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Flucht § 213

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Eisenach / Thüringen 19. Mai 1977

„Hey Bruder, trink aus, dann gehen wir.“

Gestern Abend schenkte ich mit diesen Worten meinem jüngeren Bruder Maximilian ein 50-Liter Fäßchen Wartburg-Bier zu seinem 18. Geburtstag.

Er wußte sofort, was gemeint war.

Und bis zum Morgen hatten er und seine Kumpels es auf seiner Geburtstagsfete geleert.

Zu zweit fliehen galt bereits als Gruppe, und das bedeutet, eine deutlich höhere Haftstrafe zu bekommen. Da man mindestens zwei Drittel absitzen mußte, bevor man einen der Plätze in den Geisterbussen ins Aufnahmelager Gießen bekam, waren wir besonders darauf bedacht, nicht als Gruppe zu gelten.

Wir vereinbarten: jeder geht für sich allein! und wir wissen nichts (absolut NICHTS!) von der Flucht des anderen. Weiterhin werden wir auf unterschiedlichen Wegen versuchen, zur westdeutschen Botschaft in Belgrad durchzukommen.

Diese Botschaft, als einzige im Ostblock, war berechtigt, ostdeutschen Flüchtlingen einen westdeutschen Paß auszustellen.

Das Gelingen der Flucht, das heißt in Belgrad diese Botschaft zu erreichen und von da an keine Angst mehr vor Verhaftung haben zu müssen. Geschützt durch den neuen Paß, wie ein westdeutscher Reisender einfach über Wien nach München weiterzureisen, wagte ich mir nicht vorzustellen.

Dagegen sperrte sich meine Phantasie.

Ich schätzte, meine Chance es zu schaffen lag bei 5%, dagegen standen 95%, gefaßt zu werden und dann den schweren Weg über Knast und den Häftlingsfreikauf gehen zu müssen, bei dem man obendrein Gefahr lief, aus Stasi-Rache oder sonstigen Gründen, aus dem Knast zurück nach Ostdeutschland entlassen zu werden.

Da uns das klar war, hatten wir während eines unserer deutsch-deutschen Familientreffen in Prag, zu unserer Absicherung und um schon früh auf die Freikaufslisten zu kommen, bereits die Übernahme unserer Verteidigung durch Dr. h.c. Wolfgang Vogel, an dessen Westberliner Büro, in Auftrag gegeben.

Zwei leicht zu überwindende Grenzen: die in die ČSSR und von dort weiter nach Ungarn. Und dann die schwierige Grenze bei Szegedin durch die scharf bewachte und mit Schwermetallen verseuchte Tisa, nach Jugoslawien. Dort zum Schluß noch der Weg durchs Land nach Belgrad, auf dem man auch nicht erwischt werden durfte, da auch die Jugos Ostdeutsche nach Ost-Berlin auslieferten.

Wir hatten keine Ahnung, wo in Belgrad die westdeutsche Botschaft war. Aber so genau hatten wir das auch nicht geplant. Wir versuchten erst einmal, nur bis Budapest zu denken.

Wer bis dorthin durchkommen würde, hinterlegt für den Bruder einen Zettel in der uns sehr gut bekannten Pension in der Lacymanios Utca 18. Und nicht vergessen: Karte schreiben an Friedrich-Ernst nach Westdeutschland, damit es über diesen Umweg eine verschlüsselte Zwischenmeldung an die Eltern gibt.

Dann sehen wir weiter.

Mein Zimmer hatte ich aufgeräumt, meine Schätze (unsere Helden) an Freunde verteilt: George Orwell, Alexander Soltschenizyn, Reiner Kunze, Albert Schweitzer uva.. Denn dort, wo ich hinging, konnte man das im Laden nachkaufen. Ich sagte mir das, konnte es mir aber nicht wirklich vorstellen.

Mein Heiligtum, die Schreibmaschine vom Großvater, auf der nach dem Krieg der gesamte Schriftverkehr zum Neuanfang der Pfarrer Autoversicherung Bruderhilfe geschrieben worden war (nachdem meine Großmutter die Mitgliederkartei in Schuhkartons von Ost- nach Westdeutschland geschmuggelt und dadurch gerettet hatte), übergab ich meinen Eltern mit der Bitte, sie aufzubewahren.

Soweit die Vorbereitungen.

18 Monate Armee – geschafft!

Die Wartezeit auf Maximilians 18. Geburtstag – geschafft!

Das Leben fing jetzt endlich an.

Es war eine lange Quälerei gewesen, bis ich an diesen Punkt kam:

Ursprünglich wollte ich nach meiner Lehrzeit im VEB Automobilwerk Eisenach mit meinem älteren Bruder gehen.

Er nach seinem Abitur, ich nach der Lehrzeit, wurden wir zeitgleich gemustert, und wir erwarteten beide unmittelbar die Einberufung zur Armee.

Wir hatten vereinbart, wir hauen vorher ab, er nimmt mich mit – er ruft mich an, wir gehen zusammen.

Ich war reisefertig – bereits in Wartestellung. Abmarschbereit!

Er wollte nur noch kurz in Ost-Berlin Freunde besuchen.

Wie hatte ich damals gewartet, im vollen, tiefen Vertrauen, daß er endlich anrief, aber er rief nicht mehr an.

Ich verstand nicht, warum er sich nicht meldete. Unfähig, so ohne ihn loszugehen, allein loszugehen, blieb ich erstarrt zurück.

Er hatte mir nicht einmal Bescheid gesagt, daß er lieber allein gehen wollte.

Er war einfach so gegangen.

Er war doch mein großer Bruder?!

In dieses ohnmächtige Verharren kam, wie befürchtet, der Einberufungsbefehl.

Würde ich jetzt noch zur Flucht aufbrechen, wäre es Desertion. Ungleich härter bestraft und ohne Chance, gen Westen entlassen zu werden.

Ich wurde eingezogen: 18 Monate zur Nationalen Volksarmee NVA – Standort: Eggesin am Stettiner Haff.

Stettiner Haff: das war ein Sandmeer, ein Kiefernmeer und dann gar nichts mehr …

In den ersten Wochen meiner Dienstzeit die Nachricht meiner Eltern: keine Lebenszeichen von ihm. Vier Wochen später die Nachricht: Seine Flucht war gescheitert, die Stasi hatte ihn. Vier Monate später die Nachricht: er war zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Über ihn, meinen großen Bruder, wußte ich damals noch nicht, daß er zu einem niemals fähig wäre: Verantwortung zu übernehmen.

Wegen meiner häufigen Rekonvaleszenzen (ich hatte 2 OPs im Lazarett Ückermünde, bei denen ich Fenster in meine Nasennebenhöhlen bekam), wurde ich oft im Innendienst eingesetzt.

Ich hatte wieder einen der 24-Stunden Dienste „GvD“ („Gefreiter vom Dienst“ – obwohl ich nur Soldat war), saß in der Telephonzentrale. Ich war schon im letzten Drittel meiner Armeezeit, war schon EK, es waren sogar schon die letzten 150 Tage, an denen wir Entlassungskandidaten pro Tag einen Zentimeter an unserem Maßband abschneiden konnten und uns so an dem immer kürzer werdenden Band erfreuten. Die Schnipsel wurden gesammelt und am Entlassungstag wie Konfetti vor dem Kasernentor verstreut.

Bisher hatte meine Mutter mich nie hier angerufen. Umso überraschter war ich, als ich ihre Stimme hörte. Sie teilte mir durch die Blume mit, daß mein großer Bruder gestern in Gießen im Notaufnahmelager angekommen war.

Ich konnte mich daraufhin nicht mehr bewegen, auch nicht freuen, nicht toben oder schreien … nur zittern – schweigendes hilfloses bebendes tränenloses Zittern.

Es wollte nicht aufhören. Meine Zähne schlugen aufeinander. Jetzt erschien auch noch der Leutnant.

Er sah aus, als wüßte er, was ich gerade erfahren hatte. Er stellte keine Frage und ließ mich von einem Stubenkameraden ablösen.

Zum zweiten Mal in meinem Leben bekam ich das ohnmächtige Gefühl, daß sich ein Eisenring eng um meinem Brustkorb legt.

Unter dem wütenden Schmerz dieser Erfahrung entschloß ich mich, auf jeden Fall mit meiner Flucht zu warten bis mein kleiner Bruder 18 Jahre alt geworden war, um ihn dann unter meiner Obhut mitzunehmen.

Ihm sollte nicht widerfahren, was mir passiert war.

Das ist jetzt alles geschafft und vorüber. Alles Schnee von Gestern!

Aufregung – irre Vorfreude – keinerlei Angst.

Der Abschied von den Eltern nur kurz. Ich nahm beide in den Arm, dann wich ich dem drohenden Gefühlsdusel aus und schaute schnell zu meinem kleinen Bruder ins Zimmer. Der lag noch im Bett, weil er von der Fete einen Kater hatte.

Noch ganz verschlafen sagte er: „Ich breche erst heute Nachmittag auf, bin noch total müde.“ Dann drückten wir uns ganz fest die Hand, wünschten uns mit einem Toitoitoi viel Glück, und ich machte mich auf den Weg, meinen Zug zu erreichen.

Um rechtzeitig am Zug zu sein, war ich viel zu früh dran, aber ich wollte los, um den ganzen Weg zum Bahnhof in aller Ruhe, extra langsam gehen zu können, um mir alles noch einmal bewußt anzusehen, einzuprägen; denn ich wußte, es ist ein Abschied für immer.

Davor hatte ich ein wenig Angst gehabt, ich befürchtete, es würde sehr sentimental werden. Aber: Ehrensteig, Geschwister-Scholl Schule, Katharinenstraße, am Schwarzen Brunnen vorbei zum Markt. Durch die Karlsstraße zum Platz der Deutsch-Sowjetischen- Freundschaft DSF, der eigentlich Karlsplatz hieß und von uns auch nur so genannt wurde, zum Bahnhof – ich blieb völlig unberührt und ohne Wehmut.

Tschüß Heimatstadt!

Jetzt stehe ich endlich hier, auf dem Bahnsteig, und das ist der Moment, den ich nie vergessen will!

Ich atme langsam, spüre mein Blut in den Schläfen pochen.

Dann sauge ich den Moment richtig in mich auf und präge mir das „JETZT-HIER-STEHEN“ für immer ein.

Dabei verändert sich mein Gefühl für diese Stadt.

Eisenach ist nicht mehr mein Zuhause, meine Heimat. Ich bin gegangen – noch nicht weg, doch schon ein Fremder.

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges.

Um keinen Verdacht zu erregen, habe ich mir erst eine Fahrkarte nur bis Erfurt gekauft und nehme besser den Personenzug.

Die kleine Reisetasche hängt über meiner Schulter – nur kein großes Gepäck, auch das könnte auffallen.

Da sehe ich meinen Vater im langen wehenden Mantel die Treppe zum Bahnsteig emporhetzen. Es ist doch alles gesagt worden. Wir hatten uns schon verabschiedet.

Was will er noch?

Er kommt auf mich zu, umarmt mich heftig, verlangt, daß ich ihm noch einmal verspreche, nicht auf die Minenfelder zuzulaufen.

Dann steckt er mir DM 70,– zu. „Für alle Fälle – mehr habe ich leider nicht. Im Ostblock mit Ostgeld, da kommst du nicht weit.“

Im Zug setze ich mich ans Fenster. Der typische Geruch in den Waggons löst Fernweh aus. Ich freue mich über jede Haltestelle, die mich vorwärts bringt. Schon kommt Gotha, danach Erfurt.

Ohne Lüge leben

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