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Schwert & Meister: Das Licht der Welse
Оглавлениеvon Florian Clever
Knut nahm die Hände aus dem Wasser. Sie waren taub vor Kälte. Vor zwei Wochen war das Eis auf dem See genug abgetaut, um endlich wieder mit den Booten rausfahren zu können. Es war Mitte März, und der Pegel des Bakul-Beckens stieg jeden Tag durch die Schneeschmelze in den niederen Lagen der Sturmzinnen.
Der Winter war hart gewesen. Zu hart für manche. Die Fischer aus den Sümpfen am Ostufer des Sees führten ein karges Leben. Vorräte waren stets knapp – ganz gleich, ob an Essen, an Brennstoff oder an Hoffnung, wenn Pökelfisch und Torfstücke zur Neige gingen, und Tisch und Feuerstelle immer öfter leer blieben, während der Frost draußen alles Leben erstickte. Vier in Tuch gewickelte und mit Steinen beschwerte Leiber waren diesen Winter in Knuts Dorf am Eisloch dem See übergeben worden, doppelt so viele wie letztes Jahr.
Knut holte das Netz ein, und sein Bruder Reet half ihm dabei. Es war leicht, denn ihr Fang war dürftig. Wie schon beim vorherigen Mal, und auch bei dem Mal davor. Ein viertes Mal würden sie das Netz nicht auswerfen heute Nacht. Es war an der Zeit, was sie hatten den Händlern zu bringen. Zwei Drittel der Fische würden sie verkaufen, und das letzte Drittel unter sich aufteilen. Knut würde das Meiste davon bekommen, er hatte eine Frau und vier Kinder. Reet war Junggeselle und lebte so einfach, dass er damit selbst unter den genügsamen Fischern des Öden Fenns auffiel. Reet war lang und dünn wie das Schilfrohr, dessen Name er trug. Vor allem jetzt, am Ende des Winters, wirkte er nahezu ausgemergelt. Auch Knut war schlank, alle aus dem Fenn waren es. Doch wo andere noch eine Spur Reserven hatten, bestand Reet nur aus Haut, Knochen und dünnen Muskelsträngen. Trotzdem schien er die Kälte nicht zu spüren. Kaum hatten sie das Netz im Boot, als Knut in seine Hände blies und sie aneinander rieb. Sein Bruder aber schwang schon die Fischkeule und machte ihrer zappelnden Beute ein Ende.
Reet lächelte. »Nicht schlecht fürs Erste! Wenn’s so losgeht, wird’s ein Frühling mit vollen Netzen!« Er packte zu und erschlug einen Fisch, der sich mit wilden Flossenschlägen gegen die Bootswand geworfen hatte. »Hab’s gewusst. Taront hat mir ein Zeichen gegeben. Vorgestern, beim Neumond, hab ich die Welse gesehen.«
Knut unterdrückte ein Seufzen und schob die Hände unter die Achseln, um die Ahnung von Wärme zu erhalten, die seine Bemühungen ihm beschert hatten. Jetzt fing das wieder an! Reet und seine Welse! Die großen Welse des Bakul-Beckens, die Taront, der Gott des Schicksals, den Fischern sandte, um ihnen damit die Zukunft vorherzusagen. Jeder im Sumpf kannte die Legenden. Mal waren die Welse in den Geschichten fünf Schritt lang, mal acht, mal gar zehn. Mal waren ihre Barteln steif wie Schwerter, mal das Maul breit genug, um einen ausgewachsenen Mann am Stück zu verschlingen. Eins aber hatten all diese Märchen gemeinsam: Die Welse leuchteten.
Nicht permanent. Doch manchmal, rund um den Neumond, wenn die Nächte besonders dunkel waren, flammte es in den schwarzen Fluten des Sees kurz auf, wie ein fernes Gewitter am schlammigen Grund, ein blaugrünes Flackern in der Tiefe. Damit verhieß Taront dem Volk aus dem Fenn ein fischreiches Jahr, glückliche Geburten, mehr Sonnenstunden, kurz, ein Leben in Wohlgefallen. Wer das Lichtspiel der Welse besonders gut zu lesen verstand, entnahm ihm manchmal auch differenziertere, aufregende Prophezeiungen. Und niemand las so gut und so oft im Leuchten jener mythischen Fische wie Knuts Bruder Reet.
Rasch senkte Knut den Kopf, um Reet nicht mit seiner missbilligenden Miene zu kränken. Die Welse gesehen! Am Arsch! Das einzig Aufregende, was es hier außer gelegentlichen Unwettern noch gab, waren die Seepiraten, und die scherten sich nicht um die verlausten Fischer aus dem Sumpf. Wozu auch? Diese Prise lohnte die Mühe nicht, und hinterher roch man auch noch tagelang nach Fisch.
Knut versuchte schon lange nicht mehr, seinem Bruder die Flausen mit den Welsen auszutreiben. Stattdessen langte er nach der zweiten Fischkeule und ging Reet zur Hand.
Seit sie Kinder waren erzählte Reet seine Welsgeschichten. Aber anders als die anderen Kinder hörte er damit nicht auf, als er älter wurde. Er baute sich eine Hütte abseits des Dorfes, heiratete nicht und brauchte so wenig, dass die Leute manchmal fast vergaßen, dass er noch da war. Trotz seiner Verschrobenheit galt er jedoch als ausgezeichneter Fischer. Er hatte ein gutes Gespür für Fangplätze und –zeiten. Die Fahrten mit seinem Bruder waren für Knut oft die einträglichsten. Grund genug, ihm seine Grillen mit den Welsen nachzusehen. In all den Jahren hatte Knut gelernt, Reet so zu nehmen, wie er war.
»Was haben dir die Welse gezeigt?«, fragte er verbindlich, tötete einen Fisch und warf ihn in einen Eimer. »Was wird das Jahr dir noch bringen, außer volle Netze?«
»Volle Netze, ja ...«, antwortete Reet, »... aber nicht für mich. Die Welse sagen, ich werde das Fenn bald verlassen.«
Knut ließ die Keule sinken, einen zappelnden jungen Flussbarsch in der anderen Hand. Er schluckte und versetzte: »Unsinn!« Gleich darauf nahm er die Schärfe aus seiner Stimme. »Ich meine, warum solltest du gehen? Und vor allem, wohin? Wir sind Fischer, ein Teil vom Fenn, ein Teil vom See.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich weiß, was die Welse dir zeigen, ist wahr, aber ...«
»Schon gut«, sagte Reet, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er lächelte nach wie vor. »Ich verstehe ihre Zeichen auch nicht immer so genau. Vielleicht täusche ich mich dieses Mal ja. Ist früher auch schon vorgekommen.«
Während er sein klopfendes Herz zu zügeln versuchte, beobachtete Knut seinen Bruder verstohlen. Wie immer ging Reet vollkommen in dem auf, was er gerade tat. Entweder, er ist ein Spinner oder ein Weiser, dachte Knut, und der Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal.
Etwas später hatten sie ihren Fang ruhiggestellt und in drei Eimern untergebracht. Knut klemmte sich die Ruderpinne unter den Arm, wechselte ihren Kurs und trimmte das Segel neu. Reet zupfte derweil die gröbsten Algen und Seepflanzen aus dem Netz und warf sie über Bord. So fuhren sie eine Weile, inmitten von Sternen, die über ihnen wachten und sich auf der Oberfläche des Sees spiegelten.
Als das Netz halbwegs sauber war, legte Reet es zusammen, schob es sich in den Rücken und lehnte sich im Bug zurück, inmitten eines Allerleis aus Eimern, Reusen, Angelruten und Keschern. Sein Blick verlor sich auf dem Wasser. »Wie geht’s Sonya?«, fragte er. »Ist das Fieber besser?«
Knut ließ sich Zeit mit einer Antwort. »Ja«, sagte er dann. »Zuletzt hat sie wieder ruhiger geschlafen. Die Alpträume blieben aus. Ist nicht mehr schreiend aufgewacht, jedenfalls nicht mehr so oft. Und sie schwitzt auch nicht mehr so stark.«
»Das ist gut«, sagte Reet. »Das freut mich.« Er legte einen Arm über die Bordwand und ließ die Hand sinken, so dass seine Finger durchs Wasser kämmten. »Weißt du was? Nimm diesmal allen Fisch, den wir nicht verkaufen. Ich hab noch genug von der letzten Fahrt übrig. Und ich hab auch noch etwas Pökelfisch. Wenn Sonya vernünftige Portionen bekommt, ist sie sicher bald wieder die Alte – jetzt, wo es wärmer wird. Vergiss das teure Gebräu von dem fahrenden Bader. Der ist doch bloß ein Quacksalber. Gib ihr, was der See uns schenkt, und gib ihr genug davon. Dann ist sie bestimmt bald wieder ganz gesund.«
Knut hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, die Augen zusammengekniffen, die Lippen schmal. »Das kann ich nicht annehmen«, murmelte er.
Reet legte den Kopf in den Nacken und lächelte zu den Sternen empor. Wenn er lächelte, wurde sein hageres Gesicht erstaunlich weich. »Natürlich kannst du das. Bitte, lass es uns so machen. Nur dieses eine Mal. Und wenn wir das nächste Mal rausfahren, steht Sonya wieder mit den Kindern am Steg und winkt uns nach, wirst schon sehen.«
Knut öffnete den Mund, sagte aber nichts und schloss ihn wieder. Dann murmelte er durch die Zähne, leiser noch als zuvor: »Danke.«
Reet schloss die Augen, die Finger noch immer im See. Es war Knut ein Rätsel, wie er die Kälte so lange aushalten konnte. Als wäre er selbst ein Fisch, dachte er. Ein großer Wels, und die Finger sind seine Barteln, mit denen er umherspürt in seinem Reich. Mit der Zungenspitze fing er eine Träne auf. Bei Taront! Ich wünschte fast, ich könnte sehen was er sieht, und glauben, was er glaubt. Die Welse und ihre Vorhersagen. Dann wüsste ich, ob er recht hat. Ich wüsste, ob die Götter mir meine Sonya lassen, oder ...
Sein Blick verschwamm, und das Boot glitt über den See, mit drei Eimern voll Fisch und zwei reglosen Gestalten, die eine gebeugt am Ruder, die andere dämmernd im Bug, die Finger im Wasser.
Sie liefen ohne einen Ruck auf Grund, so sachte hatte Knut sie durch das Schilf gesteuert. Gleichwohl schlug Reet die Augen auf, kaum, dass der Kiel im Uferschlamm steckte. Er blinzelte und fragte mit vom Halbschlaf schwerer Stimme: »Wo sind wir?«
»In der Bucht, wo ich die Händler treffen möchte«, gab Knut zurück, stand auf und machte einen langen Hals. »Heda!«, rief er. »Ist da jemand? Wir sind’s, die Fischer aus dem Öden Fenn.« Er sprang ins seichte Wasser und zog das Boot noch ein Stück weiter. Dann reffte er das Segel und holte die Schott dicht.
Auch Reet sah sich um. »Die Gegend kenn ich nicht«, sagte er verblüfft. »Hier war ich noch nie.« Er nahm die Hand aus dem Wasser und saugte einmal an seinen Fingern. »Der See schmeckt anders. Das ist nicht mehr das Fenn. Nicht mal mehr das Ostufer.« Er stand ebenfalls auf.
Vom Land her näherten sich Lichter durch das Schilf.
»Hier drüben sind wir!«, rief Knut noch einmal und schwenkte die Arme über dem Kopf, einen Fisch in der Hand, der das Licht reflektieren sollte, um den Ankömmlingen die letzten Schritte zu den Brüdern zu weisen.
»Und hier willst du Händler treffen?«, fragte Reet. »Keine Händler, die ich kenne, soviel steht fest.«
»Nein«, sagte Knut über die Schulter. »Diese Händler kennst du noch nicht. Ich mache selbst auch das erste Mal Geschäfte mit ihnen.«
Jetzt konnten sie drei Fackeln ausmachen, und gleich darauf auch die Männer, die sie trugen. Aus der Dunkelheit dahinter lösten sich vier weitere Fremde. Als sie heran waren, zeigte sich, dass jeder von ihnen eine Waffe in der Hand hielt, einen Knüppel, einen Dolch oder einen Spieß. Der Anführer trug eine der Fackeln und ein Schwert an der Seite.
Knut sagte rau: »Ich habe die Ware gebracht.«
»Wurd auch Zeit«, antwortete der Anführer. Er hatte mehrere Zahnlücken und nuschelte. »Keine Lust, noch bis zum Morgen im Schilf zu hocken wie ein verfluchter Fischreiher!« Mit einem knappen Nicken nach vorn ergänzte er: »Greift ihn euch!«
»Seepiraten!«, platzte Reet heraus, doch da hatten ihn zwei der Männer schon gepackt. »Knut, was ...?« Mehr konnte er nicht sagen, denn einer der beiden zog ihm einen Knüppel über den Kopf. Als Reet danach noch zuckte, schlug der Pirat ein zweites Mal zu.
»Aufhören!«, rief Knut. »Ihr bringt ihn ja um!«
»Keine Bange«, versetzte der Anführer. »Tot wär er wertlos, Bürschchen. Wir machen ihn nur klar für die Reise zum Sklavenmarkt.«
Die beiden Männer legten Knuts bewusstlosen Bruder im Boot ab und fesselten ihn.
»Mein Geld«, forderte Knut mit wackliger Stimme. »Ihr habt mir fünf Silbernoks versprochen.«
Der Anführer baute sich vor ihm auf, drückte die Zungenspitze durch eine Zahnlücke und zog sie schmatzend wieder zurück. »Ist das so?«, sagte er und machte eine weite Geste, die das Schilf ringsum einschloss. »Schau dich um, Bürschchen. Was siehst du?«
»Das Ufer«, sagte Knut lahm.
»Genau«, bestätigte der Anführer. »Und siehst du an diesem Ufer irgendjemanden, der uns daran hindern könnte, dich auch noch mitzunehmen?«
»Wir hatten eine Abmachung«, fuhr Knut auf. »Ich brauche das Geld! Mein Weib ist krank! Und der Bader, er verlangt fünf Silber...!«
Die Faust des Anführers kam wie aus dem Nichts. Knut fand sich mit aufgeplatzter Lippe im Wasser wieder, die Hände aufgestützt, schmeckte Blut und spürte, wie Schlamm durch seine Finger quoll.
»Unsere Abmachung ...«, stammelte er.
Der Anführer ging vor ihm in die Hocke. »Da wusst ich noch nich, dass du so’n Hungerhaken anschleppst«, sagte er. »Der bringt uns nichts ein. Wer will schon so’n Häufchen Haut und Gräten haben? Dafür kriegste von mir einen Silberling, und ich mach noch ein verdammt lausiges Geschäft dabei.«
Die Männer hatten Reet Hände und Füße gebunden. Nun hoben sie ihn auf und trugen ihn fort.
»Aber das reicht mir nicht!« stammelte Knut. »Mein Weib ...! Der Bader ...! Bitte, ich hab vier Kinder!«
»Ich hab vier Kinder«, äffte der Pirat ihn nach. »Beim Strick! Was hab ich dieses Gejammer satt! Verdirbt einem den ganzen Spaß!«
Er fummelte ein Silberstück aus der Hosentasche, öffnete Knuts Mund und legte es ihm auf die Zunge. Knut ließ es geschehen, verängstigt, erschüttert, gebrochen. Zwei weitere Männer wateten zum Boot und kamen mit je einem Eimer voller Fische zurück.
»Den Fisch legste noch drauf«, nuschelte der Anführer. »Und jetzt ...«, er hob einen Zeigefinger vor seine Lippen, »... jetzt sagste besser nichts mehr, Bürschchen. Sonst nehmen wir den dritten Eimer auch noch mit. Und dich auch.« Damit schloss er Knut den Mund mit der Münze darin, drückte sich hoch und stapfte hinter seinen Leuten her, die Hand am Schwertknauf.
Knut hörte sie lachen, während sie sich entfernten. Er blieb im Wasser sitzen, sah ihnen nach und schmeckte Blut und Silber.
Erst, als das Licht der Fackeln verschwunden war, öffnete er den Mund, nahm den Silbernok heraus und kam zitternd auf die Beine, eine Hand auf den Bootsrand gestützt. Sein Blick fiel in den dritten Eimer. Tote Fischaugen glotzten ihn an. Mit hölzernen Bewegungen schob er das Boot aus dem Schlamm, drehte den Bug in Richtung See und zog sich an Bord. Er brauchte eine Weile, ehe das Schilf hinter ihm lag. Der Wind hatte gedreht. Er blies jetzt auflandig und schwächer als bei ihrer Ankunft. Schließlich aber erreichte er das offene Wasser. Er wollte sich orientieren, die Gewohnheit eines Fenn-Fischers, der sein halbes Leben im Boot verbracht hat. Doch ob links oder rechts, die nächtliche Uferlinie sah in beiden Richtungen gleich aus, und diesen Teil des Sees kannte er kaum. Zweimal erst war er hier gewesen, um die Vereinbarung mit den Seepiraten zu treffen und die heutige Zusammenkunft abzusprechen. Er schaute zum Nachthimmel auf, doch sei es, weil er ganz und gar außer sich war, weil die Sterne weitergewandert waren oder weil Tränen seinen Blick verschleierten, auch am Firmament kam ihm kein bekannter Fixpunkt entgegen. Ohne Kurs und Ziel segelte er hinaus in die dunkle Weite.
Seine nassen Sachen klebten ihm am Leib. Er zitterte jetzt stärker, musste sich zusammenreißen, um die Ruderpinne ruhig zu halten.
Die Welse sagen, ich werde das Fenn bald verlassen, hörte er Reets Stimme in seinem Geist. Bei diesen Worten seines Bruders war ihm der Schreck gründlich in die Glieder gefahren, hatte er doch nur allzu gut gewusst, wie bald diese Vorhersage in Erfüllung gehen würde. Das Licht der Welse hatte Reet die Zukunft erhellt. Es hatte ihm nur nicht verraten, auf welche Weise diese Zukunft eintreffen würde – und wie bald. Sollte doch etwas dran sein an der Legende? Hatte Reet all die Jahre über die Wahrheit gesagt? Gab es die Welse wirklich?
Knut schob diese Mutmaßungen auf die Seite. Er hatte ganz andere Sorgen. Seine Faust ballte sich um den Silbernok, bis die Knöchel weiß waren. Die Münze würde dem Bader nicht reichen, bei Weitem nicht. Sonya würde die Medizin nicht bekommen, und ohne die Medizin würde sie sterben, das wusste er, ganz ohne weissagende Riesenfische. Er hatte Reet angelogen. Das Fieber war nicht zurückgegangen, im Gegenteil. Der Winter war zu lang, die Hütte zu kalt gewesen. Und auch, wenn Reets Märchenwelse ihm einmal das Richtige eingegeben hatten: Knut ahnte, dass frischer Fisch und Tauwetter allein Sonya nicht würden genesen lassen. Er hatte den eigenen Bruder an eine Bande Seepiraten verhökert, um an das Geld für das letzte rettende Schilfrohr zu kommen, an das er sich geklammert hatte: die Medizin des Baders. Der Frühling war da. In ein paar Tagen würde der Wagen des fahrenden Heilers ins Dorf rumpeln, und er würde es sich trotz allem nicht leisten können, Sonyas Leben zu retten. Das letzte Schilfrohr war geknickt und abgerissen. Er würde ein Witwer mit vier hungrigen Mäulern sein und ohne Reets Hilfe und Spürsinn das Netz auswerfen. Der nächste Winter würde erneut Leben unter seinem Dach fordern. Sie waren ja so schon kaum über die Runden gekommen ...
Er spuckte blutigen Speichel ins Wasser. Von dem Schlag des Piraten saß ein Schneidezahn locker. Es war ihm gleich. Alles war ihm gleich.
Wie elend, wie erbärmlich bin ich doch, dachte er. Ihr Götter, was bleibt mir jetzt?
Der Bakul-See war groß, fast schon ein Binnenmeer. Wie lange Knut so segelte, wusste er nicht. Irgendwann war kein Ufer mehr da, nur noch spiegelglatte Oberfläche, so weit das Auge reichte. Der Wind war eingeschlafen. Da ließ er die Pinne los und tat, was Reet immer so gerne getan hatte: Er beugte sich über die Bootswand und schaute hinab in die Schwärze. Sie war kalt. Sie war tief. Sie war einladend. Sie konnte ihm Vergessen schenken. Es würde schnell gehen. Er würde nichts mehr fühlen, keine Verzweiflung, keine Schuld. Alles würde ein Ende haben. Das war der erste tröstliche Gedanke, seit er nach dem Handel mit den Piraten wieder Segel gesetzt hatte.
Bedächtig krempelte er den rechten Ärmel hoch und tauchte die Faust mit dem Silberling ins Wasser. Er wartete, bis die Hand vor Kälte taub war. Dann öffnete er sie. Schaute zu, wie die blanke Münze versank. Und während er dem Preis für seinen Bruder nachblickte, sah er, wie es weit unter ihm aufflackerte.
Einmal.
Zweimal.
Immer wieder.
Das Licht der Welse.