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Mähren

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Kurz vor Brünn (Brno) der Abzweig nach Preßburg (Bratislava). Hier steige ich aus.

An dieser Kreuzung trennt sich nicht nur mein Weg von dem des alten Türken, sondern auch mein Fluchtweg von dem meines kleinen Bruders.

Wir hatten vereinbart, daß er via Preßburg und ich via Košice, nahe der sowjetischen Grenze, versuchen werden, nach Ungarn, nach Budapest durchzukommen.

Bis Brünn sind es nur noch ein paar Kilometer.

Nach erneut nur kurzer Wartezeit nimmt mich ein kleiner Lieferwagen mit in die Stadt.

Brünn

Über Brünn weiß ich nichts. Mir fallen nur die Motorradrennen ein, von denen uns unser Eisenacher Nachbar vom Ehrensteig immer erzählt hat, er hieß Alfred S. war Europameister im Seitenwagenrennen und fuhr das Gespann zusammen mit seiner Frau.

Da ab Brünn die Autobahn Richtung Osten auch noch nicht fertiggestellt ist, entscheide ich mich erneut für den Zug.

Der Bahnhof, ein heruntergekommenes Gebäude mit gelber Fassade. Ich löse eine Fahrkarte nach Košice.

Ein Zug geht in 2 Stunden.

Müdigkeit überkommt mich und Hunger. Auf dem Bahnhofsvorplatz finde ich ein einfaches Restaurant.

Am Nachbartisch werden gerade Böhmische Knödel mit Fleisch serviert.

Das gönne ich mir auch. Winke dem Kellner und bestelle mir Knödel mit Kraut und dazu ein Bier.

Mit dem ersten Schluck durchströmt mich, ähnlich einer Narkose, eine dunkle warme Welle und macht meine Muskeln wunderbar schwer.

Ich lehne mich zurück, genieße es zu sitzen und nicht von meiner eigenen Unruhe getrieben zu werden.

Noch ist alles möglich.

Noch bin ich auf dem Weg.

Noch haben sie mich nicht.

Brünn hat viele Sehenswürdigkeiten, doch auf einen Stadtrundgang, in der mir noch verbleibenden Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, habe ich keine Lust. Nehme lieber erst noch einen Kaffee und bummele dann etwas durch das Viertel.

An einem Kiosk kaufe ich eine Landkarte von Mähren. Meine Karte der ČSSR ist eine reine Straßenkarte und zeigt nicht die für mich wichtigen Details.

Im Zug suche ich mir ein leeres Abteil. Ich finde eines, bei dem man sogar die Sitze in Liegesitze verwandeln kann. Da ich allein bin, mache ich es mir bequem und ziehe unten an der Schlaufe des Sitzpolsters, bis ich die Sitze in der ersten Rasterung habe. So kann ich gut sitzen, die Füße hochlegen und trotzdem aus dem Fenster schauen.

Ich nehme meine neue Karte heraus und suche in der Gegend um Košice nach einer guten Stelle, an der ich nach Ungarn hinüber könnte. Ich markiere mir auf der Karte die Orte: Sečovce, Trebišov, und direkt an der Grenze, Čerhov. Von Košice sind das noch ca. 30 Km.

Darüber bin ich wohl eingeschlafen.

Ich erwache davon, daß sich drei junge Männer in mein Abteil drängen. Sie unterhalten sich lautstark auf Tschechisch. Ich verstehe kein Wort. Bin abweisend und versuche weiterzuschlafen. Ich fühle mich unbehaglich, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Es ist nicht normal, daß ein junger Mann wie ich, weitab aller Touristenwege, allein unterwegs ist.

Sie sprechen mich an: „Německý“ antworte ich. Das ist fast schon mein ganzer tschechischer Wortschatz und auch das nur, weil es dem russischen Wort für „deutsch“ gleicht.

„Wie heißt du?“ fragt mich daraufhin einer auf Deutsch.

„Theodor“ antworte ich.

„Woher kommst du?“

„Německu“

„Ost oder West?“

Wir konnten einen Westdeutschen von einem Ostdeutschen auf 100 Meter gegen den Wind unterscheiden.

Es war einfach zu deutlich zu erkennen. Nicht nur unsere blassere Haut wegen der schlechteren Ernährung, nein, auch unsere Körperhaltung war ein Merkmal.

Ostdeutsche waren immer etwas unsicherer, vorsichtiger.

Auch wenn ich zu Weihnachten von Oma aus München die heiß ersehnte Levis 501 bekam. Ich war und blieb erkennbar ein Ostdeutscher.

Als ich im Staatsbürgerkundeunterricht unsere Lehrerin Frau Held fragte, warum bei einem Schutzwall vor äußeren Feinden die Minen innen liegen, hat sie nur wieder von vorne angefangen, mit ihren Fingerknöcheln auf dem Lehrertisch den Rhythmus vorgebend, uns die Parolen einzutrichtern.

„Der imperialistische Klassenfeind lauert überall!“, und dabei fixierte sie mich genau.

Diese Art der Entwürdigung, Lügen wiederholen zu müssen, das traf mich nicht. Mein kirchliches Elternhaus schützte mich vor diesem Kniefall, der von vielen meiner Klassenkameraden nicht mal bemerkt wurde.

Ich durfte in der Schule nicht frei reden, aber zu Hause war eine Insel, auf der ich mit Freunden und der Familie frei denken und offen reden konnte.

Wenn Sonntags Vater von der Kanzel offene Worte sprach und in der letzten Reihe der Stasi-Typ rote Ohren bekam, waren wir stolz, nicht zu kuschen, waren wir stolz, anders zu sein – und freier zu sein als unsere Kameraden.

Welch ein Irrtum – welcher Hochmut!

Denn ich war auch nur einer von denen mit Manko und Stigma. Einer von denen, die innerhalb des Stacheldrahts bleiben müssen.

Nicht die Parolen, sondern daß ich vor dem Stacheldraht stehe und ihn als unüberwindbare Grenze meiner Welt hinnehmen muß, sind der wahre Grund für Manko und Stigma. Die mir erlaubte Welt ist am Stacheldraht zu Ende.

Punktum – basta – und das bis ans unvorstellbare Ende der Zeit.

Ich darf da nicht durch. STOP. ICH NICHT!

Oft stand ich oben auf dem Turm der Wartburg, schaute hinüber nach Hessen und bekam so ein häßliches Würgen im Hals. WARUM?

Ich bin ein Mensch 2. Klasse – trage ein Brandzeichen auf meiner Seele – bin nur ein Mensch 2. Klasse, eingesperrt.

„Westdeutschland“ antworte ich fest und spüre, wie ich rot werde. Gebe mir innerlich einen Ruck, selbstbewußt zu wirken. Meine Levis und dazu die Jeansjacke sind mein Kostüm. Unauffällig schiebe ich meine heruntergelatschten Schuhe unter den Sitz.

„Wo?“

„Erlangen, Student“

Damit lassen sie wieder von mir ab. Ich versuche erneut zu schlafen. Noch drei Stunden bis Košice.

Bitter stößt mir auf, daß mich meine Körpersprache verraten könnte.

Ohne Lüge leben

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