Читать книгу Warum der freie Wille existiert - Christian List - Страница 17
Die Herausforderung des Epiphänomenalismus
ОглавлениеDie dritte Herausforderung für den freien Willen entsteht auch dann, wenn die ersten beiden Herausforderungen zufriedenstellend beantwortet werden können. Auch sie lässt sich als ein Argument mit zwei Prämissen zusammenfassen:
Prämisse 1: Der freie Wille erfordert die Kontrolle eines Akteurs über seine oder ihre Handlungen; diese Handlungen dürfen nicht bloß durch nichtintentionale Prozesse, sondern müssen durch die relevanten mentalen Zustände verursacht werden, insbesondere durch die Absichten des Akteurs.
Prämisse 2: Aus wissenschaftlicher Sicht ist alles, was ein Akteur tut, vollständig durch nichtintentionale Prozesse verursacht; die Absichten des Akteurs sind höchstens Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Ursachen.
Die erste Prämisse gibt unsere dritte Bedingung für den freien Willen wieder: die Bedingung kausaler Kontrolle. Die zweite Prämisse drückt die These aus, dass das Verhalten des Handelnden eine rein physikalische Ursache habe: So etwas wie „mentale Verursachung“, das heißt Verursachung durch die mentalen Zustände des Handelnden, gebe es nicht. Diese geistigen Zustände seien bestenfalls Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Prozesse, sogenannte „Epiphänomene“, die selbst keine kausalen Wirkungen haben. Ich werde diese These „Epiphänomenalismus“ nennen. Wenn wir die beiden Prämissen miteinander verbinden, gelangen wir offensichtlich zu folgender Konklusion:
Konklusion: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen freien Willen.
Die erste Prämisse, die Bedingung kausaler Kontrolle, habe ich bereits verteidigt. Aber warum sollte man die zweite Prämisse, die Epiphänomenalismus-These, akzeptieren? Wenn ich beabsichtige, meine Hand zu heben und entsprechend dieser Absicht handle, ist es dann nicht offenkundig wahr, dass die Handlung durch meine Absicht verursacht ist und nicht durch etwas Anderes? Vielleicht gibt es eine Hintergrundgeschichte dazu, wie mein Gehirn und mein Körper diese Prozesse auf einer neuronalen Ebene verwirklichen, aber die Handlung ist, wie es scheint, dennoch unter meiner Kontrolle. Meine Absicht, und nichts anderes, ist der kausale Ursprung der Handlung; das nehmen wir zumindest normalerweise an.
Es gibt jedoch eine einflussreiche Überlegung, die unsere gewöhnlichen Intuitionen bezüglich mentaler Verursachung in Bedrängnis bringt, das sogenannte „Argument der kausalen Exklusion“. Ein prominenter Vertreter dieses Arguments ist der Philosoph Jaegwon Kim, aber auch die neurowissenschaftliche Skepsis, die sich in jüngster Zeit gegen die Willensfreiheit richtet, stützt sich implizit auf die Grundidee dieses Arguments.26 Es wird für den Moment genügen, wenn ich es kurz zusammenfasse. Das Argument geht von zwei Prinzipien der Kausalität aus, die aus einer wissenschaftlichen Weltsicht nur schwer zu leugnen sind; und es leitet aus ihnen die negative Schlussfolgerung ab, dass es keine mentale Verursachung geben kann. Gehen wir diese Prinzipien kurz durch.
Das erste Prinzip besagt, dass die physikalische Welt „kausal abgeschlossen“ ist: Alles, was in der Welt geschieht, muss letztlich eine physikalische Ursache haben. Es gibt keine Geschehnisse, die nicht physikalisch verursacht sind. Anzunehmen, es gebe solche Geschehnisse, hieße, übernatürliche Vorgänge in der Welt zu postulieren. Die Vermeidung eines solchen Postulats ist wesentlicher Bestandteil einer wissenschaftlichen Weltsicht.
Das zweite Prinzip verbietet die überflüssige Zuschreibung von Ursachen. Es besagt: Wenn wir eine vollständige Ursache für eine gegebene Wirkung identifiziert haben, also eine Ursache, welche die Wirkung vollständig erklärt, dann dürfen wir diese Wirkung nicht auch noch auf eine zweite, angeblich ebenso vollständige, konkurrierende Ursache zurückführen, die exakt zur selben Zeit eintrat. Die Annahme einer solchen zweiten Ursache liefe darauf hinaus, eine unglaubwürdige Form kausaler Überdeterminierung zu postulieren. Wenn zum Beispiel ein bestimmtes Erdbeben die vollständige kausale Erklärung für den darauffolgenden Tsunami ist, hat es keinen Sinn, den Tsunami gleichzeitig auch noch auf eine weitere Ursache zurückzuführen. Wenn das Erdbeben für die Erklärung des Tsunami ausreicht, gibt es für eine zweite Ursache, kausal gesehen, nichts weiter zu tun. Es ist zu betonen, dass es hier nicht um frühere Ursachen geht. Natürlich wird es frühere Ereignisse gegeben haben, welche das Erdbeben selbst verursachten und die somit indirekt zur Verursachung des Tsunami beitrugen, zum Beispiel gewisse tektonische Verschiebungen. Das Prinzip der nicht-unnötigen Überdeterminierung verbietet nur die Zuschreibung konkurrierender gleichzeitiger Ursachen. Kim nennt dies das „Prinzip der kausalen Exklusion“.
Falls wir die beiden Prinzipien – kausale Abgeschlossenheit und kausale Exklusion – akzeptieren, lässt sich die Schlussfolgerung nicht vermeiden, dass immer dann, wenn jemand eine Handlung ausführt, ein physikalischer Vorgang im Gehirn und Körper der handelnden Person die Ursache sein muss, und nicht die Absicht der Person. Da die Handlung nicht aus heiterem Himmel erfolgt, wie ein übernatürliches Geschehnis, muss sie irgendeine Ursache haben. Aber das Postulieren einer Ursache, die nicht physikalischer Natur ist, wie etwa einer mentalen Ursache, würde eines der beiden Prinzipien verletzen. Es würde entweder das Prinzip der kausalen Abgeschlossenheit verletzen, nämlich dann, wenn wir darauf beharrten, dass menschliche Handlungen ohne eine physikalische Ursache stattfinden können; oder es würde das Prinzip der kausalen Exklusion verletzen, falls wir nämlich die Auffassung vertreten, dass menschliche Handlungen neben und über ihre vollständigen physikalischen Ursachen hinaus auch separate, ebenso vollständige mentale Ursachen haben.
Um beide Hörner dieses Dilemmas zu vermeiden, die Annahme übernatürlicher Ursachen auf der einen und die Annahme unnötiger kausaler Überdeterminierung auf der anderen Seite, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass alles, was ein Handelnder tut, durch einen physikalischen Vorgang im Gehirn und Körper der Person verursacht ist. Was dann anscheinend keinen Spielraum für irgendwelche kausalen Leistungen ließe, die von den Absichten der handelnden Person erbracht werden könnten. Das Ergebnis hiervon ist der Epiphänomenalismus: Die Absichten und anderen mentalen Zustände des Handelnden sind kausal untätig; sie bringen keine genuinen kausalen Wirkungen hervor. Kausale Wirkung gibt es ausschließlich auf der physikalischen Ebene.
Befürwortet wurde der Epiphänomenalismus auch von mehreren Neurowissenschaftlern, obwohl sie sich dabei nicht ausdrücklich auf das gerade von mir zusammengefasste philosophische Argument stützen. So schreibt beispielsweise der Neurowissenschaftler und Autor Sam Harris:
„Habe ich mich bewusst für Kaffee statt Tee entschieden? Nein. Die Entscheidung wurde für mich durch Ereignisse in meinem Gehirn getroffen, die ich, als der bewusste Zeuge meiner Gedanken und Handlungen, nicht beobachten oder beeinflussen konnte. […] Die Absicht, etwas zu tun und nicht etwas anderes, entsteht nicht im Bewusstsein. Wie jeder Gedanke oder Impuls, der sich ihr entgegenstellt, erscheint sie aber im Bewusstsein.“27
Ein anderer Neurowissenschaftler, Michael Gazzaniga, erzählt die folgende Geschichte:
„Wenn Sie ein Marsmensch wären, der heute auf der Erde landete und Information darüber sammelte, wie Menschen funktionieren, würden Sie nie auf die Idee des freien Willens kommen, wie er gewöhnlich in der Alltagspsychologie verstanden wird. Der Marsmensch würde erfahren, dass die Menschen Erkenntnisse über Physik, Chemie und Kausalität im üblichen Sinne erworben haben. Er wäre erstaunt, was für eine Menge von Informationen über die Funktionsweise von Zellen und Gehirnen sich da angesammelt hat. Und er käme zu dem Schluss ‚Okay, sie haben’s kapiert. Gehirne sind wunderbar komplexe Maschinen, ebenso wie Zellen. Ihre Wirkungsweise ist ziemlich cool, obwohl sie stark dazu neigen, zu glauben, dass in ihrem Kopf ein kleiner Kerl ist, der sagt, wo’s langgeht. Da ist aber niemand.‘“28
Der Wissenschaftler vom Mars würde also zu dem Schluss kommen, dass alles, was Menschen tun, durch physikalische Vorgänge im Gehirn verursacht ist. Die Absichten des „kleinen Kerls im Kopf “ sind allenfalls ein Epiphänomen: Sie sagen nicht, „wo’s langgeht“.
Die in diesen Zitaten geäußerten Ansichten scheinen durch eine Vielzahl von psychologischen und neurowissenschaftlichen Experimenten gestützt zu werden, von denen viele auf die klassische Untersuchung von Benjamin Libet und seinen Mitarbeitern zu Beginn der 1980er Jahre zurückgehen.29 Libet wollte herausfinden, in welcher Beziehung die bewussten Absichten einer Person zu den neuronalen Vorgängen im Gehirn der Person stehen. Er entwarf ein Experiment, in dem jeder Teilnehmer, ein Collegestudent oder eine Collegestudentin, gebeten wurde, eine einfache Handlung zu tätigen, wie etwa einen Knopf zu drücken oder eine Hand zu bewegen. Die teilnehmende Person konnte die Handlung zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt ausführen. Die Teilnehmer wurden außerdem gebeten, den genauen Zeitpunkt zu nennen, zu dem sie bewusst die Absicht bildeten, die Handlung auszuführen. Während des Experiments hatten sie eine leicht lesbare Uhr vor sich, sodass sie die Zeit überprüfen konnten. Diese Information erlaubte es Libet, zu erkennen, wieviel Zeit zwischen dem angegebenen Zeitpunkt der bewussten Entscheidung und der Handlung selbst verging. Darüber hinaus ließ Libet während des ganzen Experiments mittels eines EEGs (Elektroenzephalogramms) die neuronale Aktivität im Gehirn eines jeden Teilnehmers messen. Auf diese Weise konnte er die Struktur der Gehirntätigkeit beobachten, die die bewusste Entscheidung des Subjekts begleitete. Auffällig war, dass die neuronale Aktivität, die zur Ausführung der Handlung führte, ein neuronales Bereitschaftspotential, bereits einige hundert Millisekunden vor der Bewusstwerdung der Handlungsabsicht durch das Subjekt feststellbar war. Dies legt den Schluss nahe, dass die unterbewusste Gehirntätigkeit, und nicht die bewusste Handlungsabsicht, kausal für die Handlung eines Subjekts verantwortlich ist. Die bewusste Absicht ist nur ein Epiphänomen. Stellungnehmend zu den Libet-Experimenten schreibt der Psychologe Daniel Wegner:
„Es scheint, dass das bewusste Wollen nicht der Beginn des Vorgangs der willentlichen Bewegung ist, sondern ein Ereignis in einer Kaskade von Ereignissen, aus der letztendlich die Bewegung hervorgeht. Die Position des bewussten Wollens auf der Zeitachse legt vielleicht nahe, dass die Erfahrung des Wollens ein Glied in einer Kausalkette ist, die zur Handlung führt, aber in Wirklichkeit ist sie vielleicht nicht einmal das. Sie ist möglicherweise nur ein loses Ende, eines der Dinge, das, wie die Handlung, durch vorangehende Gehirnvorgänge und mentale Ereignisse verursacht ist.“30
In einer neueren Untersuchung berichteten John-Dylan Haynes und seine Mitarbeiter, dass Gehirnscandaten dazu benutzt werden können, um mit einer besser als zufälligen Genauigkeit die Entscheidung eines Subjekts zwischen zwei Handlungen einige Sekunden im Voraus vorherzusagen, wodurch sie die Befunde von Libet auf eine noch dramatischere Weise replizierten.31 Es ließe sich noch sehr viel mehr darüber sagen, wie all diese experimentellen Befunde zu interpretieren sind, und ich werde in Kapitel 5 auf sie zurückkommen, aber zumindest ihrem Anschein nach liefern sie Belege für den Epiphänomenalismus: Das Verhalten eines Handelnden ist anscheinend das Resultat physikalischer Ursachen, und die Absichten des Handelnden sind bloß ein Nebenprodukt oder ein Glied in einer längeren Kausalkette.
Es sollte also klar sein, dass jedweder Versuch einer Verteidigung des freien Willens vor beträchtlichen Herausforderungen steht. Die Behauptung, dass Personen tatsächlich über das Vermögen intentionalen Handelns verfügen, müsste gegen die Herausforderung durch den radikalen Materialismus verteidigt werden. Die Behauptung, dass Personen tatsächlich über alternative Handlungsmöglichkeiten verfügen, müsste gegen die Herausforderung durch den Determinismus verteidigt werden. Und die Behauptung, dass sie tatsächlich die kausale Kontrolle über ihre Handlungen besitzen, müsste gegen die Herausforderung durch den Epiphänomenalismus verteidigt werden. In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen, den freien Willen gegen jede dieser Herausforderungen zu verteidigen.