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Vorwort

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Stellen Sie sich vor, Sie stehen an der Käse- oder Wursttheke, Sie haben 200 Gramm bestellt und werden plötzlich gefragt: »Darf’s auch etwas weniger sein?« Vermutlich würden Sie aus allen Wolken fallen und denken, Sie hätten nicht richtig gehört. So vertraut ist uns die gegenteilige Frage: »Darf’s auch etwas mehr sein?« Sie haben, wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, allerdings bereits bewiesen, dass Sie bereit sind, sich genau mit diesem Weniger zu beschäftigen.

Ich möchte Ihnen nichts wegnehmen. Vielmehr möchte ich Ihnen zeigen, was Sie gewinnen, wenn Sie sich mit dem Weniger anfreunden. Die Forschungsergebnisse aus den sogenannten blauen Zonen, in denen überdurchschnitt­lich viele Frauen und Männer – Letzteres erstaunt am meisten – über hundert Jahre alt werden, weisen in Richtung Einfachheit. Es handelt sich bei den blauen Zonen um Re­gionen mit überdurchschnittlich alten und gleichzeitig gesunden Menschen. Der Erstbeschreiber Dan Buettner (»The Secrets of a Long Life«) identifizierte fünf Regionen, die er mit einem blauen Stift – daher der Name – umrandete: Okinawa (Japan), Sardinien (Italien), die Nicoya-Halbinsel (Costa-Rica), Ikaria (Griechenland) und Loma Linda (Kalifornien), wo Siebenten-Tags-Adventisten leben. Wesentliche Bedingungen für ein langes Leben sind täg­liche Bewegung (und damit ist nicht zwangsläufig Sport gemeint), einfaches Essen, ohne sich zu überessen, ein soziales, liebevolles Miteinander in Familie und Freundeskreis, Verbundenheit mit der Natur und Sinnorientiertheit. Viel Geld braucht es dafür nicht!

Es kommt sogar noch besser: Weniger hat das Zeug zum Glücklich-Machen, Weniger bietet auf vielen Ebenen einen Weg zu mehr Gesundheit, Freiheit und Entfaltung. Auf diese Entdeckungsreise möchte ich Sie mitnehmen. Dabei werden wir Hans im Glück als einen vermeintlich verrückten Experten für Verzicht kennenlernen. Ich bin gespannt, ob er vielleicht sogar zu einer Galionsfigur für eine neue Kultur werden kann.

In vielen Bereichen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens wird spürbar, dass das Fass längst voll ist und oft genug bereits überläuft. Dennoch gießen wir munter weiter ein, ohne dass wir uns zur Wehr setzen und Stopp sagen. Die Folgen zeigen sich in einer sehr deutlichen Zunahme von stressbedingten Erkrankungen: Bluthochdruck, Übergewicht und Fettleibigkeit, Suchterkrankungen, Burn-out und viele andere Krankheiten. Und auch der Erde geht an manchen Stellen die Puste aus: durch fortgesetzten übermäßigen Konsum, Rohstoff- und Ressourcenverbrauch und ungezügeltes Wegwerfverhalten.

Die Menschen, die mir mit all dem in der psychosomatischen Behandlung begegnen, möchten raus aus diesem Hamsterrad. Oft finden sie den Ausgang allerdings nicht. Dieses Buch möchte dazu beitragen, rechtzeitig und immer wieder aufs Neue den Ausgang zu finden. Dabei geht es nicht darum, dauerhaft aus unseren privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen auszusteigen oder gar auszuwandern. Aber immer wieder einmal, auch und gerade im täglichen Tun, Abstand zu bekommen von dem, was uns hetzt und treibt, und Zeit und Muße zu finden für die kleinen Auszeiten und Parkbuchten am Wegesrand, dazu möchte ich mit diesem Buch anregen.

Die Vision lautet:

Weniger Fremdbestimmung, mehr Selbstbestimmung!

Weniger Müssen, mehr Wollen!

Weniger (Selbst-)Optimierung, mehr (Gestaltungs-)Freiheit!

Weniger Tun, mehr (Sein-)Lassen!

Weniger Vergleichen, mehr Dankbarkeit!

Weniger Hast, mehr Rast!

Weniger Pflicht, mehr Kür!

Weniger Ich, mehr Miteinander!

Ich wünsche uns allen, dass wir Mittel und Wege dazu finden und ein neues Offensein für Veränderung hin zu mehr Lassen entwickeln. Ängste, darauf weisen unsere menschlichen Erfahrungen hin, gehören dazu, sie wollen erkannt und ernst genommen werden. Nur so können wir sie hinter uns lassen. Picasso spricht einmal von der »Gnade des Gehaltenseins« in der Angst des Loslassens. Das macht Mut, tiefer zu blicken und über die Ängste hinauszuwachsen. Das ist auch notwendig, weil Ängste unsere Entfaltungsmöglichkeiten und unsere Kreativität einschränken und Vorurteile begünstigen. »Wie psychologische Forschung vielfach gezeigt hat, geht Angst mit Genauigkeit, Klein­teiligkeit und Fehlervermeidung einher, nicht jedoch mit Offenheit, gedanklicher Weite und Mut für neue Ideen.«1 Von Letzterem möchte ich in diesem Buch erzählen.

Aus aktuellem Anlass habe ich ein Kapitel zur Corona­krise hinzugefügt. Gerade in dieser Krise werden einige Gedanken, die ich in diesem Buch darstellen möchte, besonders anschaulich.

Ich verstehe mich in sämtlichen Themen dieses Buches nicht als abgehobener Experte, der Ihnen wie ein erleuchteter Meister meilenweit voraus ist. Vielmehr bin ich selbst Lernender, probiere aus, verwerfe und versuche neugierig etwas Anderes. Bei vielem, was ich schreibe, meine ich genauso mich selbst. Ich bin also genauso auf dem Weg wie Sie und die meisten anderen, die sich diesem Thema zuwenden. Gehen wir also zusammen, das macht sowieso viel mehr Freude!

Entscheidungen für etwas, bedeuten immer auch Verzicht auf etwas Anderes. Jedes Ja beinhaltet ein Nein. Das ist mitunter herausfordernd und schwer, es macht am Ende des Tages allerdings lebendig und zufrieden. Unsere Persönlichkeit entwickelt sich nämlich mit den Entscheidungen, die wir treffen. Sie machen uns und unser Leben einzigartig. Mit ihnen behauen wir den Stein, der somit mehr und mehr zu unserer persönlichen Lebensskulptur wird. So gewinnen wir letztendlich viel mehr, als wir zu verlieren meinen, wenn wir Dinge sein- oder loslassen.

Verzichten lernen beinhaltet, so paradox es klingen mag, das Versprechen von Gewinn. Auszusteigen aus der Hetze des Schneller, Weiter und Mehr, des Vergleichens und Hinterherjagens lässt Freiheit und Raum entstehen. Beides sind Grundbedingungen menschlichen Wachsens. Wenn wir uns gegenseitig dabei unterstützen, wird der Gewinn für alle größer werden. Das klingt fast nach einer kapitalistischen Maxime und geht doch gerade darüber weit hinaus.

Was wir gewinnen, wenn wir verzichten

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