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PROLOG

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Am 7. August 1914 sah sich das Bezirksgericht Duala zu zwei Justizmorden veranlasst. Es verurteilte Rudolf Duala Manga Bell und Adolf Ngoso Din wegen Hochverrats zum Tod durch den Strang am folgenden Tag. Zwar war dem Gericht in der ehemaligen Hauptstadt der deutschen Schutzkolonie bekannt, dass weder Manga Bell, der Häuptling der Duala, noch sein Vertrauter Ngoso Din Hochverrat begangen hatten. Doch war das in diesem Fall ohne Belang. Die Aufgabe des Gerichts war nicht, Recht zu sprechen, vielmehr war die Durchsetzung des Rechts mit allen Mitteln zu verhindern. Auf Geltung und Anwendung des Rechts aber hatten Manga Bell und Ngoso Din bestanden, des Rechts, das sich aus dem Vertrag ergab, den Vertreter der Duala dreißig Jahre zuvor mit Vertretern zweier Hamburger Handelshäuser geschlossen und damit die Kolonisierung Kameruns ermöglicht hatten.

Damals, am 12. Juli 1884, hatten Eduard Schmidt und Johannes Voss, deren Firmen C. Woermann und Jantzen & Thormählen seit Jahrzehnten an der Küste Kameruns Handel trieben, mit den wichtigsten »Kings and Chiefs« der Duala vereinbart, dass auf die Deutschen die Hoheitsrechte, die Gesetzgebung und die Verwaltung übergehen sollten. Doch hatten sich die Duala ausbedungen, dass der von ihnen bewirtschaftete oder bebaute Boden ihr Eigentum bleibe und – in einer von den Deutschen akzeptierten Zusatzvereinbarung – dass ihr Monopol auf den Handel mit dem Hinterland nicht angetastet werde: »Wir wünschen, dass Weiße nicht hinaufgehen und mit den Buschleuten handeln, sie dürfen nichts mit unseren Märkten zu tun haben, sie müssen hier an diesem Fluss bleiben und uns Vertrauen schenken, so dass wir mit unseren Buschleuten handeln.«* Nur dank dieser Zusicherung war es den Deutschen gelungen, die Briten als Rivalen am Kamerunfluss auszuschalten. Der lukrative Zwischenhandel war die entscheidende Erwerbsquelle der Duala – sie bezogen aus dem Hinterland Elfenbein, Kautschuk und Palmöl und tauschten die Produkte in den deutschen und britischen Faktoreien gegen Stoffe, Eisenwaren, Pulver, Tabak, Salz und Branntwein –, seine Zerstörung hingegen das vorrangige Interesse der deutschen Firmen, die direkt und damit einträglicher auf den Märkten im Landesinneren Handel treiben wollten. Gleichwohl sahen sie in der Zusage, das Zwischenhandelsmonopol zu respektieren, nicht das geringste Problem. Sie hatten niemals vor, sie einzuhalten.

Ohnehin begründete der Vertrag nach Ansicht der Deutschen eher einen Rechtsanspruch auf koloniale Besitzergreifung gegenüber anderen europäischen Mächten, die im Scramble for Africa ebenfalls Küstenstreifen besetzen wollten, als die Legitimation der Herrschaft gegenüber der afrikanischen Bevölkerung. Deshalb fühlten sich die Deutschen von Anfang an nicht an den Vertrag gebunden und schoben ihn beiseite, sobald es ihnen möglich war. Die Duala bestanden zwar von Anfang an auf dem Protektoratsvertrag und der Zusatzvereinbarung, hatten allerdings über den Gegenstand und die Reichweite andere Vorstellungen als die Deutschen. Die Europäer bezeichneten die Vertreter der Duala als »Kings« und »Chiefs«, aber sie waren weder das eine noch das andere. Die Duala waren eine akephale Gesellschaft, also ohne politische Führer, sie kannten nur Familienvorstände, die in der Regel die Handelsgeschäfte mit den Europäern übernahmen und deshalb eine gewisse Autorität genossen. Jedenfalls waren sie keine Souveräne – auch wenn sie die europäischen Herrschaftstitel zum Teil selbst übernahmen – und damit zur Abtretung von Souveränitätsrechten weder berechtigt noch gewillt. Ihnen ging es nicht um Unterwerfung, sondern um Schutz. In früheren Bittschreiben an die britische Königin Victoria hatten sie geklagt, sie seien außerstande, den innerhalb der Duala-Gesellschaft fortwährend geführten Streit um die Beteiligung am Außenhandel zu schlichten, jede Auseinandersetzung führe zum Krieg, sie seien müde, das Land zu regieren. Mit anderen Worten: Als King Bell – eigentlich hieß er Ndumb’a Lobe – und King Akwa – er hieß Ngand’a Kwa – sowie andere Chiefs der Duala den Vertrag unterschrieben, wollten sie den Deutschen die Rechtsprechung nicht nur in Handelskonflikten zwischen den Duala und den Weißen übertragen, sondern auch in Auseinandersetzungen zwischen ihnen selbst und den anderen Duala.

Zwei Tage nach Vertragsschluss, am 14. Juli 1884, wurde in Duala am Ufer des Wuri die deutsche Flagge gehisst. Der von Reichskanzler Bismarck zum Reichskommissar für Deutsch-Westafrika ernannte Arzt Dr. Gustav Nachtigal, ein schon damals berühmter Afrikaforscher, der sich bis dahin mehr mit der afrikanischen Kultur als mit deutschen Exportinteressen beschäftigt hatte, war in Begleitung Dr. Max Buchners – ebenfalls Arzt und Afrikareisender – auf dem Kanonenboot SMS Möwe von Togoland gekommen, das er am 5. Juli für Kaiser und Reich erworben hatte. Wie vereinbart, ließ sich Nachtigal von den Vertretern der Hamburger Handelshäuser C. Woermann und Jantzen & Thormählen die »Souveränitätsrechte« über Kamerun, das heißt über die Siedlung Duala, übertragen: ein dreifaches Hoch, Trommelwirbel, drei Gewehrsalven des Kommandos und einundzwanzigmal Salut aus den größten Geschützen der Möwe. Damit war das Land, das die Deutschen Kamerun nannten, als Kolonie in die deutsche Geschichte getreten. Und es begannen – wie in allen Kolonien aller Kolonialreiche – die Eroberungen, die Feldzüge ins Landesinnere, die Unterwerfung der Bevölkerung, kurz, all das, was die Zeitgenossen als Zivilisierung bezeichneten.

Vom Anfang bis zum Ende des deutschen »Schutzgebiets« Kamerun verging kaum ein Tag ohne Krieg, jedoch nicht – von einer dramatischen Ausnahme gleich zu Beginn abgesehen – zwischen den Deutschen und den Duala. Die protestierten zwar, als die Deutschen ihr Handelsmonopol zerstörten und Steuern einführten; auch protestierten sie gegen die Nilpferdpeitsche auf ihren Rücken, die die Deutschen zumeist besser beherrschten als die Sprache der Duala. Aber abgesehen davon bestand ihre Verteidigung in der Strategie des Wandels durch Annäherung. Als die Deutschen ihnen ihre Existenzgrundlage nahmen, machten sie die Deutschen zu ihrer Existenzgrundlage, lernten Deutsch und traten in deutsche Dienste, als Händler, Verwaltungsangestellte, Missionare, Lehrer und selbst als »Oberhäuptling«, ein von den Deutschen vergebenes bezahltes Amt. Die Friedfertigkeit folgte nicht nur der Einsicht, waffentechnisch den Deutschen unterlegen zu sein – eine Erfahrung, die etliche Völker aus dem Kameruner Hinterland machen mussten. Auch die Rivalität der Duala-Clans verbot zunächst jeden Gedanken an einen gemeinsamen bewaffneten Widerstand.

Dabei blieb es, als die deutsche Kolonialverwaltung sich daranmachte, auch eine weitere Zusage an die Duala systematisch zu brechen – die Garantie, sie nicht von ihrem bebauten oder bewirtschafteten Land zu vertreiben. Seit 1910 planten die Deutschen die Modernisierung des zur Wirtschaftsmetropole aufgestiegenen Duala, die Anlage des größten Hafens Westafrikas, den Bau neuer Straßen. Das aber sollte nur durch die Umsiedlung der Duala gelingen können, aus der Stadt in die Nähe der von der Malariamücke bevölkerten Mangrovensümpfe am Stadtrand. Wie deutsche Kolonialärzte zudem bereitwillig bestätigten, war die Ansiedlung außerhalb des von den Deutschen bewohnten Gebiets auch ein rassehygienisches Gebot. Das alles verstieß offensichtlich gegen den dreißig Jahre zuvor geschlossenen Vertrag. Aber kein Verstoß gegen einen Vertrag ist so offensichtlich, dass er nicht übersehen werden könnte, zumindest von dem, der ihn begeht. Die Deutschen übersahen ihn, Rudolf Duala Manga Bell übersah ihn nicht.

Der Enkel King Bells, den selbst ehemals rivalisierende Clans als Anführer aller Duala anerkannten, war ein rechtstreuer Mann, und als solcher pochte er auf einen in Europa anerkannten Grundsatz: Pacta sunt servanda. Kein anderer Bewohner deutscher Kolonien hatte sich je derart laut zu Wort gemeldet; nicht nur von den Deutschen in Kamerun, sondern vor allem auch im Kaiserreich wurde er gehört und verstanden – denn dank seiner in Deutschland genossenen Ausbildung pochte er auf Deutsch. Und er bediente sich dabei einer Waffe, die – wie damals auch das Maxim-Maschinengewehr – nur Kulturvölkern zu Gebote stand, der Öffentlichkeit. Er schaltete deutsche Zeitungen ein, deutsche Anwälte sowie Abgeordnete des Berliner Reichstags und initiierte eine Kampagne, deren Botschaft so klar wie unbestreitbar war: Vertragstreue. Mit ihr pflegten Kolonialbeamte die Prügelstrafe am Bezirksgericht Duala zu begründen, die dort freitags sehr großzügig verhängt und samstags, am »Prügeltag«, vollstreckt wurde, hatten sich doch die Duala 1884 der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen. Mit ihr rechtfertigten sie sogar die geplante Massenenteignung in Duala, denn auch die Verwaltung war im Sommer 1884 auf sie übergegangen. Es war also nicht abwegig, dass auch Manga Bell sich in Eingaben an die Kolonialregierung auf den Vertrag berief. Das allein hätten die Kolonialverwaltung in Kamerun, das Reichskolonialamt und die Reichsregierung vermutlich noch ertragen. Eingaben dieser Art waren in den Kolonien an der Tagesordnung und wurden in der Regel kaum beachtet, gelegentlich allerdings wurden die Petenten mit Prügelstrafe oder Verbannung belegt. Doch die Mobilisierung der deutschen Öffentlichkeit, die an der deutschen Kolonialpolitik erheblich zu zweifeln begann, warf ein besonderes Problem auf. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der Manga Bell vor aller Augen auf dem Recht bestand, machte jedermann klar, dass das vermeintliche Ziel des Kolonialismus – die kulturelle Hebung der sogenannten Eingeborenen – hier auf vollendete Weise erreicht worden war. Und seine Beharrlichkeit beseitigte alle Zweifel, dass Manga Bell den tiefsten Sinn des Rechts – die gewaltfreie Konfliktlösung – besser als seine deutschen Widersacher verstanden hatte.

Manga Bells friedlicher Kampf bedeutete für die deutsche Kolonialpolitik ein Dilemma. Wie alle Kolonialmächte beteuerte auch das Deutsche Reich, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der afrikanischen Bevölkerung durch Beendigung der Sklaverei und der Willkürherrschaft, den Aufbau eines Gesundheitssystems und die Einrichtung von Schulen leisten zu wollen. In der Praxis diente dieser humanitäre Aspekt aber vor allem als Deckmantel der Gewalt, auf der die Herrschaft beruhte. Es ging nicht um Zivilisierung, sondern um absolute Unterwerfung zwecks Ausbeutung der wirtschaftlichen und humanen Ressourcen. Für Manga Bell aber war Zivilisierung kein Vorwand, sondern eine Tatsache und die Achtung des Rechts ihr bester Beweis. Indem er auf dem Recht der Duala bestand, hat die Kolonialmacht die Herrschaft über ihn verloren. Was blieb, war die Gewalt.

* Bei den Zitaten handelt es sich ausschließlich um Auszüge aus historischen Quellen, die nicht einzeln nachgewiesen werden. Im Literaturverzeichnis ab Seite 146 finden sich Angaben zu allen relevanten Quellen und Studien.

Der gute Deutsche

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