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Erfurt

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In Erfurt laufe ich durch die Altstadt. Bin vorsichtig, achte darauf, ob mir jemand folgt.

Zwei Stunden später fahre ich, nun mit einem D-Zug, weiter in Richtung Dresden.

Der Zug hält in Weimar. Gudrun lebt hier.

Meine Gedanken schweifen weit zurück zu ihr.

Wir hatten eine Liebe ohnegleichen. Groß, mächtig, unvergleichbar, einmalig.

Dann kam meine Armeezeit.

Und während meiner Grundausbildungszeit schrieb sie mir einen Brief aus dem Krankenhaus. Darin stand, daß es ihr sehr schlecht gehe, daß sie habe sterben wollen, daß das nichts mit mir zu tun habe und daß wir uns nicht mehr wiedersehen dürfen.

Ich lief in der Kaserne fast Amok und konnte doch nichts machen. Damals fühlte ich das erste Mal, wie sich ein Eisenring um meinen Brustkorb schloß.

Bis vor Kurzem hatte ich mich daran gehalten, ihren Wunsch geachtet, dann aber mußte ich zu ihr hinfahren.

Ich hätte nicht für immer fortgehen können, ohne sie wenigstens noch ein einziges Mal wiedergesehen zu haben.

Vor vier Wochen war ich also noch einmal nach Weimar gefahren, den vertrauten Weg vom Bahnhof zur Thomas-Müntzer-Straße gelaufen.

Unverändert, der große schwarze schmiedeeiserne Gartenzaun, die ausgetretenen Steinstufen. Dann stand ich vor der riesigen Wohnungstür.

Mir war mulmig im Magen und ich war gespannt, was mich erwarten würde.

Ich klingelte, sie öffnete und schaute überhaupt nicht erstaunt. Aus ihren Augen leuchtete mir unsere Vertrautheit und Liebe entgegen.

Sie trat auf mich zu, nahm meine Hände: „Du willst dich verabschieden. Du gehst?“

Ich konnte nur „Ja“ brummen.

Wir standen in der Tür und küßten uns lange und sehr zärtlich.

In Zeitlupe – immer und immer wieder, verabschiedeten sich unsere Lippen, Augen und Hände voneinander.

Schließlich löste sie sich von mir. „Schick mir eine Karte, wenn du angekommen bist!“

Sie schloß die Tür.

Auf der Heimfahrt nach Eisenach war mir kotzelend.

Der Schaffner pfeift – die Waggontüren schließen – mein Zug fährt weiter.

Weimar Ade – Thüringen Ade.

In Dresden wieder aussteigen,

wieder Gang durch die Altstadt,

wieder auf Verfolger achten.

Weiter geht es: auch von Dresden nach Prag mit dem Zug.

Vor mir liegt die 1. Grenze.

Diese Grenze ist noch ein Kinderspiel. Nach Prag kann ich mit meinem Personalausweis reisen, brauche keine Zusatzstempel, wie für Ungarn.

Im Zug suche ich mir günstige Sitznachbarn und finde eine Reisegruppe Gleichaltriger, manche im blauen FDJ-Hemd. Ich setze mich mitten unter sie.

Wir nähern uns der Grenze. Mir wird bang und mulmig im Magen. Grenzort Aussig (Ústi nad Labem). Dann die Grenzkontrolle.

Die Grenzer kontrollieren mich nur flüchtig.

Sie glauben, ich gehöre zu den Blauhemden der FDJ-Reisegruppe.

Nach der Grenze überkommen mich riesige Glücksgefühle. Es ging so leicht.

Sachsen Ade.

In mir keimt die Hoffnung auf, es wäre zu schaffen, es könnte gelingen.

Jetzt sehe ich mich zum ersten Mal, auch ohne Gefängnisaufenthalt, in München ankommen.

Schlafen kann ich nicht, starre in die dunkle Nacht.

Böhmen.

Mit beschwingten Gefühlen komme ich frühmorgens in Prag an. Es ist 5:00 Uhr, als ich aus dem Bahnhof herauskomme und in Richtung Wenzelsplatz gehe.

Um einen möglicherweise mich doch noch verfolgenden Stasi-Schatten abzuschütteln, laufe ich durch die Arkaden und Passagen, schlage Haken, ziehe große Bögen zurück auf meine Spur, um zu prüfen, ob er mir noch folgt und falls ja, um ihn endgültig loszuwerden.

Als ich nach vielem Zickzack absolut sicher bin, fühle ich mich erleichtert und auch ein wenig stolz.

Am Wenzelsplatz kommt mir plötzlich Jan Palach in den Sinn. Am 16. Januar 1969 hatte er sich hier selbst angezündete.

Was wäre passiert, hätte es in Eisenach einen Volksaufstand gegeben. Mit meiner Erziehung hätte ich wohl ähnlich gehandelt.

Wir sind Brüder im Geiste. Der Gedanke erschreckt mich, denn dann wäre ich heute tot.

An einem schon geöffneten Kiosk trinke ich einen Kaffee und esse dazu ein Stück semmelartiges Gebäck.

Dabei stelle ich mir vor: hier auf dem Wenzelsplatz, Prager Frühling … der Platz voller Menschen, dazwischen die russischen Panzer … wie die Menschen Angst, Wut, Mut und alles zugleich haben …

… und denke sofort auch immer an Reiner Kunze. Seine „Die Wunderbaren Jahre“ waren uns fast heilig und gingen im Freundeskreis von Hand zu Hand.

Vater hat uns Kinder zweimal nachts geweckt und zum Fernsehen geholt. Das eine Mal war es die Mondlandung, das andere Mal, der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag (mit dabei deutsche Soldaten der NVA) zur Niederschlagung des Prager Frühlings.

Bin schon fast 24 Stunden unterwegs.

Übernächtigt, aufgekratzt fühle ich, daß ich ich bin.

Es geht mir sehr gut. Das macht mich unheimlich stark!

Bahnfahrkarten sind teuer, deswegen entschließe ich mich, die Reise per Anhalter fortzusetzen.

Besser Geld sparen, wer weiß …

Mit der Straßenbahn fahre ich zum Stadtrand und finde dort an einer Autobahnauffahrt einen guten Standplatz zum Trampen in Richtung Brünn.

Schon nach kurzer Zeit hält ein blauer 750ger Mercedes LKW und nimmt mich mit. Der Fahrer, ein alter Mann, erzählt in gebrochenem Deutsch, daß er aus West-Berlin unterwegs in die Türkei sei.

Sein Laster hat ovale weiße Kennzeichen. Auf der Ladefläche liegt gebrauchter Hausrat.

Die Autobahn ist noch im Bau und die Strecke deshalb häufig von schmalen, alten Landstraßenabschnitten unterbrochen.

Ich schlafe ein wenig. Der Motor zieht nicht richtig. An Steigungen werden wir jedesmal sehr langsam. Schließlich bleiben wir ganz stehen.

Ich kenne das. Da ist entweder ein Leck in der Dieselleitung, oder der Dieselfilter im Sichtglöckchen ist verdreckt. Der alte Mann ist ratlos. Ich sage ihm, daß ich weiß was los ist. Als ich nach meiner Armeezeit auf Maximilians 18. Geburtstag wartete, war ich lange genug als Kieskutscher mit einem alten W50-Kipper, auf den Baustellen rund um Erfurt für den VEB Kraftverkehr Eisenach unterwegs gewesen. Da hatten wir ständig diese Pannen mit verdrecktem Diesel und verstopften Filtern. Ich mache mich an die Arbeit. Unter dem Beifahrersitz finde ich die notwendigen Schraubenschlüssel.

Für mich ist der Westen so unvorstellbar fern, daß ich mir nicht wirklich vorstellen kann, daß die Wiesen dort auch grün sind.

Alles ist dort bestimmt ganz anders.

Jetzt bin ich richtig stolz, habe mit meinen Kenntnissen sogar einen westdeutschen LKW reparieren können.

Ein gutes Gefühl.

Es geht weiter.

Der Diesel hat wieder volle Leistung und zieht gut durch. Der alte Mann ist überglücklich. Da er meine Kenntnisse im Umgang mit LKWs sieht, ergibt es sich, daß ich weiterfahre, Er gönnt sich auf dem Beifahrersitz eine Pause.

Zum Unterhalten ist es zu laut, auch spricht der Mann zuwenig Deutsch und ich kein Türkisch.

So sitzen wir einfach nebeneinander.

Ich fahre. Der alte Mann, der seit West-Berlin durchgefahren ist, schläft dankbar.

Ich genieße das Fahren durch die Nacht. Meine Hände riechen nach Diesel. Das stört mich nicht. Ganz im Gegenteil, es gibt mir so etwas wie Normalität in der doch außerordentlichen Situation meiner Flucht.

Der Motor brummt jetzt gleichmäßig und angenehm ruhig; und ist zudem deutlich leiser als seinerzeit „mein“ W50.

Wir verlassen Böhmen.

Ohne Lüge leben

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