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1536 Paracelsus Die große Wundartzney Streitbar für eine neue Medizin

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Als Medizinrebell zieht Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, quer durch Europa – von Lissabon bis Litauen, von Irland bis Italien. Streitbar fordert er die medizinischen Dogmen seiner Zeit heraus. Sein einziges zu Lebzeiten erschienenes Hauptwerk, Die große Wundartzney, gilt in erster Linie der Versorgung äußerer Wunden, doch baut der Autor auch hier auf seinen Gegenentwurf einer »chemischen Arznei«, für den er noch heute von Vertretern der Schulmedizin und Pharmakologie ebenso gefeiert wird, wie ihn Verfechter der Naturheilkunde als Vorbild nehmen.

Die große Wundartzney, 1536 in Ulm gedruckt, ist die einzige größere medizinische Schrift des bedeutenden Reformators der Medizin, die zu dessen Lebzeiten erschien. Ausgehend von seinen Erfahrungen als Feldchirurg kritisiert er die damals gebräuchliche Versorgung von Wunden durch Moose oder Dung, welche zu Entzündungen führen würde. Er propagiert, die Wunde möglichst sauber zu halten und den natürlichen Heilungsprozess des Körpers nicht zu behindern. Damit erweist sich Paracelsus als ein Vorläufer der im 19. Jahrhundert begründeten Antisepsis, der Lehre von der Bekämpfung von Keimen.

Zeit seines Lebens kämpft Paracelsus gegen medizinische Schulweisheiten, vor allem die der gelehrten Doktoren. Diese halten an der Vier-Säfte-Lehre fest, wie sie der griechische Arzt Galen und der persische Gelehrte Avicenna (ibn Sīnā) entwickelten. Danach sind Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim zurückzuführen, mit denen die vier Elemente (Luft, Feuer, Erde, Wasser) und vier Temperamente (sanguinisch, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch) korrespondieren. Aus diesem System leiten sich alle Diagnosen und Therapien ab.

In der Widmung zur Wundartzney an Kaiser Ferdinand I. spart Paracelsus nicht mit Kritik: »Allergnädigster Herr, der Haufe ist groß, der sich wider mich legt, klein aber ist ihr Verstand und ihre Kunst […]. Ich setze meinen Grund, den ich habe und aus dem ich schreibe, auf vier Säulen, Philosophie, Astronomie, Chemie und die Tugend.« Damit umreißt Paracelsus die Grundgedanken seiner Lehren. Die Verankerung in Philosophie und Astronomie bringt ihn zur Erkenntnis, dass der Mensch nur vom Makrokosmos aus erfasst werden könne. Medizin muss in Gotteserkenntnis ebenso gründen wie in Naturerkenntnis.

Paracelsus deutet den menschlichen Körper als chemisches System, das mit Geist und Seele in Wechselwirkung steht und dessen drei Grundsubstanzen Schwefel, Quecksilber und Salz sind. Krankheiten beeinträchtigen deren Gleichgewicht und können »chemisch« kuriert werden. Aus pflanzlichen und mineralischen Substanzen fertigt er Destillate, die die chemische Balance wiederherstellen sollen. Zwar erscheint Paracelsus in manchem kaum weniger dogmatisch als seine Widersacher, doch gründen seine Lehren in weit stärkerem Maße auf Erfahrung und Empirie. In der Wundartzney bekennt er, er habe nicht allein »bei den Doctoren« gelernt, »sondern auch bei den Scherern, Badern, gelehrten Arzt-Weibern, Schwarzkünstlern«.

Von vielen verehrt, wurde Paracelsus vom Establishment als Scharlatan verfemt – ein Grund für sein unstetes Wanderleben. In ärmlichen Verhältnissen 1493 bei Einsiedeln (Schweiz) geboren, zog Theophrastus Bombastus von Hohenheim nach dem Tod der Mutter 1502 mit dem Vater nach Villach (Kärnten). Vom Vater lernte er Anfänge der Medizin und der Scheidekunst (Chemie). 1510 erlangte er in Wien das Bakkalaureat, 1516 in Ferrara wohl den Doktorgrad. Anschließend zog Theophrastus als Wundarzt durch ganz Europa. Sesshaft wurde er kaum. Seine einzige feste Stellung als Stadtarzt von Basel (wo er mit Erasmus von Rotterdam bekannt wurde) musste er nach einem Jahr aufgeben; zu sehr störten sich Fakultät und Obrigkeit an seinen Vorlesungen, die Predigten glichen und die er für das einfache Volk öffnete. Anschließend zog Paracelsus erneut durch die Lande. Versuche, seine Schriften zu veröffentlichen, scheiterten meist am Widerstand der Medizinfakultäten. 1541 nach Salzburg berufen, starb er dort noch im selben Jahr. Um seinen Tod ranken sich Legenden.

Dass Paracelsus aneckte, dürfte auch an seinem Selbstbewusstsein gelegen haben (nach einer Lesart soll sein selbst gewählter Name bedeuten, er stehe über – para – dem großen antiken Medizinschriftsteller Celsus) – und an seiner Kampflust. Die Schmähungen gegen seine Widersacher sind selbst für das 15. Jahrhundert derb. Dass er bewusst auf Deutsch schrieb (Uneinigkeit besteht, ob die praktizierenden Wundärzte oder Laien sein Zielpublikum waren), trug ihm schon zu Lebzeiten den Beinamen »Luther der Medizin« ein. Hierzu passte auch, dass er – wie Luther 1520 die Bannandrohungsbulle Leos X. – in Basel öffentlich die Werke Galens und Avicennas verbrannte.

»Bei meinen Zeiten werd ich das Fabelwerk nit umstoßen können«, schreibt der Rebell in der Wundartzney. Tatsächlich erlangt er erst nach seinem Tod legendären Status; nach und nach beginnt seine Medizin sich durchzusetzen. Heute bekennen sich viele zu ihm: Der Deutsche Ärztebund verleiht seit 1952 die Paracelsus-Medaille, ihr Namensgeber gilt als Vorläufer der Antisepsis, der Toxikologie, der Ernährungskunde und der Psychosomatik. Zugleich wird er als Urvater der Homöopathie und der Naturheilkunde gesehen. Auch moderne Mystiker berufen sich auf ihn. Das Werk Paracelsus’ hat eben viele Facetten. Zum einen wegen einer – für die Frühe Neuzeit charakteristischen – Mischung aus präziser Naturbeobachtung und Esoterischem wie Hermetik (Geheim- und Offenbarungslehre), Alchemie, Astrologie und Magie; zum anderen, weil dem Feuerkopf der Kampf für seine Überzeugungen über die Kohärenz seines Werkes ging. Seiner Bedeutung für die Geschichte der Medizin, wie in der Wundartzney dokumentiert, tut dies keinen Abbruch.

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