Читать книгу "Darling Jane". Jane Austen – eine Biographie - Christian Grawe - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеJane Austens sechs Romane Verstand und Gefühl, Stolz und Vorurteil, Mansfield Park, Emma, Kloster Northanger und Überredung haben endlich auch in Deutschland eine breitere Leserschaft gefunden. Da steigt das Interesse, die Autorin hinter ihren Büchern zu finden, sich eine Vorstellung von ihrer Stellung in der Literaturgeschichte zu machen und die Gründe für ihre außerordentliche Beliebtheit zu erfahren.
In der englischsprachigen Welt sind ihre Bücher in unzähligen Leinen- und Taschenbuchausgaben mit und ohne Illustrationen verbreitet und fehlen in kaum einem Jahr im Abiturkanon. Sie haben als Filme und Fernsehserien – etwa die sechsteilige Folge nach Mansfield Park – ein weltweites Publikum gefunden. Jane Austens bekannteste Gestalten sind in England sprichwörtlich. Schon Ende des 19. Jahrhunderts nannte man in manchen Familien einen überschwenglichen Dankbrief nach dem überkandidelten Pfarrer in Stolz und Vorurteil einen »Collins«. Ständig werden ihre Romane von der Literaturwissenschaft neu beschrieben, gedeutet, verglichen. Jedes Jahr werden neue Doktorarbeiten über sie angefertigt. Jeder erhaltene Brief, den Jane Austen geschrieben, jedes Dokument, das sich auf sie und ihre Familie bezieht, ist veröffentlicht worden. Die Bibliographie über Jane Austen enthält allein für die Jahre 1952 bis 1972 über 800 Einträge. Jane Austen ist einer der am intensivsten erforschten Schriftsteller der englischen Literaturgeschichte und nach dem Verblassen von Walter Scotts Ruhm der einzige wirklich viel gelesene Autor vor der Viktorianischen Zeit. Sie ist konkurrenzlos der beliebteste Klassiker Großbritanniens.
Die Briefmarken von 1975
Aber nicht allein dies: Es gibt eine Jane-Austen-Gesellschaft. Zu Janes 200. Geburtstag 1975 erschien eine Serie Briefmarken in Großbritannien. Ihre drei Romanfragmente sind in den letzten zehn Jahren von modernen Autorinnen zu Ende gesponnen worden. 1984 ist Jane Austen in Barbara Ker Wilsons (leider allzu naivem) Buch Jane Austen in Australia sogar zur Romanheldin auf dem fünften Kontinent geworden. 1986 hat die englische Autorin Judith Terry den Roman Mansfield Park unter dem Titel Abigail’s Part; or Version and Diversion (Abigails Rolle; oder eine unterhaltsame Variante) aus der Perspektive eines Dienstmädchens im Haus von Sir Thomas Bertram neu erzählt. Es gibt Tassen mit Jane Austens Schattenriss und Postkarten mit ihrem Porträt. Das Haus in Chawton, wo sie gelebt und ihre Bücher geschrieben hat, das Haus in Winchester, wo sie gestorben ist, und die Kirche, wo sie begraben liegt, sind literarische Wallfahrtsorte.
Der englische Dichter Alfred Tennyson fuhr 1867 in das südenglische Seebad Lyme Regis, um die Stelle auf der Mole zu sehen, wo Louisa Musgrove in Jane Austens Überredung die Treppe hinunterfällt. William Allingham, der ihn begleitete und das Ereignis in seinem Tagebuch festhielt, las ihm an Ort und Stelle dann das entsprechende zwölfte Kapitel des Romans vor. 1870 berichtete James Edward Austen-Leigh, einer seiner Freunde benutze die Frage, ob jemand Jane Austen mag, als Test für die Einsichtsfähigkeit einer Person. 1926 veröffentlichte Rudyard Kipling, der heute allenfalls noch durch sein Dschungelbuch weiter bekannt ist, eine Kurzgeschichte mit dem Titel The Janeites (Die Janiten), in der englische Offiziere, die begeisterte Anhänger Jane Austens sind, im Ersten Weltkrieg an der französischen Front einen einfachen Soldaten zur Lektüre ihrer Romane veranlassen. Außer dem Soldaten, der die Geschichte im Rückblick erzählt und dem ihre Gestalten Modelle der Wirklichkeit geworden sind, werden sie alle im Krieg getötet. Seitdem sind die Begriffe »Janeites« und »Anti-Janeites« in England für Verehrer und Gegner Jane Austens eingebürgert. Die Erzählung ist nur ein Dokument für die besondere und persönliche Beziehung, die sich über das Literarische hinaus immer wieder gerade zwischen dieser Autorin und ihren Lesern herstellt. Jane Austen ist mehr als eine Klassikerin der englischen Literatur. Jane Austen ist eine Kultfigur.
In Deutschland war sie, soweit ihre Bücher überhaupt verfügbar waren, lange ein Geheimtip. Das hat sich geändert, seit ihre Romane – von 1977 bis 1984 – im Reclam Verlag zum erstenmal vollständig in deutscher Übersetzung erschienen sind. Der Verfasser der Biographie ist seit der zufälligen Lektüre der ersten Seite von Stolz und Vorurteil vor vierzig Jahren ein »Janeite«. Alle Zitate aus Jane Austens Romanen sind den Ausgaben im Reclam Taschenbuch entnommen; die Seitenzahl in Klammern verweist jeweils auf die entsprechende Stelle.
Jede Darstellung von Jane Austen steht vor der Schwierigkeit, dass das biographische Material keineswegs reichhaltig, ja für bestimmte Perioden ihres Lebens geradezu dürftig ist. Das hat mehrere Gründe. Der außerordentlichen Beliebtheit ihrer Bücher heute, ihrem überwältigenden Nachruhm, der sie selbst zweifellos sehr überrascht hätte, steht die Anonymität ihres Daseins als scharfer Kontrast gegenüber. Sie lebte zurückgezogen im Kreis ihrer Familie in der englischen Provinz und kannte keine einzige literarische Persönlichkeit ihrer Zeit. Ihre Bücher erschienen anonym. Nicht einmal ihre weitere Familie wusste, dass sie Schriftstellerin war. Sie ließ die Blätter, auf denen sie ihre Manuskripte schrieb, unter ein Löschblatt gleiten, wenn jemand das Zimmer betrat, und unternahm nichts gegen das Quietschen der Zimmertür, weil es sie rechtzeitig warnte. Eine ihrer Nichten nahm in ihrem Beisein einen ihrer Romane in einer Buchhandlung in die Hand und legte ihn mit einer abfälligen Bemerkung über den Titel wieder auf den Tisch zurück. Ihr ältester Neffe fiel aus allen Wolken, als er drei Jahre vor ihrem Tod erfuhr, dass sie die Romane geschrieben hatte, die er so bewunderte, und er machte ihr sein Kompliment in einem reizenden Scherzgedicht, in dem er seinen Schreck über die Enthüllung ihrer Autorschaft mit dem des Schweins unterm Fleischermesser vergleicht und hofft, der Prinzregent werde sie nun heiraten, falls seine Frau sterben sollte.
Gerade als sie berühmt zu werden begann und der Schleier ihrer Autorschaft sich lüftete, starb sie im Alter von nur 41 Jahren. Es gibt nur ein einziges authentisches Porträt von ihr – eine flüchtige Skizze, die ihre Schwester in Pastell entworfen hat und die nach Aussagen ihrer Verwandten nicht sehr treffend ist. Nach diesem Aquarell wurde dann 1870 der Kupferstich für James Edward Austen-Leighs Biographie seiner Tante (s.u.) im viktorianischen Geschmack angefertigt, die den Umschlag des vorliegenden Bandes schmückt.
Obwohl ihre sieben Geschwister sie zum Teil um Jahrzehnte überlebten, haben auch sie aus dem Leben Janes, deren Zurückhaltung sie kannten, aus Diskretion nichts veröffentlicht. Ja, ihre einzige Schwester hat in der Befürchtung, dass Persönliches doch an die Öffentlichkeit gelangen könnte, einen Teil ihrer Briefe ganz vernichtet und andere von Intimem, Unliebsamem und Indiskretem gereinigt, indem sie einzelne Zeilen mit der Schere daraus entfernte. Die Äußerungen Jane Austens gerade während persönlicher Krisen oder Zeiten besonderer seelischer Belastung sind daher unwiderruflich verloren. Nur der indiskreteste ihrer Brüder, Henry Austen, gab den beiden aus dem Nachlass herausgegebenen Romanen kurz nach dem Tod seiner Schwester eine biographische Notiz von mehreren Seiten bei, die zwar für die Öffentlichkeit stilisiert ist, aber doch aus unmittelbarer Nähe und intimer Kenntnis Jane Austens stammt. Henry war ihr Lieblingsbruder.
Die meisten Augenzeugen starben, ohne der Nachwelt ihr Wissen und ihre Eindrücke von Jane Austen zu hinterlassen. Erst als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Bücher immer beliebter wurden und ihr Ruhm sich immer weiter verbreitete, sammelten die nachfolgenden Generationen der Austens alles, was sich über Jane noch finden und erfahren ließ, und veröffentlichten es zwischen 1870 und 1913 in mehreren die Grundlage der Jane-Austen-Forschung bildenden Bänden. Sie wurden zwar nicht mehr von Familiendiskretion, aber dafür von viktorianischen Vorstellungen der Wohlanständigkeit geleitet. Manches wurde deshalb zurückhaltender behandelt, als dem heutigen Wahrheitsbedürfnis lieb ist, und so liegen das Leben der Schriftstellerin und ihre Ansichten über ihre Kunst zum Teil für immer im dunkeln. Dass sich um sie allerlei Mythen ranken, ist bei dieser Quellenlage nicht verwunderlich. Auf welches Material kann sich eine Biographie Jane Austens stützen?
(1) Überlebt haben in ihrer kleinen, ungewöhnlich gepflegten und leserlichen Handschrift 153 Briefe, von denen fast hundert an ihre Schwester gerichtet sind. Erst in den letzten drei Lebensjahren ist die Zahl der Adressaten größer und daher der Eindruck von Jane Austens Persönlichkeit weniger einseitig. Die Briefe wurden zum größten Teil in der Lebensbeschreibung Jane Austens von ihrem Neffen James Edward Austen-Leigh (A Memoir of Jane Austen, 1870), in der Briefausgabe ihres Großneffen Edward Lord Brabourne (1884) und in der Biographie ihrer beiden Seeoffiziers-Brüder durch die Nachkommen des einen von ihnen (1906) veröffentlicht. 1932 hat der Philologe R. W. Chapman alle erhaltenen Briefe in einer bis heute nicht überholten kommentierten Ausgabe herausgegeben.
Aber so dankbar man für diese erhaltenen Briefe sein muss, so wenig erschöpfend sind sie auch. Der erste Brief stammt von 1796, also aus Janes 21. Lebensjahr, so dass es aus ihrer Kindheit und Jugend keinerlei eigene Aussagen von ihr gibt. Zudem gibt es zwischen den brieflichen Äußerungen große zeitliche Lücken, einmal weil die beiden Schwestern den größeren Teil ihres Lebens zusammen verbrachten und daher häufig keine Veranlassung bestand, einander zu schreiben; zum anderen weil Cassandra offenbar für einige Lebensabschnitte die Briefe vernichtete. So fehlen etwa Briefe zwischen September 1796 und April 1798, Mai 1801 und September 1804, August 1805 und Januar 1807, Juli 1809 und April 1811, Juni 1811 und November 1812, und von 13 der insgesamt 21 Jahre sind nur ein, zwei oder drei Briefe überliefert. Die brieflichen Äußerungen Jane Austens erhellen also ihr Leben nicht gleichmäßig, sondern beleuchten daraus in Abständen nur einzelne Phasen
Obwohl diese Briefe für den Jane-Austen-Biographen außerordentlich reiches Material enthalten, sind manche Leser von ihnen enttäuscht, weil es sich dabei um Familienbriefe handelt und sie selten Themen außerhalb des häuslichen Lebensrahmens der Autorin berühren. Über die großen Begebenheiten der Zeit, über kulturelle Ereignisse, ihre Lektüre und Schriftstellerei spricht Jane Austen nur ganz gelegentlich. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens tauchen in den Briefen an ihren ältesten Neffen James Edward und ihre älteste Nichte Anna, die beide in jungen Jahren literarische Ambitionen hatten, und an den Bibliothekar des Prinzregenten Bemerkungen über das Romanschreiben und ihr Verständnis von Literatur auf. Was die Briefe trotz dieser Einschränkungen zur so erfreulichen Lektüre macht, sind die Menschlichkeit, die aus ihnen spricht, der Einblick in das englische Provinzleben um 1800 und der unverwechselbar heiter-ironische Jane-Austen-Ton.
(2) Die Manuskripte ihrer meisten Romane sind nicht erhalten; Entwürfe, Skizzen und Studien sind außer einem ausgeschiedenen Kapitel von Überredung nicht vorhanden. Wohl aber gibt es die Sammlung ihrer Jugendwerke, die sie selbst säuberlich in drei Hefte abgeschrieben und zum Teil datiert hat. Sie vermitteln einen höchst lebendigen Eindruck von der Entwicklung der Schriftstellerin Jane Austen, die ungefähr in ihrem zwölften Lebensjahr zu schreiben anfing. Diese frühen Versuche sind noch heute zum Teil wegen ihres Humors und parodistischen Geschicks ein Lesevergnügen.
(3) Die Bücher oder Aufzeichnungen ihrer Neffen und Nichten und deren Kinder und Enkel, die ab 1870 unter Verwendung von Familienbriefen und -dokumenten erschienen, haben die Kenntnis von Jane Austens Leben erheblich bereichert. Ihre Verfasser und Verfasserinnen, Nachkommen von dreien ihrer sieben Geschwister, kannten die Schriftstellerin oder doch einige ihrer Geschwister – Cassandra lebte bis 1845, ihr Bruder Francis sogar bis 1865 – noch persönlich oder waren jedenfalls mit den Familientraditionen vertraut. Das heute wichtigste dieser Werke aus dem Familienkreis ist Jane Austen. Her Life and Letters. A Family Record (1913, Jane Austen. Ihr Leben und ihr Werk. Eine Familienchronik) von William und Richard Arthur Austen-Leigh, Sohn und Enkel des ersten Biographen, James Edward Austen-Leigh, einem Sohn von Jane Austens Bruder James. Das Buch verarbeitet die früheren Veröffentlichungen und stellt daher, da später kaum neue Quellen zutage gekommen sind, die an glaubwürdigen Informationen und an Fülle des Materials reichhaltigste Lebensbeschreibung Jane Austens dar. Sie wird allerdings von dem erwähnten früheren Werk A Memoir of Jane Austen. By her Nephew (1870, Erinnerungen an Jane Austen. Von ihrem Neffen) an schriftstellerischem Geschick und Atmosphäre weit übertroffen.
R. W. Chapman, der Jane Austens Werke und Briefe zwischen 1923 und 1954 in der heute autoritativen Ausgabe herausgegeben hat, hat in seinem Buch Jane Austen. Facts and Problems (1948, Jane Austen. Tatsachen und Probleme) auch einen kompetenten Abriss der Probleme der Jane-Austen-Forschung gegeben. Auf Englisch ist zudem eine ganze Reihe von neueren Biographien Jane Austens verfügbar. All diesen Büchern verdankt der deutsche Biograph Fakten und Anregungen.