute mit ihrer sentimentalen 'Hanni&Nanni auf dem Immenhof'- Mentalität! Da krieg' ich die totale Krise!“
Seinen Chef betrachtend, weiß er nicht genau, was gemeint ist, aber Eugen kennt diese Art Arbeit. Und wenn er sich richtig anstrengt, die Sache gut macht, wird er das Andere auch noch verstehen.
„Jedenfalls beschlage ich jetzt nur noch in den großen Reitanlagen. Ganz andere Liga, sag' ich dir! Alles sauber, trocken, ruhig. Die Böcke alle rundum beschlagen, das bringt die Kohle. Das ist für mich zivilisiertes Arbeiten. Gut, die Besitzerinnen sind schon manchmal ganz schön arrogante Zicken. Aber die musst du nur zu nehmen wissen, dann hat man seine Ruhe.“
Ganz sicher ist er bei seinem Chef an der richtigen Adresse. Der weiß, wo es lang geht! Schon alleine der große, neue Wagen und wie er sich mit Pferden und Frauen auskennt, dass wird ihm den Einstieg in das Leben hier bestimmt leicht machen. Selbstverständlich benutzt Eugen jetzt seine Rückenlehne.
Die Ausfallstraße wird einspurig und der Verkehr beginnt zu stocken. Auf dem gegenüberliegenden Brachland einer stillgelegten Zeche wird eine Brückenauffahrt angeschüttet. Im Minutentakt kneten riesige Sattelschlepper den verdreckten und überforderten Asphalt durch, wenn sie die mit Muttererde beladenen Auflieger langsam durch die Einfahrt wuchten. Manchmal verlieren die LKW's größere Erdschollen. Unterdessen versucht ein professioneller Feierabendfahrer, hinter einem LKW klebend, der langen Wartephase einer Straßenbauampel zu entkommen. Indem er rechts ausschert, um in die nächste Seitenstraße einbiegen zu können, und versucht zu überholen, zieht er den Zorn seiner Leidensgenossen auf sich.
Der Chef muss auch nur in die nächste Querstraße, in eine alte Zechensiedlung; er wartet jedoch ganz geduldig.
„Also, normalerweise wäre ich jetzt schon zu Hause, aber um dir schon mal so'n Eindruck zu geben, wie das so läuft, fahren wir noch zu 'ner Frau mit 'nem Pony. Eigentlich wollte ich die als Kundin abschießen, aber liegt auf meinem Heimweg. Na, egal.“ Dabei trommelt er mit den Fingern auf das Lenkrad.
Nach dem Passieren der Ampel biegen sie rechts ab und fahren weit in die Straße hinein. Gegenüber einer mit Maschendraht eingezäunten SB-Waschanlage halten sie vor einem kleinen, grauen Zechenhaus und steigen aus.
Sie gehen über Waschbetonplatten, die in Rautenform auf fein geharkter Granulatasche liegen. Der Windfang des seitlichen Hauseingangs besteht aus wetterfesten Holzpaneelen mit einem für Eugen auf Anhieb erkennbaren Farbstil. In Verbindung mit den draußen stehenden Filzstiefeln wächst in Eugen eine Ahnung, die ihn trotz der unbekannten Umgebung, freudig auf etwas Bekanntes hoffen lässt.
Der Chef klingelt. „Ich kann nur hoffen, dass die da ist, sonst hat sich das hier endgültig erledigt.“ Er schaut auf die Uhr.
Eine kleine, alte Frau unter einem bunten Kopftuch öffnet strahlend die Tür. Sie hat schon eine billige Plastikjacke an und scheint hinter der Tür gewartet zu haben.
„Freue mich, sie zu sehen!“ Sie drückt dem Chef freudig die Hand und legt mütterlich die andere darauf. Eugen bekommt nicht minder liebevoll die Hände gedrückt.
„Wir müssen noch das Werkzeug holen.“
Mit einem gequälten Lächeln wendet sich der Chef an Eugen: „Komm' mit, ich zeig' dir, wo alles steht.“
Die alte Frau steigt in die Filzstiefel und wartet. Am Wagen kramt der Chef Werkzeugkiste, Lederschürze und den Hufbock heraus. Ungeduldig hält er Eugen die Kiste hin, der nimmt diese ehrerbietig entgegen. Sie gehen den Plattenweg zurück und hinter der Frau her; vorbei an selbst geschnittenen Figuren aus Autoreifen, Holzwindmühlen und einer sie bewachenden, gutmütig lächelnden Zwergenarmee. Der Garten zieht sich wie ein Schlauch in Hausbreite um die achtzig Meter nach hinten, begrenzt von Nachbargärten, die nach allen Regeln der Kunst beackert, gedüngt und kultiviert worden sind.
Der Garten der Frau hingegen besteht nur aus einer buckligen Wiesenfläche, die mit morschen und angefressenen Holzschleiten eingezäunt ist. Aus einem Holzverschlag, der sich an die Hausmauer duckt, zieht sie an einem langen Strick ein weißes Schimmelpony heraus. Sie stellt das Pony auf die Betonplatte vor dem Kellerabgang und bindet es an am Treppengeländer an.
„Hab' ich den kleinen Frechdachs drin gelassen heut' Nacht, ist er nicht so dreckig. Sie mögen das nicht, ich weiß.“ Die Frau lächelt den Chef an. Es ist ein alter Ponywallach mit starkem Fesselbehang und üppigem Mähnenwuchs. Obwohl die Wiese sehr nass ist, strahlt das Pony prächtig weiß, sogar das Schweifhaar ist sauber verlesen.
Seinen Kopf legt es in den angewinkelten Arm der Frau und beginnt, mit seinen Lippen zwischen Armbeuge und Körper die Jackentasche zu durchwühlen. Nach einigen unbefriedigenden Versuchen stupst er ärgerlich mit seiner Nase gegen ihren Oberkörper und beginnt, seinen weißen Schädel an ihr zu reiben. Im Widerstand inszeniert das weiße Pony einen kleinen Kampf.
„Seit mein Mann nicht mehr da ist, der kleine macht, was er will!“
Sie kneift ihn kräftig in seine ausgeblichene, fleischfarbene Oberlippe und das Pony beginnt sofort, mit hin und her schlagendem Kopf spielerisch nach ihr zu schnappen.
Eugen sieht hier das erste Mal ein Pferd! Ausgerechnet hier, zwischen Zechenhäusern und Autowaschanlagen. Er könnte die Frau umarmen.
Nicht nur der einsetzende Nieselregen, auch das Fehlen der Lederschürze führen zu einem ersten, launischen Rundumschlag des Chefs und machen ihn zunehmend ungeduldiger. Das Wetter, die Uhrzeit und überhaupt hätte auch Eugen an die Schürze denken können, er sei ja schließlich auch vom Fach. Der Chef schickt ihn zurück zum Wagen. Eugen wird klar, dass er der einzige Mithelfer ist und somit auch die alleinige Fehlerquelle sein wird. Das macht ihm nicht soviel aus, wie man vermuten könnte. Als Mensch, der aus Furcht vor seinen Untiefen lieber stoisch alles über sich ergehen lässt und sich selber abschaltend eher der paradiesischen Einsamkeit zuspricht. Hierzu trägt wohl sein bisher karges Leben bei, das er erduldend und für alle sichtbar hinter sich herschleift, so wie jetzt auf dem Weg zum Wagen.
Sachlich, mit der Tendenz zum Unfreundlichen, zieht der Chef Eugen neben sich, um ihm zu erklären, welche Arbeitsabläufe er zu behalten habe.
„So, pass' auf. Gibt verschiedene Wege wie man ein Pferd ausschneiden kann, hier arbeiten wir nach meinem, klar? Also: beurteilen der Gliedmaßen und Hufstellung und so, das mach' ich. Guck' dir einfach erst mal an, wie ich arbeite. Zuerst nehme ich den Vorderhuf hoch, klemm' ihn zwischen meine Beine.“
Ruckartiges Ziehen am Vorderbein, das Pony stemmt sich dagegen, der Chef zieht am Behang. Schaukelndes Aufnehmen der Vordergliedmaße. Zwei klopfen beruhigend das weiche Fell unter der Mähne, einer macht seine Arbeit.
„Zuerst mache ich einen Probe ...“ - das Pony legt sich mit seinem ganzen Gewicht auf das angehobene Bein, der Chef schreit, drückt es zurück - „ ... einen Probeschnitt, um zu sehen wie lang das Horn ist, dann ...“ - Eugen streichelt dem kleinen Schimmel über sein langes, gewelltes Mähnenhaar. Weißes Haar, wie gefrorene Gischt - „ ... Kürzen des Horns mit der Hauklinge…“ – der Kleine versucht zu steigen. Der Chef hält dagegen - „ ... und nie vorzeitig loslassen! Die merken sich das und machen dann nur noch so'n Scheiß …“ - unter der Gischt bewegtes Muskelspiel - „Gib' mir die Schneidzange, dann ist er ruhiger …“ - der Chef schwitzt jetzt schon beim ersten Huf - „Die Raspel plant den Tragrand und bricht die Kanten.“
Die alte Frau beruhigt das Pony - auf Russisch. Russisch! Seine Ahnung! Er will sie fragen, wenn sie fertig sind; sie fragen, wo sie herkommt, was sie weiß, wen sie kennt. Wind setzt ein. Der Kleine dreht und wendet sich hüpfend auf der Betonplatte.
„Stemm dich dagegen, mein Gott, das sieht man doch!“ Seiner nicht mehr kontrollierenden Wut folgend, rammt der Chef den Feilengriff in die Flanke des Ponys. Gegen ihn stemmen? Eugen möchte ihm nachgeben, mit dem weißen Pony davonjagen, sich an der Bewegungsexplosion berauschen, die spürbar die Flucht zur Befreiung ergreift.
Wie die Hinterhand jegliches Gewicht wegwirft! Beim Auskeilen alles hinter sich lässt und zum Teufel jagt. Davongaloppieren soll er! Russisch hier!
„Jetzt noch Strahl und Sohle sauber schneiden, dann vorne auf den Bock zum Raspeln der Hornwand. Das ist dein Job, da musst du das Bein festhalten!“
Bei den Hinterbeinen zeigt der Chef, wie Eugen sie aufnehmen und festhalten soll.
„Bleib' mit der einen Hand an der Kruppe, mit der anderen fährst du am Bein runter und dann ziehst du kurz. Wenn der Bock sein Bein hebt, nimmst du es hoch und legst es auf deinen Oberschenkel. Schweifhaar um die Fessel, fertig. Hinten stehen sie immer ruhiger, wenn du ihnen von der Höhe entgegenkommst.“
Eugen geht tief runter und merkt, wie sich der kleine Schimmel merklich entspannt. Ruhig steht Eugen mit dem Huf auf seinem Oberschenkel da. Die eine Hand hält den Schweif, die andere krault gedankenverloren den Rücken des Ponys. Keiner sagt etwas, denn alle Beteiligten sind der Meinung, dass Eugen der Richtige für diese Arbeit ist.
„Kommen sie doch rein bitte! Ich habe Ölgebäck und Tee.“ Sie lädt die fleißigen Handwerker ins Haus ein entlässt den Kleinen auf die Wiese. Er tippelt los und schlägt dabei mit seinem Kopf, als wolle er alles Erlebte ab schütteln.
Bemüht freundlich blickt der Chef auf die Uhr. „Ne, ist noch kein Feierabend. Hab' noch 'nen Termin. Aber danke für die Einladung. Vielleicht nächstes Mal.“ Verschwitzt und im Regen stehend wendet er sich an Eugen, deutet mit der Hand auf das Werkzeug. „Hier, alles einräumen, ab in den Wagen und dann fegen.“ Er nimmt das Geld, bedankt sich kurz und verschwindet dann hinter dem Steuer des Kastenwagens.
Aufgrund seiner Duldsamkeit ist Eugen nicht leicht zu enttäuschen. Doch diese Situation, entstanden durch die Vehemenz der auf ihn einstürzenden neuen Eindrücke und durch die Aussicht auf ein einsames, verregnetes Wochenende führt bei Eugen zu einer tiefen Schwermut, die darin mündet, dass er der Alten auf Russisch alles Gute wünscht.
Die Alte steht auf der Schwelle ihres Zechenhauses, in der Zechensiedlung, in der Zechenstadt.
„Das war das letzte Mal mit dem Schimmelvieh. Kaum was verdient, Buckel nass regnen lassen und dann noch Kaffeekränzchen mit Bildergucken. Ne, ne, meine Freizeit plane ich selber. Aber mit dir, das klappt ganz gut. Wie heißt du noch mal?“