Читать книгу "Eugens Steppe" - Christian Behrens - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеSeht ihn euch an! Ein Kerl wie ein Baum. Hoch gewachsen in vollem Saft. Der blonde Scheitel fällt ihm immer wieder über das blauäugige Gesicht. Seine trockenen Muskeln, bespannt mit feiner, ehrlicher Haut. Wie er sich bewegt! Die Natur ist edel und gut, aber davon weiß er nichts. Ein Sohn, ein Bruder, ein Freund, wie man ihn trefflicher wohl nirgends findet. Seht ihn euch nur genau an!
Eugens Entscheidungsfähigkeit hat durch die bunten Warenangebote stark gelitten. Es verwundert nicht, wenn er deshalb in der Mitte geht und sich den Schaufenstern beiderseits der Fußgängerzone aus sicherer Entfernung widmet. Es regnet einen warmen Winterregen, den er nicht wirklich bemerkt. Und so drängelt er sich nicht wie all die anderen an den Shops und Geschäften entlang, um der Natur aus dem Wege zu gehen.
Hier und da bleibt Eugen stehen und betrachtet von Weitem die Auslagen. Diese Fülle an nützlichen Dingen. Und wie schön sie sich anschauen lassen!
Er ist angekommen, in seiner neuen Welt, in der es alles für den Menschen gibt.
Sie schenkt ihm das gute Gefühl, die Wahl zu haben. Auswählen zu können, so willkürlich, wie ein Fürst es in seiner launischen Art tun würde. Des Ganzen kann er habhaft werden, zunächst natürlich nur mit dem Auge. Aber wenn er sich ranhält, fleißig arbeitet, ist alles möglich für einen kräftigen jungen Mann, sofern er den festen Willen hat, hart zu arbeiten, sich nicht schont und ein waches Auge hat für das Neue, denn man würde ja nie auslernen.
So hatte es ihm sein Vater eingebläut, der soviel von den urdeutschen Tugenden zu diktieren wusste, in den Weiten Zentralasiens...
Er stoppt vor einer der Fensterfronten. Mindestens zwanzig verschiedene Fernsehgeräte stehen dort zu einer Wand formiert, um die Bildqualität besser vergleichen zu können. Sie sind alle auf denselben Kanal eingestellt. Ein bärtiger Mann mit Turban und abgewetzten Sandalen feuert eine Panzerabwehrrakete auf ein Dorf. Dann sieht man das Dorf, wie gerade Schutt beseitigt wird. Neben geschichteten Steinhaufen und Kanistern liegen zwei Esel, von denen der eine wohl schon tot ist, der andere hängt noch vor seinem Karren. Eugen betrachtet die verschiedenen Bildschirme. Es laufen gerade Morgennachrichten.
Man muss schon zugeben, dass die Preise tatsächlich schnäppchenverdächtig sind. Die Entdeckung lässt vermuten, dass nicht nur hier, wo er sinnverloren im Regen steht, alles zu haben ist, sondern überall - und das auch noch richtig billig.
Das rot erleuchtete A auf schneeweißem Hintergrund hebt sich deutlich vom grauen Morgenhimmel ab. Bedrohlich sieht es aus. Mit seinen verregneten Augen meint Eugen, eine blutende Wunde zu erkennen. Er ist am Ziel seines morgendlichen Spazierganges.
In seinem tugendhaften Glauben, dass nicht die Arbeit zu ihm, sondern er zur Arbeit kommen müsse, sitzt er im sterilen Wartezimmer der Agentur für Arbeit mit anderen Gutgläubigen zusammen; alle in der Hoffnung, einen LKW mit Schweinehälften entladen zu dürfen oder Torfsäcke in einer Gärtnerei zu stapeln.
Neben ihm sitzt ein älterer Mann, in Anbetracht der Arbeitssituation aller Anwesenden ungefähr um die Fünfzig, der fast unmerklich hin und her wippt. Um es als Zittern zu bezeichnen, ist die Bewegung zu harmonisch. Überall sprießen graue Stoppeln aus seinem faltigen Gesicht, unter der Nase sind alle Haare nikotingelb. Auf seinen klebrigen Haaren liegt eine verschwitzte rot-weiße Baseballkappe mit der Aufschrift 'WIR SIND WIEDER MEISTER'. Die Augen starren auf den Tisch mit den abgegriffenen Autozeitschriften der letzten Monate. Nach einem kurzen Blick zu Eugen, stimmt der Mann mit näselndem Oberton einen monotonen Singsang an, ein altes Klagelied der Familie. Dass die ihm sein Auto weggenommen haben, weil er die Raten nicht mehr zahlen konnte, das sei noch kein Problem gewesen. Aber er hätte auch seinen Job verloren und seine Frau würde ja nur halbtags Wäsche mangeln. Als sich deutlich abzeichnete, dass er keine feste Arbeit mehr finden würde, und seine Frau, dem Alltag selbstbewusst die Stirn bietend, ihn immer ohrenbetäubender fragte, wie es denn nun weiter ginge, hatte er eines Abends die Erleuchtung: Wichtig ist nicht die gemeisterte Zukunft, sondern die Wiederherstellung der Ruhe in der Gegenwart! Er habe bei seiner Frau für diese neue Erkenntnis geworben, massiv und schlagkräftig, bis zu ihrer Bewusstlosigkeit. Melancholisch fährt er fort, sie habe ihn dann zur Strafe nicht mehr rangelassen, aber das könne er gut verstehen, er sei ja auch der totale Versager. Der Mann verschränkt seine Arme hinter dem Kopf und gähnt. Plötzlich wuchtet er seinen kraftlosen Körper mit rudernden Armen nach vorne und steht auf. Müde lächelnd betrachtet er Eugen, blickt zu ihm herab und sagt, dass er vielleicht hätte mit ihr reden sollen, bevor sie abgehauen ist. Aber er glaube, Männer reden nicht soviel über Probleme, sie lösen sie einfach.
Als der Mann gegangen war, empfindet Eugen ein leichtes Unbehagen, als ob auch er jetzt aufstehen und dem Mann folgen müsse. Doch der ist kaum noch zu sehen, entfernt sich immer mehr. Der ungelüftete, feuchtwarme Raum mit den ruhig Hustenden schläfert ihn ein, lässt ihn kraftlos in seine Jacke sinken. Er ist außerstande, auch nur eine Bewegung zu tun, unfähig, dieser Lähmung zu entkommen.
Dabei bildet dieser Zustand die notwendige Vorstufe, um sich ganz dem Hinabgleiten hinzugeben, dem Abrutschen vom Trichterrand der Realität in den unentrinnbaren Sog der Erinnerung, die jetzt plötzlich stark an ihm zerrt. Er löst seine Finger, lässt alles los. Offenen Auges sieht er, wie sich sein Ich sanft davontragen lässt. Es ist kein Träumen, es ist ein Starren!
Ich erkenne meinen Bruder nicht wieder: angespannt, entschlossen, die Nase prüfend in die Luft haltend. Den Karabiner entsichernd, dreht er sich zu mir, mit dem Zeigefinger vor dem grinsenden Mund. Er glaubt, sie sind hier. Sicher wäre ich mir da nicht, aber wann bin ich mir schon sicher.
Auf dem Pferd vor Minuten noch gegen den schneidenden Wind gedöst, hat er jetzt ihre Witterung aufgeschnappt und ist wie elektrisiert. Mir ist nur kalt! Langsam rutscht er aus dem Sattel. Bein um Bein abwechselnd in der Schwebephase, arbeitet er sich geräuschlos durch den Schnee. Die letzten Meter bis zum Hügelkamm robbt er langsam hinauf. Hektisches Winken. Sie sind da! Ich binde die Zügel der Pferde zusammen, stapfe ihm nach. Auf dem Weg nach oben lade ich mein Gewehr durch. Der Pelzmantel ist zu groß, zu schwer, nicht meine Haut. Ich bin müde. Er hat seine Handschuhe ausgezogen, den Karabiner im Anschlag reißt mich seine Linke zu Boden.
Tatsächlich! Zwei ausgemergelte Wölfe, jämmerlich anzusehen. Sie sind es, die sich feige in unser Dorf geschlichen und eine Ziege gerissen haben. Ich rede es mir jedenfalls ein. Sie liegen unter einem Felsvorsprung, dicht zusammengekauert, geschwächt. Dieser Winter ist unbarmherzig wie die ganze Natur.
Mein Bruder zeigt auf mich und dann auf den ersten Wolf. Mein Ziel! Glaubt er. Seines hatte er schon, als wir losgeritten sind, als er uns in diese lautlose Ödnis trieb, in dieses weiße horizontale Nichts, aus dem verknöcherte Steppengrashalme ragen, wie die letzten unbeugsamen Krieger des Sommers, treu unseren Weg umsäumend, bis hierhin, zum Ziel der Jagd. Für ihn Bestimmung und für mich Schicksal.
Ich blicke zurück, die Pferde haben sich mit ihrem Hinterteil gegen den Wind gestellt. Mein Bruder schmiegt sich zielend in den Schnee. Unschuldiger, weißer Schnee weich und kalt. Mein Gewehr liegt neben mir, noch habe ich mein Ziel nicht erfasst.
Ein Schuss! Kurzes Jaulen, ein Aufbäumen. Der hintere Wolf ist gefallen.
Mein Wolf ist nicht aufgeschreckt, hat keine Angst mehr, setzt sich schwankend, blickt in meine Richtung, stumpf, müde. Die Ungeduld des Bruders drängt. Entspannung, ich weiß, er läuft nicht mehr davon. Das Gewehr liegt noch neben mir. Ein Schuss! Kurzes Sacken, kein Aufbäumen. Mein Wolf ist erlöst.
So ein Bruder fackelt nicht lange, packt das Glück beim Schopfe. Schießen hätte ich sollen, ich sei ein erbärmlicher Jäger, wie ich nur eine Familie ernähren und beschützen wolle. Wenn der Wolf hier an meiner Stelle gewesen wäre, hätte der sich über soviel Dummheit gefreut und uns zerfleischt.
Seiner vielleicht, meiner nicht.
„Kennt sich hier jemand mit Pferden aus?“ Der Sachbearbeiter der Agentur sieht fragend in die Runde. Schmunzeln unter den Anwesenden. Eugen rückt sich zurecht, fährt sich durch den Scheitel, wartet einen kurzen Moment. Wieso Pferde, denkt er, durch das Schmunzeln der Anderen leicht verärgert. Autos, Maschinen, Werkhallen, deshalb ist er hier, wieso auf einmal Pferde? Er hebt nachdenklich seinen Arm.