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Warum Verzichten etwas mit seelischer Gesundheit zu tun hat

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… dass deine Wahrheit langsam wachsen wird, denn sie ist

Geburt eines Baumes und nicht glücklicher Fund einer Formel.

Antoine de Saint-Exupéry

Verzichten, das klingt zunächst einmal überhaupt nicht verlockend, vielleicht sogar abstoßend. Möglicherweise weckt das Wort ungute Assoziationen aus Kindheit und Jugend. Unter Umständen erinnert es sogar manche an die Kriegs- und Nachkriegszeit, die von Mangel und Verzicht gekennzeichnet war. Wozu soll das gut sein? Und was daran ist gesund?

Diese Fragen sind sehr verständlich. Haben wir doch oft genug die Erfahrung gemacht, dass wir etwas brauchen, um gesund zu werden, dass uns etwas fehlt, was es auszugleichen, zu ersetzen oder zu reparieren gilt.

Und dennoch mehren sich auf vielen Ebenen Hinweise und wissenschaftliche Erkenntnisse über den Gewinn des Lassens und Verzichtens. So hat in den vergangenen Jahren das Intervallfasten für Furore gesorgt. Es beruft sich auf verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse, die besagen, dass ein Nahrungsverzicht über eine Zeitspanne von vermutlich 14 bis 16 Stunden körpereigene Reparaturvorgänge anstößt, die die Körperabwehr stimulieren und Selbstheilungskräfte in Gang setzen. Dem Heilfasten wird schon lange eine solche Wirkung zugesprochen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen dies zu bestätigen. Hier also tragen Verzicht und Weglassen zu einem Mehr an Gesundheit bei. Zumindest in Tierversuchen wurde belegt, dass eine kalorienreduzierte Lebensweise mit einer Lebensverlängerung einhergeht und dass hochgiftige Chemo­therapien im Fastenmodus besser vertragen werden. Mittlerweile wird an der Charité in Berlin dazu auch über die Auswirkung auf den Menschen geforscht.

Lässt sich dies nun auch auf seelische Gesundheit über­tragen?

Der 37-jährige Herr M. war als Entwicklungsingenieur einer großen deutschen Firma seit Jahren erfolgreich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern aktiv gewesen. Seine Erfolge hatten dazu geführt, dass er auf der Karriereleiter schnell nach oben geklettert war. Die Erwartungen an ihn waren damit nicht kleiner geworden. Zunehmend hatte sich etabliert, dass lange vor dem Abschluss eines intensiven Projekts bereits ein neues angestoßen wurde. Hinweise an seinen Vorgesetzten, dass dies zeitlich nicht zu leisten sei, beantwortet dieser stets mit wohlwollendem Schulterklopfen und Sätzen wie: »Das schaffen Sie schon Herr M., Sie sind mein bestes Pferd im Stall, das wissen Sie doch!« Dies führte dazu, dass Herr M. sich mehr und mehr anstrengte, die tägliche Arbeitszeit längst bei zwölf Stunden und mehr angelangt war und er an den Wochenenden zu Hause am Computer weiterarbeitete. Zuletzt nahm er mit seiner Familie nur noch das Abend­essen gemeinsam ein, um sich anschließend zu Hause in sein Büro zurückzuziehen und die Arbeit fortzusetzen.

Lange Jahre hatten ihm sportliche Ausgleichsaktivitäten gutgetan, auch hatte er an den Wochenenden mit seiner Familie und nicht zuletzt in Urlauben entspannen und abschalten können. Dies alles hatte längst aufgehört, ohne dass er es richtig bemerkt hatte. Auf Hinweise seiner Frau reagierte er zunehmend gereizt und verkroch sich immer mehr in die Arbeit.

Im Winter erlitt er einen fieberhaften grippalen Infekt. Da jedoch wieder einmal ein Projekt vor dem Abschluss stand, schleppte er sich wie gewohnt zur Arbeit. Später berichtete er, dass er sich bereits wie in einem Tunnel befunden hätte. Er könne sich nur noch daran erinnern, mit ausgeprägter Luftnot, Schweißausbrüchen, Herzrasen und Druck auf der Brust von einem Notarzt ins Krankenhaus gebracht worden zu sein. Einen Herzinfarkt konnte man ausschließen. Dennoch fühlte er sich derart schwach, dass er zunächst nicht entlassen werden konnte. Ein hinzugezo­gener Facharzt für psychosomatische Medizin diagnostizierte eine Panikattacke und ein schweres Burn-out-Syndrom. Herr M. wurde krankgeschrieben.

Im Rahmen des sich anschließenden Klinikaufenthaltes musste Herr M. feststellen, dass er sich in den zurückliegenden Jahren vollständig verausgabt und erschöpft hatte. Gleichzeitig hatte er den Kontakt zu seiner Familie und auch zu sich selbst verloren. Um den letztlich unerfüllbaren Vorgaben irgendwie gerecht zu werden, hatte er unermüdlich das Tempo erhöht. Wie ein Marathonläufer, der vergisst, während des Laufs ausreichend zu trinken und zwischen den Trainingseinheiten zu regenerieren, war er völlig erschöpft zusammengebrochen. Nun erkannte er in kleinen Schritten, dass es nicht immer um ein Mehr, sondern um ein Weniger an Aufgaben und beruflichen Herausforderungen gehen müsse, um gesundheitlich auf Dauer bestehen zu können. Dem »Ja, wird erledigt«, lernte er ein »Nein, nicht mit mir« entgegenzusetzen. Dies mündete schließlich in der Erkenntnis, den letzten Karriereschritt wieder rückgängig zu machen. Schon aus der Klinik heraus teilte er dies seinem Vorgesetzten mit.

Diese Fallgeschichte zeigt eindrucksvoll, was Millionen Menschen täglich erleben, wenn sie sich im Hamsterrad der Arbeitsverdichtung und unrealistischen Anforderungen befinden und die Lösung in einer fortgesetzten Beschleunigung vermuten. Oft schlägt dann irgendwann die Burn-out-Falle zu, vermeintlich plötzlich, bei genauerem Hinsehen mit vielen Vorzeichen. Dabei kann es sich um körperliche Vorzeichen von Erschöpfung handeln wie Schlafstörungen, unterschiedlichste Schmerzen und andere körperliche Beschwerden wie unbegründetes Herz­rasen oder Schwitzen ohne körperliche Anstrengung und vieles mehr. Die Erholungsfähigkeit lässt nach, man erwacht morgens gerädert und sehnt sich am Montagmorgen bereits nach dem kommenden Freitag.

Die eigenen Gedanken kreisen häufig um Themen wie »Das schaffe ich nicht mehr« oder »Wie soll ich den Tag bloß überstehen?«. Zunehmend kann sich ein Überdruss ge­genüber Kollegen oder in sozialen Berufen gegenüber den Hilfe­suchenden entwickeln. Emotional geht der Schwung für die Aufgaben des Alltags verloren, schließlich auch für die Dinge, die man eigentlich gerne tut.

Man könnte die leidvolle Burn-out-Symptomatik als eine Krankheit des »Zuviel« beschreiben. Ein Ausweg liegt im Weniger. Die Analogie zu einem leer gefahrenen Tank beim Auto kann verdeutlichen, um was es geht: Man wundert sich zunächst, dass man schon wieder tanken muss und stellt dann bei genauerer Betrachtung fest, dass das erhöhte Tempo, das Vollgasfahren, den Tank logischerweise schneller zur Neige brachte. Jeder Autofahrer weiß, dass ein langsameres, umsichtiges, vorausschauendes Fahren spritsparender ist und damit die Reichweite erhöht.

Bei uns selbst verhält es sich durchaus ähnlich: Vollgasfahren erschöpft schneller! Nur sehen wir das in der Regel nicht so rasch und anschaulich wie durch die Tankanzeige beim Auto. Und doch: Die oben erwähnten Frühwarnzeichen könnten bei besserer Kenntnis helfen, rechtzeitig gegenzusteuern. Beim Auto leuchtet das unmittelbar ein, bei uns selbst anscheinend nicht. Ich behaupte, dass die meisten Menschen mit ihrem Auto pfleglicher umgehen als mit sich selbst. Und das, obwohl ein Auto viel leichter zu er­setzen ist.

Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Leistung in unserer Gesellschaft einen extrem hohen Stellenwert hat. Schon im Kindergarten beginnt für nicht wenige Eltern die Vorbereitung auf die spätere Karriere. Der Druck setzt sich in der Schule und dem Studium fort – mit spürbaren Folgen: einer Zunahme von Burn-out und anderen seelischen Erkrankungen in dieser frühen Lebensspanne. Das ist in doppelter Weise bedeutsam. Es beeinträchtigt die Entwicklung in jungen Jahren leidvoll und erhöht die Wahrscheinlichkeit für wiederholte seelische Krisen und Erkrankungen im weiteren Leben.

Der frühe Leistungsdruck spiegelt sich allerdings auch in einer einseitigen Priorisierung von sogenannten Kernkompetenzen wider, die immer weniger Zeit für die vermeintlich unbedeutenden musisch-künstlerischen und sportlichen Fächer lässt. Das gilt für die Schule und die Freizeit. Diese Schwerpunktsetzung ist fatal, weil sie einerseits durch das Wegfallen von Sport- und Bewegungsangeboten den Zivilisationskrankheiten schon früh die Türe öffnet, andererseits die Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten unseres Gehirns durch Einseitigkeit beschneidet. Denn es ist heute wissenschaftlich gut belegt, dass Bewegung und künstlerisch-musische Betätigung unserem Gehirn beim Reifen und Regenerieren helfen und somit das Lernen erleichtern.2 Und so kommt es zu dem verrückten Paradoxon, dass die einseitige Verlagerung der Unterrichtsinhalte auf Wissensvermittlung in den vermeintlichen Kernkompetenzen genau diesen Wissenszuwachs behindert.

Das »Lassen« durch ein bewusstes Weniger auf unterschiedlichen Ebenen wird zu einem wichtigen Ausweg aus der Krise. Zu ihm gehört auch das Nein-Sagen, ohne das ein Lassen nicht geht. Dass dies meist ein Ja zu mir selbst bedeutet, wird oft erst im Laufe eines inneren Prozesses deutlich, der nicht nur einfach ist. Dieses Ja zu mir selbst bedeutet einen Abschied von Perfektion und Selbstoptimierungszwang, unter dem viele Menschen zunehmend leiden. Im Vergleich mit anderen scheint immer etwas unzureichend und verbesserungswürdig. Hier liegt eine Triebfeder für die beschriebene Dynamik von schneller, höher, weiter, besser, erfolgreicher.

Die gegenwärtig an Fahrt gewinnende Klimadebatte sowie der extreme Ressourcenverbrauch der Menschheit machen auch global deutlich, dass wir, unsere Nachkommen, die Menschheit als Ganzes nur eine Chance haben werden zu überleben, wenn uns ein Weniger gelingt. Dass dies nicht mit einer miesepetrigen Stimmung einhergehen muss, sondern durchaus von Freude und Dankbarkeit geprägt sein kann, davon möchte ich in diesem Buch be­richten.

Darf’s auch ein bisschen weniger sein? Vielleicht werden Sie am Ende der Lektüre dieses Buches darauf mit Ja antworten, aus freien Stücken und mit einem guten Gefühl. Das wünsche ich Ihnen und uns als menschliche Gemeinschaft! Übrigens sind Sie längst nicht mehr alleine mit diesem Thema. Vielmehr entwickelt sich spätestens seit der weltweiten Bewegung von Fridays for Future eine neue Sichtweise auf ein eigentlich uraltes Erfahrungswissen. Aus der Angst, etwas zu verpassen und abgehängt zu werden und deswegen zu konsumieren und hinterherzujagen (FOMO = Fear of missing out), entwickelt sich mehr und mehr die Lust am Lassen (JOMO = Joy of missing out)! Lassen Sie uns dabei sein und gemeinsam neue Erfahrungen machen mit diesem lebendigen und lebensverlängernden Elixier!

Was wir gewinnen, wenn wir verzichten

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