Читать книгу Weil Bücher unsere Welt verändern - Christian Klein - Страница 30

1623 Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies Die ganze Welt ist Bühne

Оглавление

»Seele des Zeitalters« nennt Ben Jonson ihn, den Zeitlosen. Er ist der größte aller Dichter, auch in Deutschland verehrt. Seine Werke: philosophisch, voll Leben, von nie erreichter Musikalität; meisterlich verwebt er Tragisches und Komisches. Nur knapp die Hälfte seiner Bühnenwerke erscheint zu Lebzeiten im Druck. 1623 rettet posthum eine großformatige Folio-Ausgabe sein Bühnenschaffen vor dem Vergessen. Es ist aber nur der halbe Shakespeare, den sie überliefert: Der Dichter wird ausgespart. Die »First Folio« prägt das Shakespeare-Bild bis heute – obwohl Jonson den Leser gleich zu Beginn mahnt, nicht auf das Bild, sondern allein auf das Werk zu vertrauen …

Er ist der meistgespielte Autor auf deutschsprachigen Bühnen: William Shakespeare. Mit mehr Theater-Dauerbrennern im Portfolio als jeder andere Dichterkollege – darunter Ein Sommernachtstraum, Hamlet, Romeo und Julia und Was ihr wollt – schlägt der englische Dramatiker selbst Friedrich Schiller und Bert Brecht. Doch was heißt schon englischer Dramatiker? »Unsern Landsmann« nannte ihn der Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz und schuf selbst Übersetzungen von Love’s Labour’s Lost (Amor vincit omnia) und Coriolanus. Macht die Zahl an geflügelten Worten und Wendungen einen Autor zum Einheimischen, dann ist Shakespeare wirklich unser Landsmann. »Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage«, »Etwas ist faul im Staate Dänemarks«, »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter« oder »Gut gebrüllt, Löwe!« sollten für den Einbürgerungsnachweis genügen.

Der »deutsche Shakespeare« ist uns vor allem in der Schlegel-TieckÜbersetzung im Ohr. Der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hielt sie für die schönste überhaupt. Sie sei bei der Bildung einer deutschen Nationalsprache »nicht hoch genug einzuschätzen«, zitiert er den Germanisten Gerhard Schulz. Zwischen 1797 und 1810 hatte August Wilhelm Schlegel siebzehn Shakespeare-Dramen übersetzt und auf Drängen seines Verlegers hin eingewilligt, dass Ludwig Tieck die übrigen Stücke eindeutschte. Diese Aufgabe übertrug der seiner Tochter Dorothea und Wolf Heinrich von Baudissin und machte sich selbst lieber an die »Verbesserung« von Schlegels Texten. Schlegel drohte dem Verleger mit Klage, und so veröffentlichte der 1841 eine neue Gesamtausgabe, die Schlegels Shakespeare wiederherstellte, ergänzt um die von Dorothea Tieck und Baudissin übersetzten Werke.

Der sogenannte Schlegel-Tieck war nicht die erste Übertragung der Bühnenwerke Shakespeares ins Deutsche. Den Anfang machte ein preußischer Diplomat, Caspar Wilhelm von Borcke, der 1741 Julius Cäsar ins modische Versmaß der Zeit, den französischen Alexandriner, brachte. Die Übersetzung des Gesamtwerks nahm ab 1762 Christoph Martin Wieland in Angriff, der in fünf Jahren ganze zweiundzwanzig Bühnenwerke übertrug; vollendet wurde die Ausgabe durch Johann Joachim Eschenburg. Die Pionierleistung ist ein Zeitstück, bemerkte Wieland doch in König Heinrich der Vierte zu den Falstaff-Szenen, »die ekelhafte Unsittlichkeit derselben verbietet uns sie zu übersetzen«. Schufen Wieland und Eschenburg Prosatexte, versuchte sich der Schlegel-Tieck-Kreis als Erster an einer Übertragung der Versform. Ihrem Shakespeare folgten weitere Übersetzungen, die meist Schlegel-Tieck zu verbessern trachteten, bisweilen aber auch einen Neuansatz versuchten.

»Es kamen die Philologen und die Schwärmer, die Oberlehrer und die Rhapsoden, die Macher und die Kulissenzauberer«, fasste es der Literaturkritiker Ernst Stein einmal zusammen. Übersetzungsprojekte im 20. Jahrhundert gingen teils in Richtung einer Poetisierung (Friedrich Gundolf, ein Jünger Stefan Georges), teils zielten sie auf moderne Bühnentauglichkeit (so die im Berlin der Roaring Twenties entstandenen Adaptionen von Hans Rother). Jede Übersetzung ist eben immer auch Deutung. Längere Zeit gaben die deutschsprachigen Bühnen Erich Frieds Shakespeare den Vorzug, heute nutzen sie oft Kombinationen verschiedener Versionen. Seit Jahrzehnten arbeitet Frank Günther an der wohl einfühlsamsten Übersetzung sämtlicher Shakespeare-Dramen. Wo Schlegel Prosperos Worte »We are such stuff as dreams are made on« mit »Wir sind solcher Zeug, wie der zu Träumen« verdeutscht und Fried »Wir sind solcher Stoff, aus dem Träume gemacht sind« wählt, dichtet Günther: »Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind«.

Die deutschen Übersetzungen beginnen etwa zur selben Zeit, in der Shakespeare in seiner Heimat wiederentdeckt wird. Unter dem puritanischen »Langen Parlament« (1640–1660), während Bürgerkrieg und Cromwell-Protektorat, blieben die Theater als Sündenorte geschlossen, danach passte Shakespeare nicht recht in die Zeit – der Dichter Nahum Tate versah 1681 ausgerechnet König Lear publikumstauglich mit einem Happy End! Erst Mitte des 18. Jahrhunderts setzt die »Bardolatrie« ein. Auf Betreiben des Dichters Alexander Pope wird 1741 die Shakespeare-Statue in Westminster Abbey errichtet; um dieselbe Zeit beginnt der Aufstieg des gefeierten Schauspielers David Garrick, dessen Shakespeare-Fest in Stratford-upon-Avon 1769 den endgültigen Durchbruch markiert. Nur zwei Jahre später jubelt der junge Goethe in einer Rede Zum Schäkespears Tag: »Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe.« Und Kollege Lenz stimmt ein: »Seine Sprache ist die Sprache des kühnsten Genius, der Erd und Himmel aufwühlt, Ausdruck zu den ihm zuströmenden Gedanken zu finden.«

Der Shakespeare-Mixer

1974 regte Hans Magnus Enzensberger einen Poesieautomaten an. Mit automatisierten Übersetzungen und ihren oft poetischen Ergebnissen sind wir inzwischen bestens vertraut. Weniger mit dem Shakespeare-Mixer, von dem Marcel Reich-Ranicki berichtete: »In dieses Gerät werden von oben alle in deutscher Sprache veröffentlichten Übersetzungen hineingesteckt. […] Schon nach siebenundzwanzig Minuten erhalten wir unten eine neue Übersetzung, eine durchaus beachtliche. Denn die Firma Siemens war klug genug, das Gerät vor allem mit der Schlegel-Tieck-Übersetzung zu füttern.«

Aus diesem Geniekult spricht das 18. Jahrhundert. Davor war man mit Shakespeare robuster umgesprungen, auch in Deutschland. Von Mitte der 1580er Jahre an tourten Gruppen englischer Schauspieler durch deutsche Lande, darunter der berühmte Shakespeare-Clown Will Kempe. Um möglichst viel Publikum anzulocken, wurden die Stücke allerdings auf besonders effektvolle und grelle Szenen heruntergestutzt und mit allerlei musikalischen und akrobatischen Einlagen garniert. Einen Eindruck vermittelt die 1620 veröffentlichte Sammlung Engelische Comedien und Tragedien, darin ein verstümmelter Titus Andronicus. Zeitgenössisch ist möglicherweise auch eine 1779 als Manuskript aufgefundene »arge Zerarbeitung des Hamlet«, Der bestrafte Brudermord. Auch Jakob Ayrer (1544–1605), ein Nürnberger Stückeschreiber und fleißiger Plagiator, bediente sich freimütig bei Shakespeare: Für seine Schöne Phaenicia etwa bei Viel Lärm um Nichts, für die Zwey Brüder aus Syragusa bei der Komödie der Irrungen, und in seiner Schönen Sidea rächt sich – Sturm-reif – ein verbannter König, indem er mit Zauberkräften den Sohn des Usurpators in seine Gewalt bringt, der sich sodann in des Königs Tochter verliebt …

Erst nach Ende des Dreißigjährigen Krieges entwickelt sich in Deutschland ein eigenständiges Theaterleben mit deutschen Schauspielgruppen und Autoren. Doch Shakespeares Stoffe bleiben präsent. In Andreas Gryphius’ Absurda Comica oder Herr Peter Squenz von 1657 führt – gleich dem Sommernachtstraum – eine Gruppe Handwerker bei Hofe mehr schlecht als recht Pyramus und Thisbe auf, während Christoph Blümel 1670 den Juden von Venetien auf die Bühne stellt. Anonym erscheinen 1672 die Kunst über alle Künste, ein bös Weib gut zu machen, nach Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung, 1677 ein Tugend- und Liebesstreit, der sich an Was ihr wollt und dem Wintermärchen orientiert. Ohne Shakespeare, so scheint es, gäbe es schon in jener frühen Zeit kein deutsches Theater – auch wenn der Name des Autors damals unbekannt gewesen sein dürfte.

Doch: »What’s in a name?« – »Was ist ein Name?« (Romeo und Julia). Auch in England waren Shakespeares Dramen zunächst anonym in mehr oder minder zuverlässigen Raubdrucken erschienen. Erst ab 1598 taucht als Autor »William Shake-Speare« auf den sogenannten Quarto-Ausgaben auf. Das Shakespeare-Bild späterer Epochen wurde freilich durch eine posthume Werkausgabe geprägt, die großformatige Erste-Folio-Ausgabe von 1623: Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies. Die Textfassungen ihrer sechsunddreißig Bühnenstücke weichen teils erheblich von den Quartos ab; die Hälfte der Stücke wurde hier erstmals veröffentlicht, darunter populäre Klassiker wie Der Sturm, Macbeth oder Wie es euch gefällt.

Auffällig ist, was die Werkausgabe nicht enthält. Jene Werke nämlich, die zu Lebzeiten als Allererstes mit dem Namen Shakespeare assoziiert wurden: seine beiden eleganten Versepen Venus und Adonis und Die Schändung der Lucrezia. Venus und Adonis war ein Bestseller gewesen, mit dem sich Shakespeare in »das unsterbliche Buch des Ruhmes« eingetragen hatte, wie Richard Barnfield 1598 dichtete. Ebenso fehlen in der First Folio die 1609 von Thomas Thorpe veröffentlichten Sonette »unseres unsterblichen Dichters«, die Stefan George und Paul Celan im 20. Jahrhundert zu deutschen Nachdichtungen inspirierten. Es ist nur ein halber Shakespeare, den die Folio-Ausgabe überliefert, und verschweigt den wegen seiner Eleganz und klassischen Bildung gerühmten Dichter. Dafür legt sie erstmals mit Andeutungen Fährten nach Stratford-upon-Avon.

Dort scheint man bis zu diesem Zeitpunkt einen großen Dichter nicht vermutet zu haben. Als William Shaksper oder Shaxper 1616 in Stratford stirbt, hinterlässt er kein einziges Buch, kein einziges Manuskript. Es gibt keine Nachrufe auf ihn wie bei anderen Dichtern oder berühmten Schauspielern der Zeit. Sein eigener Schwiegersohn, der voller Stolz seinem Tagebuch anvertraute, als Arzt den Dichter Michael Drayton behandelt zu haben, notiert knapp: »Mein Schwiegervater ist am Donnerstag gestorben.« Shakspers Mitbürger kennen ihn als gerissenen Geschäftsmann, Geldverleiher und Steuerpächter, der selbst wegen kleiner Summen vor den Kadi zieht, während ihm das Schicksal »seiner« Werke – die er in den Sonetten als unsterblich besingt – gleichgültig ist. Gegen Raubdrucke geht er nicht vor, die Werkausgabe müssen andere besorgen. Dass ihn der Tod darum gebracht habe, die First Folio zu redigieren, wie es in einer der Vorreden heißt, trifft sicher nicht zu. Selbst orthodoxe Forscher gehen davon aus, dass Shaksper in seinen letzten Jahren das Schreiben an den Nagel gehängt hatte. Ein rastloses Genie mit überbordendem Schaffensdrang geht in Rente.

Das Problem ist nicht, dass wir über den Mann aus Stratford zu wenig wissen, sondern dass das, was wir über ihn wissen, so gar nicht zum Shakespeare-Kanon passen will. Aus dem spricht eine Geringschätzung von Geld und Pfennigfuchsern, wie Shaksper einer war. Die Frauenfiguren sind geistreich und gebildet; Shakspers Töchter blieben Analphabetinnen. Im Mittelpunkt praktisch aller Dramen stehen Adlige; das einfache Volk ist für die komischen Einlagen zuständig. Selbst Sigmund Freud wollte hier nicht an eine Persönlichkeitsspaltung glauben und war »nahezu überzeugt davon«, dass unter dem Namen Shakespeare der »hochgeborene und feingebildete, leidenschaftlich unordentliche, einigermaßen deklassierte Aristokrat Edward de Vere, siebzehnter Earl of Oxford« publizierte. Auch der eingefleischte Demokrat Walt Whitman knurrte, dass nur einer jener »wölfischen Grafen«, die Shakespeares Königsdramen bevölkern, die Stücke geschrieben haben könne.

Das Beste am Leben des Mannes aus Stratford ist, dass wir nicht wissen, was er zwischen 1585 und 1592 getan hat (davor wissen wir, dass er getauft wurde, geheiratet hat, drei Kinder bekam). Diese »verlorenen Jahre« lassen sich füllen mit allem, was aus den Werken spricht: Italienreisen, private Rechtsstudien zum Zeitvertreib, Sprachkurse und viel, sehr viel Lektüre. Mit dem Brontosaurus-Skelett im Metropolitan Museum verglich Mark Twain Shakespeare-Biografien: »neun Knochen und sechshundert Fässer Gips«. Eines immerhin scheint unzweifelhaft: dass es vernünftige Zweifel daran geben kann, ob Shaksper aus Stratford wirklich die Werke Shake-Speares geschrieben hat. Dies zu verbreiten, dafür treten die Initiatoren und Unterzeichner einer Declaration of Reasonable Doubt ein, unter ihnen die Shakespeare-Mimen Derek Jacobi, Mark Rylance und Michael York (https://doubtaboutwill.org).

Weil Bücher unsere Welt verändern

Подняться наверх