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Ist Hans ein Loser oder ein Held?
Was wir von Hans im Glück lernen können

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Ich glaube, es kommt nicht so sehr darauf an,

was wir sehen können, sondern vielmehr darauf,

wofür wir unseren Blick öffnen.

Ralf Isau, Der silberne Sinn

Hans hatte sieben Jahre bei seinen Herren gedient. Vermutlich handelte es sich um die vereinbarte Zeit, vielleicht die seiner Ausbildung, darüber jedenfalls spricht das Märchen nicht. Sein Meister dankt ihm und entlässt ihn mit einem Stück Gold als Lohn, ein Zeichen dafür, dass Hans rechtschaffen und schwer gearbeitet hatte. Glücklich packt Hans den Goldklumpen in ein Tuch und macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter. Da dieser Goldklumpen offensichtlich ordentlich groß ist, beginnt er ihn schon bald zu drücken, was offensichtlich ein herannahender Reiter bemerkt. Für diesen scheint es ein Leichtes zu sein, Hans von einem Tausch »Gold gegen Pferd« zu überzeugen. Hans willigt überglücklich und dankbar in diesen Tausch ein und schwingt sich auf das Pferd, um seine Reise fortzusetzen.

Zunächst fühlt Hans sich vom Glück begünstigt und so lässt er das Pferd bald schneller reiten. Da er jedoch des Reitens unvertraut ist, fällt er rasch vom Pferd und landet unwirsch in einem Graben. Dies sieht zufällig ein heranna­hender Bauer, der eine Kuh vor sich hertreibt. Da Hans nach dieser Erfahrung keinesfalls wieder das Pferd besteigen möchte, willigt er in einen erneuten Tausch »Pferd gegen Kuh« unverzüglich und freudestrahlend ein. Hans hatte diesen Tausch auch unter der Vorstellung vollzogen, dass er seine Kuh jederzeit melken könne, um damit seinen Durst zu stillen. Als er dies jedoch im ersten Anlauf nicht zustande bringt, sondern vielmehr noch einen Tritt kassiert, ist er wiederum heilfroh, dass ein weiterer Bauer bereit ist, die Kuh gegen ein Schwein zu tauschen.

Wenig später begegnet Hans einem jungen Mann mit einer gemästeten Gans. Sie kommen ins Gespräch und Hans erzählt freimütig von seinen glücklichen Tauschgeschäften. Listig erfindet der junge Mann die Geschichte eines entlaufenen Schweins im Nachbardorf und bietet großzügig seine Hilfe an, die darin besteht, das Schwein gegen seine Gans zu tauschen. Hans, wie könnte es anders sein, willigt erneut dankbar und freudestrahlend ein und setzt seine Wanderschaft nun mit der Gans fort. Er gelangt in ein Dorf und trifft auf einen munteren Schleifer, der ihn schon bald davon überzeugt hat, dass das Handwerk des Scherenschleifens eines der auskömmlichsten ist. Es kommt wie es kommen muss, Hans und der Schleifer tauschen Gans gegen Wetzstein. Auch dieser Stein ist nicht leicht und so ruht sich Hans schließlich bei nächster Gelegenheit an einem Brunnen aus. Als er den Wetzstein am Brunnenrand ablegt, um sich zum Trinken herabzubeugen, fällt ihm der Stein in die Tiefe des Brunnens. Als Hans dies bemerkt, springt er vor Freude auf, kniet sich nieder und dankt seinem Gott unter Tränen, dass er ihm diese Gnade erwiesen hat, ihn von einem schweren Stein zu befreien. Laut ruft er aus: »So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne, ich muss in einer Glückshaut geboren sein.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last setzt er den Weg zu seiner Mutter nach Hause fort.

Was für ein Märchen! Es bricht mit allem, was man üb­licherweise von Märchen erwartet. Kein verwunschener Prinz wird wachgeküsst, kein Dornröschen befreit aus hundertjährigem Schlaf, kein Wolf getötet und in den Brunnen geworfen. Vielmehr scheint es die Geschichte eines Tölpels und Antihelden zu sein, eines Versagers auf der ganzen Linie. Wie soll man sich an solch einem Typen ein Beispiel nehmen?

Und doch hatten die Gebrüder Grimm offensichtlich gute Gründe, auch dieses Märchen in den Kanon ihrer berühmten Sammlung aufzunehmen und es auch noch Hans im Glück zu nennen. Ich vermute, dass die Frage, was denn das für ein Glück sein soll, nicht nur aus der heutigen Perspektive, sondern schon zu Zeiten der Gebrüder Grimm eine war, die zum Nachdenken Anlass gab. Wenn es etwas gibt, was Hans kann und offensichtlich als Glück empfindet, dann ist es das Lassen, das Verzichten. Ganz offensichtlich spürt er einen Zugewinn an Freiheit, je mehr er sich von all dem, was er hat, trennt.

Hans nimmt damit bereits Ansätze der Sharing Economy vorweg, die darauf verweist, dass man etwas tauschen kann, wenn man es braucht, und es nicht selbst anschaffen muss. Dies scheint uns heute fremd, aber wir können es uns neu bewusst machen und es ausprobieren.

Die Kunst des Lassens, Loslassens und Seinlassens zu praktizieren, bedeutet, die vielen verschiedenen Formen des Festhaltens aufzugeben: Festhalten von Ereignissen, die vergangen sind; Festhalten von Plänen für etwas, das zukünftig sein soll; Festhalten an Kränkungen und Enttäuschungen; Festhalten von Erwartungen, Meinungen oder auch von Dingen, die das Leben nicht mehr bereichern, sondern die nur Raum einnehmen und einengen: Hausrat, Möbel, Kleidung, Bücher …

»Loslassen ist ein inneres Verabschieden. Es ist etwas, das wir lernen müssen: Reflexhaftes Anklammern ist etwas, das wir von Natur aus können. Loslassen – vor allem als eigene Entscheidung und nicht, weil das Schicksal uns dazu nötigt – müssen wir erst üben. Helfen kann dabei das Staunen über die Verwandlungskraft der Natur, die ein Gegengewicht zum ängstlichen Festhalten am Gewohnten und Vertrauten ist.«3 Hans, so scheint es, hat das begriffen und umgesetzt, was Brigitte Dorst als Kunst beschreibt. Er lässt ohne Murren los und fühlt sich dabei zunehmend freier. Er entscheidet sich aus freien Stücken dazu, indem er die sich dafür bietenden Gelegenheiten nutzt. Hans’ Glücksrezept ist das Lassen, das Sich-Befreien von Ballast. Interessant, dass er das als Ballast empfindet, was die meisten als Quelle des Glücks beschreiben würden.

Dass Geld (alleine) nicht glücklich macht, ist längst bekannt. Dass damit nicht gemeint ist, dass es ohne Besitz leichter und einfacher im Leben wäre, ist natürlich genauso klar. Das Märchen hat allerdings das Potenzial, die eigenen Werte abzuklopfen und sich damit auseinanderzusetzen, was für einen persönlich wirklich wichtig ist. Das kann zum Beispiel bedeuten, den nächsten Karriereschritt kritisch zu hinterfragen oder die Arbeitszeit zugunsten freier Zeit zu reduzieren, auch wenn das mit finanziellen Einbußen einhergeht.

Es geht im Leben häufig um die immateriellen Dinge, an denen wir hängen bleiben und die dadurch viel Energie ziehen: alte Kränkungen und Enttäuschungen, Erwartungen an andere, an das Leben und auch an mich selbst, die, warum auch immer, nicht in Erfüllung gingen. Viele Beziehungen scheitern, weil über Verletzungen nicht gesprochen wird, weil man erwartet, der andere solle den ersten Schritt tun, das sei doch das Mindeste. Dieses Festhalten entfaltet manchmal ein tödliches Gift. Aus der Resilienzforschung allerdings ist schon lange bekannt, dass das Verlassen der Opferrolle mit einem deutlichen Zugewinn an seelischer Gesundheit einhergeht. Wem es gelingt, aus diesem Kreislauf unguter, kräfteraubender Gefühle auszusteigen, wird oft eine Entlastung, eine Befreiung von altem Ballast erleben. Und auf einmal erscheint die Haltung von Hans tatsächlich ein Glücksrezept zu sein.

Haben Sie schon einmal die Erfahrung gemacht, sich in die Sichtweise des Gegenübers einzufühlen und in Betracht zu ziehen, dass dessen Meinung genauso zutreffend sein könnte wie die eigene? Was wäre, wenn er oder sie recht hätte? Was würde sich dadurch verändern? Könnte ich dabei etwas gewinnen? Aus der Hirnforschung wissen wir, dass wenige Inputs von außen zu Millionen Verschaltungen im eigenen Gehirn führen. Mit anderen Worten: Wahrnehmung ist immer höchst subjektiv und von unseren unzähligen bewussten und meist unbewussten Vorerfahrungen abhängig. Sie ist also keineswegs objektiv und deswegen nicht unfehlbar! Es kann sehr befreiend sein, der eigenen Meinung gegenüber immer mal wieder skeptisch zu sein.

Manchmal passiert Loslassen im vermeintlichen Scheitern und somit sicherlich nicht freiwillig. Der tiefe Fall des ehemaligen Bertelsmann- und Arcandor-Chefs Thomas Middelhoff, der 2014 wegen Steuerhinterziehung und Untreue verurteilt wurde, erzählt davon. Er saß deswegen 24 Monate im Gefängnis. 2017 wurde Middelhoff vorzeitig aus der Haft entlassen. Privatjet, Villen und die Motoryacht, das dreistellige Millionenvermögen – alles weg. Er bekennt sich zu narzisstischen Zügen in seiner Persönlichkeit, er habe um die Aufmerksamkeit der Medien gebuhlt und wollte immer noch bekannter und präsenter sein. Deswegen habe er alles verloren.

Als Wendepunkt beschreibt er seine Arbeit in einer Behindertenwerkstatt als Freigänger während seiner Haft. Es habe ihn glücklich gemacht, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun und mit diesen Menschen frohe Momente zu erleben, in denen Geld überhaupt keine Rolle spielte. Heute wünscht er sich, dass alle Manager ein paar Wochen oder besser Monate soziale Arbeit im Rahmen ihrer Ausbildung leisten sollen. Als weiteren entscheidenden Schritt seines Umdenkens in dieser Zeit beschreibt er seine Bekehrung zum christ­lichen Glauben. Er habe darauf vertrauen gelernt, dass Gott ihn halte, egal was passiert. Bei all dem habe er Demut gelernt und die Verantwortung für sein Scheitern übernommen.4

Ob Middelhoff tatsächlich ein Gescheiterter ist? Ich wage das zu bezweifeln. Er hat gefunden, was mit Geld nicht aufzuwiegen ist: Zufriedenheit und (spirituelle) Verbundenheit.

Eine ähnliche Erfahrung machte Mitte der Neunzigerjahre auch der Liedermacher und Schriftsteller Konstantin Wecker. Durch seinen exzessiven Drogenkonsum ruinierte er sich nicht nur körperlich, er verlor auch so gut wie alles, was er bis dahin besaß. Er machte eine ähnliche Erfahrung wie Middelhoff, begann intensiv zu meditieren und entwickelte eine Spiritualität, die bis heute auch bei seinen Konzerten spürbar und erlebbar ist. Wecker hat sich unter anderem in seinen Büchern Die Kunst des Scheiterns und Das ganze schrecklich schöne Leben öffentlich zu diesem Le­-

bens­abschnitt bekannt. Er ist davon überzeugt, »dass die Vergangenheit auch in der Gegenwart liegt«. Eine bud­dhis­tische Erkenntnis, aus der folgt, »dass wir die Ver­gan­gen­heit ändern können, indem wir die Gegenwart verwan-deln.«5 So gesehen gibt es vielleicht gar kein Scheitern.

Noch einmal zurück zu Hans. Mir scheint wichtig zu sein, dass Hans auf einer ganz bestimmten Reise ist, nämlich auf dem Weg zurück zu seiner geliebten Mutter. Wollte man dies als ödipale Verstrickung eines längst erwachsenen Mannes deuten, würde man das Märchen gänzlich missverstehen. Vielmehr scheint es Hans um einen derart tiefen inneren Wert zu gehen, der alles Äußerliche, und sei es Gold und Geld, nebensächlich erscheinen lässt. Hans setzt auf Verbundenheit, Zugehörigkeit und Liebe. Damit fokussiert er auf das, was zahlreiche wissenschaftliche Studien als den wichtigsten Grundpfeiler für Lebenszufriedenheit und Glück identifizieren: Gelingende Bindungserfahrungen und glückende menschliche Beziehungen. So die Ergebnisse der Grant and Glueck Study der Harvard Medical School.

Die Studie ist schon deswegen beachtenswert, weil sie seit 1938 Menschen nach dem befragt, was sie wirklich glücklich und zufrieden macht. Dafür werden diese Menschen zum Teil durch ihr ganzes Leben begleitet und immer wieder befragt. Nicht Karrieren, Erfolge, Geld und Ruhm stellen sich als das Glückselixier heraus, sondern gelingende Beziehungen. Middelhoff bestätigt in dem zitierten Interview, dass seine Beziehung zu seiner geschiedenen Frau und seinen Kindern heute besser sei als zu den Zeiten seines vermeintlichen Erfolgs.

Hans wusste dies intuitiv und seine Geschichte will uns auf eine bestimmte Weise wachrütteln und ermutigen, auf das zu setzen, was im Leben wirklich zählt. So möchte ich Sie einladen, sich mit den Fragen nach Zugehörigkeit und Liebe eingehend zu beschäftigen.

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Wie fühlt sich das an, geliebt zu sein und zu lieben? Wo im Körper spüren Sie das? Wann haben Sie es zuletzt erlebt?

Was hat Sie Ihr Leben bisher über die Liebe gelehrt? Welche beglückenden Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Sind Sie dabei auch in eine spirituelle Dimension vorgestoßen? Und vielleicht geht es Ihnen so wie vielen Menschen, dass Sie Liebeslieder und Liebesgedichte besonders mögen. Wenn ja, welche sind das?

Was wir gewinnen, wenn wir verzichten

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