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Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionen
Оглавлениеvon Tim J. Radde
König Melacho Hattovan I. saß unruhig auf seinem Thron. Sein royales Hinterteil hatte sich noch nicht an das neue Sitzkissen gewöhnt, das den Herrschersessel nun zierte. Immer wieder verlagerte er sein Gewicht von der einen auf die andere Seite. Unzufrieden brach er seine Versuche, eine bequeme Position zu finden, ab und konzentrierte sich auf den Boten, der vor ihn getreten war.
»Du hast etwas gesagt?«, fragte er den Mann. Der Bote, der einen abgehalfterten und dreckigen Eindruck machte, zuckte zusammen, als der König das Wort an ihn richtete.
»Ja, Herr.« Ein Räuspern aus der Ecke der Senatoren ertönte, erneut erschrak der Bote. »Ja, Hoheit. Ich stamme aus der Eisernen Region, aus Alotek, Majestät. Ich war dort bis vor kurzem Stallmeister unter ...«
»Unter der Familie Fingrabor, ja, ich bin mit der Linie der ehemaligen Mächtigen vertraut. Und? Was willst du nun hier?«
Der Mann in der zerrissenen Kleidung sah Melacho fragend an. »Majestät? Ich habe doch gerade vorgetragen, was sich ereignet hat?«
Nun war es am König, verdutzt dreinzublicken. Sein Ärger über den Thron hatte dazu geführt, dass er den Vortrag des Boten offenbar verpasst hatte. Er vernahm das Tuscheln der Senatoren zu seiner Linken. Melacho musste den Vorfall herunterspielen, um sein Gesicht zu wahren. Der Herrscher der bekannten Welt spielte mit seinen dunklen Locken, zwirbelte eine besonders dicke Strähne um seinen Finger.
»Dann befiehlt dir dein König eben, es noch einmal zu wiederholen!«
Sein Ton war laut und durchdringend, sodass die leisen Gespräche der Politiker verstummten. Der Bote nahm sofort Haltung an.
»Es trug sich während eines Ausritts zu. Ich sollte die Familie und ihr Gefolge begleiten, um mich während des Rastens den Tieren zu widmen. Selbst der alte Wyndos begleitete uns, was seltsam war, denn ich hatte ihn davor schon lange Zeit nicht mehr außerhalb der Burgmauern gesehen.«
Der König hob die Hand, um für einen Moment nachdenken zu können. Wyndos Fingrabor war in einem Alter mit seinem Großvater, dem verstorbenen König Keran I.. Wyndos war einer der wenigen Ältesten der alten Herrscherfamilien, der seinen Zweitnamen nicht abgelegt hatte. Eigentlich war es nur dem Königshaus, sowie dem Geschlecht der Rogodans, erlaubt, den Namen ihres Familiengründers zu tragen. Doch die ehemals Mächtigen des Landes taten sich nach wie vor schwer damit, all den Zugeständnissen nachzukommen, die ihre Vorfahren gegeben hatten. Damals, als Hattovan sie besiegt hatte.
Melacho senkte den Arm. »Fahre fort.«
»Natürlich, Eure Hoheit«, sagte der Mann und nickte untertänig. »Unser Weg führte uns östlich zu einem Landsitz. Es war weit und breit das einzige Anwesen. Das Haus befindet sich auf einer Anhöhe, sodass die Bewohner jeden Winkel einsehen können. Mehrere der Begleiter und ich sollten davor warten, deshalb weiß ich nicht, wer der Gastgeber der Familie war, oder was dort genau beredet wurde.«
»Weshalb bist du dann hier, wenn du mir keine Neuigkeiten bringen kannst?«, wollte Melacho erzürnt von dem Boten wissen. Er hasste es, wenn jemand seine Zeit verschwendete. Doch dieses Mal zuckte der Bote nicht zusammen, sondern erwiderte den Blick des Königs eisern.
»Die Familie hat damit geprahlt, Majestät.«
»Womit? Sprich, Mann!«
»Sie wollen die bekannte Welt zurück zu ihrer alten Herrschaftsform führen. Sie wollen Euch und den Senat absetzen. Sie wollen den Familien ihre vorherige Macht zurückgeben.«
Es war so still im Thronsaal, dass Melacho dachte, jeder Anwesende könnte seine Atemzüge vernehmen. Weder die Senatoren der Regionen, noch die Senatorpriester wagten es, zu sprechen. Die Wachen standen starr da, ihre Lanzen fest im Griff. Die Musiker oben auf der Empore hatten urplötzlich ihr leises Spiel unterbrochen und blickten erschrocken auf ihn hinunter. Jetzt war es an ihm, dem König, etwas zu erwidern.
Melacho war sich bewusst, wie wichtig diese Antwort auf das Gesagte war. Doch es wollte ihm nichts über die Lippen gehen. Er saß da, geschockt, dass es tatsächlich jemand wagte, so offen über Hochverrat zu plaudern. War sich die Familie Fingrabor nicht bewusst, dass ihre Worte zu ihm gelangen würden? War es ihnen egal, da sie sich auf der sicheren Seite wogen? Und was, wenn dieser Mann hier von ihnen geschickt wurde, um ihn zu einer Reaktion zu provozieren? All diese Fragen drehten sich in seinem Kopf, es dauerte mehrere Momente, bis Melacho seine Gedanken ordnen konnte.
»Weshalb, und ich rate dir, mir die Wahrheit zu sagen, erzählst du mir davon? Du bist im Dienste der Familie Fingrabor, mit deiner Tat verrätst du deine Herren.«
Der Bote neigte sein Haupt. »Mit Verlaub, Majestät, doch ich bin nicht länger im Dienst der Familie. Ich habe am nächsten Tag meine Stellung aufgegeben und Alotek auf der Stelle verlassen. Mit dem besten Pferd des Stalls bin ich geflohen, um Euch warnen zu können. Ich war der Familie treu, doch ich bin meinem Land und meinem König treuer. Hoheit.«
Nun verbeugte sich der Mann tief vor Melacho und blieb in dieser Haltung. Der Herrscher hatte den Worten genau gelauscht und kam zu der Erkenntnis, dass der Bote die Wahrheit sprach. Er erkannte keine Lüge oder ein falsches Spiel darin. Vor ihm stand ein treuer Bürger, der einen Dienst an der bekannten Welt tat.
Melacho stand auf, ging auf den abgehalfterten Mann zu und bedeutete ihm, sich wiederaufzurichten. Anschließend reichte der König dem einfachen Untertan die Hand.
»Ich danke dir für deine Treue, ...?«, sagte Melacho, nach dem Namen des Mannes fragend. Dessen Gesicht hellte sich auf.
»Ninstan, Hoheit«, erklärte er voller Freude und ergriff die Hand ehrerfüllt.
»Du kannst dir meinem Dank sicher sein, Ninstan.« Melacho drehte sich zu den Wachmännern am Ausgang. »Holt Calansir und Abaro. Ich möchte sie in meinen privaten Gemächern empfangen. Und holt Ninstan hier vernünftige Kleider und weist ihm ein Zimmer zu. Er wird hungrig sein, Essen und Trinken sollen ihm gebracht werden.« Als letztes wandte er sich zu den Bänken links und rechts des Throns. »Der Senat ist zunächst entlassen.«
Die beiden Soldaten warteten bereits auf ihn, als er in seinem Kräuterzimmer eintraf. Er nannte es so, da er es zumeist nur dafür nutzte, um seinem großen Laster nachzugehen: dem Rauchen. Melacho besaß eine Sammlung von kunstvoll geschnitzten Pfeifen, die ihm sein Großvater vermacht hatte. Es waren die verschiedensten Ausführungen enthalten, äußerst lange und auch kurze Holme, unterschiedliche Mundstücke, eine jede war einzigartig und speziell angefertigt.
Es wunderte den König nicht, dass seine Kindheitsfreunde bereits ihre jeweiligen Pfeifen angesteckt hatten. Ihn begrüßten der herrliche Geruch und der Rauch, den er gerade in solch einer Zeit sehr schätzte. Die zwei saßen auf den Sesseln, die vor dem Kamin standen, beide zurückgelehnt in das Polster und die Kissen. Geschafft ließ sich Melacho ebenfalls auf eine der Sitzgelegenheiten fallen.
»Ah, tut das gut, endlich ein Sessel, auf dem mein Arsch nicht wehtut!«
Calansir, der sein Haar immer kurz geschoren trug, zog an der Pfeife und grinste. »Königliche Sorgen sind die schrecklichsten Sorgen.« Er sprach die Worte und ließ gleichzeitig den Rauch herausquellen. »Ist der Thron so schlimm unbequem, Eure königliche Weichheit?«
Melacho machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich möchte dich mal sehen, wenn du den lieben langen Tag auf diesem Folterinstrument sitzen müsstest! Du würdest dich noch viel mehr beschweren!«
»Möglich, aber dieses Privileg überlasse ich mit Freuden allein dir!«, erklärte Calansir, dessen Größe dafür sorgte, dass sein Kopf über die Rückenlehne des Sessels hinausragte. Bei seiner muskulösen Statur war es beinahe ein Wunder, dass er zwischen die Seitenlehnen passte.
Abaro, dessen schulterlangen, blonde Haare schon mehr als einmal für Diskussionen zwischen dem Soldaten und seinem König gesorgt hatten, klopfte seine Pfeife in eine metallene Schale aus. Er wirkte nicht ganz so belustigt wie sein Waffenbruder.
»Majestät, weshalb habt Ihr uns zu Euch gerufen?«
Melacho runzelte die Stirn. »Weshalb so förmlich, Abaro? Möchtest du nicht auch deine Meinung zu den königlichen Backen abgeben, oder hast du eine weitere Verabredung?«
»Das ist ein Bild, was ich nicht in meinem Kopf haben will, Melacho«, sagte Abaro und runzelte zum Beweis, angewidert zu sein, die Stirn. »Hier im Palast habe ich immer das Gefühl, belauscht zu werden. Als ob deine Gattin hinter der Wand hockt und jedes Wort mithört.«
»Mach dir keine Sorgen, sie würde nicht dahinter passen!«, meinte Calansir und lachte laut. Melacho, der sich gerade eine Pfeife mit langen Holm und kleinen Kopf angesteckt hatte, musste ein Lachen seinerseits unterdrücken.
»Calansir, so kannst du nicht über die Königin reden!« Sein Tadel war wenig ernstgemeint und Calansir bleckte die Zähne. »So fürchterlich ist sie nicht, und auch nicht so füllig, wie du sie immer darstellst. Aber ja, sie wäre auch nicht meine erste Wahl gewesen. Doch, was blieb mir anderes übrig, meine königliche Mutter, der Eine habe sie selig, hatte sie ausgesucht. Sie hat den richtigen Namen. Was mich auch zu dem Grund bringt, weshalb ich euch gerufen habe.«
Beide der Soldaten machten ein interessiertes Gesicht. Abaro stand auf, um eines der Fenster zu öffnen. Melacho wusste genau, dass sein Freund nur ungern im Kräuterzimmer war und es noch weniger mochte, eine Pfeife selbst zu rauchen. Er war jemand, der an der frischen Luft sein musste.
»Geht es um die Königin?«, wollte Calansir wissen.
»Nein, aber um eine ehemalige Herrscherfamilie, die offenbar nicht mit ihrer jetzigen Stellung in der bekannten Welt zufrieden ist.«
Calansir zuckte mit den Achseln. »Wer ist das schon?«
»Lässt du mich nun erzählen, oder müssen wir uns noch mehr von deinen herzlich unlustigen Einwänden anhören?«, fragte Melacho, der zwar nicht verärgert über das Verhalten seines Freundes war, doch langsam ungeduldig wurde. Entschuldigend hob der riesenhafte Mann die Arme und rauchte seine Pfeife. Abaro setzte sich wieder zu ihnen.
Melacho erzählte, was ihm der Stallmeister aus Alotek berichtet hatte. Die beiden Hauptmänner der zwei Kasernen der Hauptstadt Jerobina hörten ihm aufmerksam zu, selbst Calansir unterbrach ihn nicht. Als der König verstummte, bemerkte Melacho, dass Abaros Blick ins Leere abgedriftet war. Es schien ihm, als ob sein Freund mit seinen Gedanken nicht mehr bei ihnen war. Er wurde aus seiner Beobachtung zurückgeholt, als Calansir in die Hände klatschte und diese voller Tatendrang aneinander rieb.
»Eine Reise steht an, habe ich recht?«, fragte er freudig. Auch Abaro schien nun aus seinen Gedanken gerissen worden zu sein.
»Dieser Verrat am Thron muss bestraft werden, keine Frage. Ich würde jedoch zur Vorsicht raten, Melacho. Womöglich erwartet der alte Wyndos genau diese Reaktion von dir. Die vorderste Priorität muss die Sicherheit des Landes und der Hauptstadt sein.«
Der König sah ihn interessiert an. »Was möchtest du mir damit sagen, Abaro?«
»Ich stelle einen Trupp zusammen und reite nach Alotek, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Wir reisen nicht als Soldaten. So fallen wir nicht auf und die Familie Fingrabor fühlt sich nicht bedroht.«
Calansir verdrehte die Augen und seufzte. Melacho wusste, dass der riesenhafte Mann schon immer Konflikte mit Gewalt lösen wollte und gern bereit war, Risiken einzugehen. Abaro hingegen war ein zurückhaltender Mann, der einen gut durchdachten Plan bevorzugte. Der König hatte die beiden nicht allein wegen Freundschaftsbanden gemeinsam so schnell und so hoch aufsteigen lassen. Sie waren wie ein zweischneidiges Schwert: Es war immer besser, zwei Möglichkeiten zu haben, seinen Feind zu besiegen.
Im Normalfall pflichtete Melacho Abaro zumeist bei, Vorsicht beinhaltete oft auch Weitsicht. Doch heute war etwas anderes. Der König zog kräftig an seiner Pfeife und genoss es, die Dämpfe zu inhalieren. Als sich der Rauch etwas verzogen hatte, setzte er sich vor.
»Weshalb sollte sich die Familie Fingrabor nicht bedroht fühlen? Sie bedrohen nicht allein meine Familie, nein! Sie bedrohen die gesamte bekannte Welt mit ihren Plänen. Wyndos und der Rest dieser Bande wollen mich stürzen, Abaro! Verstehst du, was das bedeutet? Ich kann es dir sagen, wenn du es nicht sehen willst. Krieg!«
Während Abaro etwas erwidern wollte, nickte Calansir zufrieden. »Hör auf deinen König, Abaro. Und weshalb solltest du allein den Spaß bekommen? In Jerobina ist zu wenig los, ich muss meine Klinge endlich wieder in etwas rammen! Die Schilde von Soldaten reichen mir nicht.«
»Ich will dir sicherlich nichts wegnehmen, mein Freund«, erklärte Abaro. »Und ich verstehe sehr gut, was dieser Verrat zur Folge haben kann. Genau deshalb will ich so bedacht vorgehen! Warum zu den Waffen greifen und eine Schlacht schlagen, wenn wir diesen Konflikt auch anders lösen können?«
Melacho erkannte von Neuem, wie unterschiedlich die beiden Männer waren. Doch dieses Mal hatte er das Gefühl, dass mehr hinter dem Plädoyer Abaros steckte. Ob er mehr vermutete, als er ihnen gegenüber zugeben wollte? Calansir hingegen runzelte die Stirn.
»Manchmal verstehe ich nicht, weshalb du Soldat geworden bist. Wenn du dein Schwert nicht benutzen willst, solltest du wohl eher in die Politik gehen! An dir ist ein großartiger Senator verloren gegangen.«
Trotz ihrer Unstimmigkeiten musste Abaro lächeln. »Dann wäre ich ein Senator, der besser mit dem Schwert umzugehen weiß, als der Hauptmann der königlichen Streitmächte!«
Alle drei Männer mussten nun lauthals lachen. Melacho bemerkte, dass sie dies viel zu selten taten. Alles war nicht mehr so wie früher, als die drei gemeinsam in Camajira aufgewachsen und zu Männern gereift waren. Der alte Statthalter des Prinzenpalastes war der Meinung gewesen, dass der Thronfolger unheimlich davon profitieren würde, mit Jungen außerhalb seines eigenen Standes Umgang zu haben. Auf einem Spaziergang durch die Stadt, bei welchem Melacho und seine Leibwächter auf offizielle Kleider verzichtet hatten, war es dann geschehen. Drei halbstarke Jungen hatten ihn ohne Grund mit faulen Eiern beworfen. Doch noch bevor die Wachmänner hatten eingreifen können, waren Abaro und Calansir erschienen. Obwohl Calansir schon damals größer war als jeder in seinem Alter, hatten ihn die drei anderen überragt. Doch dies hatte beide Jungs nicht gestört. Wie selbstverständlich waren sie Melacho zur Hilfe geeilt und hatten den Werfern Dreck in die Augen geschmiert, um ihren Größennachteil zu egalisieren. Und auch wenn die Leibwächter danach dazwischen gegangen waren, hatte der damalige Prinz seine Helfer nicht vergessen. Noch an dem Tag waren die zwei Jungen in den Palast eingeladen worden. Seitdem waren sie unzertrennlich gewesen. Und auch wenn sie nun viel größere Pflichten hatten, so war ihre Verbindung noch immer stark.
Calansir paffte an seiner Pfeife. »Also ist es entschieden? Wir versammeln eine kleine Armee und ziehen aus?«
»Es scheint so, früher war es noch einfacher, dem König bessere Pläne zu empfehlen«, seufzte Abaro.
»Ja, ich beauftrage euch hiermit, die Armee der Königlichen Region einzuberufen!« Melacho stand auf und trat hinter die Sessel. »Und ich werde euch begleiten.«
Beide Soldaten wandten ihre Köpfe schlagartig zu ihm. Calansir konnte über die Lehne blicken und der König entdeckte ein draufgängerisches Grinsen in seinem Gesicht. Der Hüne nickte ihm anerkennend zu.
Abaro hingegen musste sich um die Rückenlehne herumstrecken, um dem König in die Augen zu sehen. Er schien Angst zu haben.
»Melacho, ich bitte dich, tu das nicht! Ein König hat nichts in seiner Armee zu suchen. Wozu hast du uns beide, wenn du deine Truppen selbst anführen willst? Es ist zu gefährlich!«
Der König hob die Augenbrauen. Er konnte verstehen, dass sich sein Freund Sorgen um ihn machte. Doch Abaro zweifelte an seinen Fähigkeiten, seine eigenen Soldaten zu befehligen. Das ging zu weit.
»Ich bin genauso ausgebildet worden, wie ihr zwei es seid. Ich mag vielleicht nicht die natürliche Stärke Calansirs oder deine Schnelligkeit und Technik haben. Dennoch bin ich ein fähiger Kämpfer! Traust du mir nicht zu, den Sieg über diese Familie zu erlangen?«
Abaro war nun aufgestanden und auf ihn zugeschritten. »Du weißt, dass ich es nicht so meine, wie du mich jetzt verstehen willst. Was ist, wenn unsere Feinde genau das wollen? Der König, außerhalb der sicheren Mauern von Jerobina, auf dem Land der Familie Fingrabor. Was passiert, wenn sie dich töten? Du hast keinen Thronfolger. Die bekannte Welt würde in Chaos verfallen. Genau das wollen die alten Herrscherfamilien.«
Melacho musste zugeben, dass die Worte seines Freundes Sinn ergaben. Sein Entschluss barg durchaus ein gewisses Risiko. Doch er wusste, dass er sich nicht in seinem Palast verkriechen konnte. Würde bekannt werden, dass sich eine der alten Familien gegen ihn aufgelehnt und er andere vorgeschickt hatte, seinen Namen zu verteidigen, würde seine Untertanen ihn für schwach halten. Und er wollte ein starker und guter König sein. Er konnte nicht anders.
»Ich habe mich entschieden und werde mich nicht umstimmen lassen. Danke für deine Sorge um mein Wohlergehen, Abaro. Ich weiß dies sehr zu schätzen. Doch Pflicht und Ehre verlangen, dass ich für meinen Vorfahren Hattovan eintrete. Ihr habt drei Tage, um alle Vorbereitungen zu treffen. Bis dahin.«
Die königliche Armee war mehr als zwei Monate unterwegs gewesen, bis sie Alotek erreicht hatten. Obwohl die gesamten Truppen beritten waren, kamen sie nicht schneller voran. Der König hatte beschlossen, diese Reise zu benutzen, um seinen Untertanen einen seltenen Blick auf ihr Oberhaupt zu gewähren. Wer nicht in der Nähe von Jerobina lebte, hatte in den seltensten Fällen einmal einen König von Nahem erblickt. Die Menschen, besonders die der Gildenregion und der Eisernen Region, waren begeistert, dass Melacho sie besuchte. Abaro hingegen hatte zerknirscht festgestellt, dass die Familie um Wyndos nun ganz sicher davon erfahren hatte, dass der König unter seiner Armee war. Doch der König fürchtete sich nicht.
Gut dreitausend fähige Soldaten waren jederzeit um sie herum, die ihr Leben bereitwillig geben würden, um ihn zu schützen. Um seine Sicherheit machte sich Melacho keine Sorgen. Vielmehr darum, ob er auch in der Umgebung rund um Alotek so herzhaft begrüßt werden würde.
Die Familie Fingrabor hatte wahrscheinlich alles darangesetzt, ihn in den Augen der Bürger zu denunzieren. Daher war es auch so wichtig, dass er sich ihnen allen zeigte. Melacho wollte die Unterstützung der einfachen Menschen nicht verlieren. Diese Leute waren einer der großen Vorteile gewesen, die Hattovan damals auf seiner Seite gehabt hatte.
Und doch hatte ihn gerade Abaro zur Vorsicht gedrängt. Je näher sie der Burgstadt kamen, desto intensiver waren die Sicherheitsmaßnahmen. Jeder, der den Reden des Königs beiwohnte, wurde genauestens auf versteckte Waffen kontrolliert. Anfangs hatte Melacho dies noch zu verhindern versucht, da er die Bewohner der umliegenden Dörfer und Städte nicht ebenfalls als Verräter darstellen wollte. Doch als Abaros Männer bei einem alten Greis ein Wurfmesser gefunden hatten, musste auch der König zugeben, dass die Maßnahmen begründet waren.
Der Einfluss der alten Herrscherfamilie schien groß zu sein, was Melacho traurig stimmte. Er selbst hatte nie das Gefühl gehabt, als König versagt zu haben, sodass seine Untertanen unzufrieden werden konnten. Calansir hatte gemeint, dass er sich diesen Vorfall nicht zu Herzen nehmen sollte. Sobald sie den Massen den Kopf von Wyndos präsentieren würden, waren jedwede Zweifel an seiner Position bereinigt worden. Er würde schon sehen.
Späher hatten keine größeren Ansammlungen von Kämpfern in der Nähe der Stadt entdecken können. Die Männer waren anschließend ohne Rüstungen sogar bis in die Burg vorgedrungen. Allem Anschein nach war die gesamte Familie nicht länger dort.
Melacho hatte sich von Ninstan eine Karte zeichnen lassen, die den Standort des Landhauses zeigte. Es war einen mehrstündigen Ritt entfernt, weshalb der König vorschlug, in Alotek zu bleiben und am nächsten Tag das Landhaus anzusteuern. Dieses Mal waren Calansir und Abaro einer Meinung. Die drei Männer saßen, einen Kilometer entfernt von der Stadt, im Kommandozelt. ‚Zelt’ war etwas zu viel gesagt, denn lediglich eine dunkelrote Plane war an vier Pfosten gespannt worden, die Seiten waren frei. Auch ihre Sitzgelegenheiten waren mehr als dürftig, sie hatten auf dreibeinigen Hockern Platz genommen. Was hätte Melacho für einen seiner Sessel gegeben, doch dies war keine normale Reise.
»Kommt nicht infrage! Wir wissen nicht, wie sehr die Bewohner der Stadt hinter der Familie stehen. Dort zu verweilen kann ich auf keinen Fall zulassen!«, schloss Abaro seine Rede, nachdem Melacho seinen Gedanken geäußert hatte. Calansir ließ seine Finger knacken.
»Genug gewartet, sage ich! Zwei Monate haben wir schon in Städten verbracht, wenn wir nicht gerade auf dem Pferderücken saßen. Lass uns tun, weshalb wir hier sind. Die Männer sind bereit!«
Melacho wusste, dass er keine Möglichkeit hatte, sich gegen beide Männer durchzusetzen. Er war zwar ihr Herrscher, doch so wichtig war ihm sein Wille nicht, um einen Streit mit ihnen vom Zaun zu brechen. Langsam nickte er.
»Gut, gut, wenn meine Hauptmänner mir diesen Rat erteilen, werden wir gleich aufbrechen.« Er sah von Abaro zu Calansir. »Erläutert mir noch einmal den Ablauf.«
»Die Späher reiten vor, um die Umgebung rund um diesen Landsitz auszukundschaften. Sobald wir genauere Informationen haben, mache ich mich mit einem Drittel unserer Streitkräfte auf, um das Gebiet zu umkreisen. Wir halten einen so großen Abstand, dass man uns von dem Gebäude aus nicht erkennen wird«, trug Abaro vor. Calansir hustete.
»Das Drittel der Männer, das mir untersteht, schließt einen weiteren Ring um die Verräter. Du«, und er deutete auf Melacho, »gehst auf direktem Wege zu dem Haus und verlangst, dass sich die Familie Fingrabor dir ausliefert.« Er setzte bei diesen Worten eine entnervte Miene auf. »Wenn sie direkt aufgeben, sparen wir uns das Blutvergießen. Warum auch immer.«
»Falls nicht«, fuhr Abaro fort, »rücken wir vor und nehmen den Landsitz ein. Sie werden keine Möglichkeit haben, zu fliehen. Und du bist allzeit von Soldaten umringt, die dich schützen.«
Melacho nickte zufrieden. Er hatte darauf bestanden, nicht in weiter Entfernung zurückgelassen zu werden, wie es Abaro am liebsten gewesen wäre. Wyndos und seine Kinder sollten nicht den Eindruck erhalten, dass er sie nicht selbst zur Rechenschaft ziehen würde. Dennoch wollte er sich nicht unnötig in Gefahr begeben.
»Wissen wir mittlerweile, wem dieses Landhaus gehört?«, fragte er seine Freunde. Calansir schüttelte den Kopf.
»Der Familie gehört es jedenfalls nicht. In der Stadt wusste keiner derjenigen, die unsere Leute gefragt haben, wer der Besitzer ist. Und es spielt auch keine Rolle. Er wird sich mit ihnen ergeben, oder sterben. Mir ist beides recht.«
Die drei Männer standen am Rand eines kleinen Waldstücks. Dort sollten die Späher dem König und seinen Hauptmännern direkt Bericht erstatten. Sie warteten schon eine Weile, was sie nicht gerade positiv stimmte. Waren die Kundschafter aufgefallen und gefasst worden? Die Abenddämmerung war auf dem Vormarsch, weshalb er die Züge seiner beiden Freunde nur noch undeutlich erkennen konnte. Da erinnerte sich Melacho an etwas, das er von seinen Truppen aufgeschnappt hatte.
»Abaro, ich habe da etwas gehört, was mich fröhlich und traurig zugleich stimmt.« Er schlug dem blonden Mann freundschaftlich auf die Schulter. »Ich habe einem Gespräch der Männer beigewohnt, wo ein Soldat behauptet hat, dass er dich mit einer Frau aus einer Heilstätte gesehen hat. Ihr zwei schient euch näher zu kennen, nur nach Freundschaft schien es nicht auszusehen.«
Der König grinste, was die anderen beiden nicht sehen konnten. Im Halbdunkeln konnte Melacho ebenfalls nicht genau erkennen, wie Abaro auf seine Worte reagiert hatte.
»Stimmt das, du alter Hund?«, wollte Calansir interessiert wissen. »Hast du eine Gefährtin gefunden und es nicht für nötig gehalten, uns davon zu erzählen? Sind wir dir so peinlich?«
Abaro zögerte. Er schien nicht zu wissen, was er zu ihnen sagen sollte. »Es...es ist noch nicht lang, dass wir uns...kennen. Und da wir ja nun so lange weg sind, weiß ich nicht, ob sie mich noch will, wenn ich wiederkehre.«
Melacho lachte. »Immer so bescheiden, mein Freund. Warum sollte sie dich nicht mehr wollen? Du bist doch ein guter Fang für jede Frau! Wie heißt denn die Glückliche?«
»Das ist sehr freundlich, Hoheit. Ihr Name ist Nistara.«
»Er wird immer untertänig, wenn ihm etwas unangenehm ist, ist dir das schon einmal aufgefallen, Melacho?«, meinte Calansir, dem der Spaß an dieser Situation anzumerken war.
»Ein wenig mehr Respekt mir gegenüber könnte dir manchmal gar nicht so schlecht stehen, du Riese!« Melacho zog Abaro näher an sich heran. »Nistara ist ein schöner Name, also wird er zu ihr passen, wenn sie dir den Kopf verdreht hat. Meinen Glückwunsch!«
Abaro klopfte dem König auf die Schulter. »Danke. Sie ist eine besondere Frau.«
Auch Calansir gesellte sich nun zu ihnen. »Du kannst sie uns vorstellen, wenn wir zurück sind. Jetzt verstehe ich auch, weshalb du so vorsichtig vorgehen willst. Jemand wartet zuhause auf dich!«
Sie lachten, doch Melacho wunderte sich. Weshalb hatte Abaro, wenn die Heilerin Nistara der Grund für seine Umsicht war, dann allein gehen wollen, um etwas gegen die Verräter zu unternehmen? Das passte nicht zusammen.
»Das mache ich«, meinte Abaro.
»Guter Mann. Und, Melacho, vermisst du deine Herzensdame ebenfalls?«, wollte Calansir wissen. Auch wenn Melacho nicht genau zugehört hatte, war ihm der Ton, den sein Freund angeschlagen hatte, nicht entgangen. Doch er beließ es bei einem Augenrollen, was Calansir nicht sehen konnte. So nah vor einem möglichen Kampf wollte er nicht diskutieren.
»Durchaus, ja. Sie ist immerhin meine Gattin. Sie entwickelt so langsam auch Interesse an meinen Geschäften, sie fragt immer öfter nach, wenn ich von meinem Tag erzähle.«
»Das wundert mich, hast du dir schon einmal zugehört?«, neckte Calansir ihn.
»Du bist doch nur neidisch, dass du noch keine Frau gefunden hast, der du von deinem Tag erzählen kannst«, versuchte der König den Spieß umzudrehen. Jetzt lachte Calansir erneut.
»Ich habe die einzige Dame, die ich brauche, immer an meiner Seite«, erklärte er und klopfte auf sein Schwert. »Mit ihr habe ich niemals Ärger, glaubt mir!«
»Reiter!«, rief Abaro und deutete auf Schemen, die immer deutlicher wurden, je näher sie kamen. Melacho zählte sie und bemerkte, dass zwei von ihren Spähern fehlten.
Die Männer hielten kurz vor den drei Freunden und stiegen ab, um sich vor dem König und ihren Hauptmännern zu verbeugen.
»Majestät, wir haben das Haus ausgekundschaftet«, berichtete einer von ihnen. Seine Züge konnte Melacho nicht ausmachen.
»Das ist mir schon klar. Sprich, wir wollen keine Zeit verlieren!«
Der Mann verbeugte sich erneut, wie es den Anschein hatte. »Natürlich, Eure Hoheit. Sie haben Kämpfer dort, wir konnten die Zelte erkennen. Fünfhundert Mann, grob geschätzt. Sie sind in Bereitschaft.«
»Wie ich es befürchtet hatte«, sagte Abaro zu ihm. Er wandte sich zu dem Reiter. »Weshalb fehlen zwei von euch?«
Der Späher hielt für einen Moment inne. »Wir...wir wurden entdeckt. Die beiden sind von Pfeilen getroffen worden.«
Alarmiert zog Abaro die beiden etwas zurück. »Wir müssen jetzt zuschlagen, bevor sie uns überraschen oder fliehen können!«
»Ja«, erwiderte Melacho nur. Er wusste genau, dass Abaro und Calansir erfahren genug waren, um die Situation richtig einschätzen zu können. Als der Hüne keine Einwände vorbrachte, rief Abaro die Befehle. Sofort kehrte Leben in das ansonsten stille Waldstück ein.
Ein plötzlicher, lauter Knall übertönte all ihre Vorkehrungen. Er erinnerte Melacho an ein Gewitter, der Donner war jedoch nicht nur zu hören. Ein Beben erschütterte sie, so stark, dass der König seinen festen Stand verlor. Etwas Vergleichbares hatte er bisher noch nie erlebt. Die Auswirkungen dieses Phänomens spürte er bis tief in seinen Körper.
Jeder von ihnen sah auf die Stelle, von der sie das Geschehnis vermuteten. Es kam aus einem weiteren Waldstück, das gegenüber von ihnen lag. Der Weg zu dem Landhaus teilte die Baumreihen.
Nun erblickte Melacho einen Lichtblitz, doch er kam nicht, wie ein Blitz, aus dem Himmel, sondern von der Erde. Unsicher sah er zu seinen beiden Hauptmännern.
»Los, schauen wir nach!«, rief Calansir kühn und machte ein Klatschzeichen, welches er mit seinem Trupp der Armee vereinbart hatte. Zögerlich, doch gehorchend, folgten die Soldaten ihrem Hauptmann.
»Calansir, warte!« Abaro schien Angst zu haben, wirkliche Furcht. Er sah zu Melacho. »Warte hier mit den Männern, bleib in Sicherheit!«, befahl er ihm beinahe und rannte hinter den Truppen des Freundes her, zum Ursprung des Knalles.
Melacho stand einige Momente da, er fühlte die Blicke seiner Soldaten auf ihm. »Was starrt ihr mich so an, wir folgen ihnen!«, brüllte er und begann seinerseits die Verfolgung. Der König wollte unter keinen Umständen ein Feigling sein. Seine eigenen Bedenken, diesem unheimlichen Ereignis auf den Grund zu gehen, warf er beiseite. Seine Männer bildeten eine Art Schutzkreis um ihn, während sie liefen.
Sie erreichten das zweite Waldstück und arbeiteten sich weiter vor, hinein in das dunkle, raschelnde Ungewisse. Einige der Soldaten hatten Fackeln entzündet, die sowohl Calansirs, als auch seine eigene Truppe hatte tragen sollen, sobald sie am Landhaus angekommen waren.
Melacho rannte, doch wusste er nicht, wohin genau. Er konnte trotz der Lichtquellen nicht erkennen, wohin die anderen gestürmt waren.
»Halt!« Seine Stimme war seltsamerweise fest und klar. »Wir müssen die anderen finden. Wild umherzulaufen wird uns nicht weiterbringen.«
Der König trat aus seinem menschlichen Schutzkreis, um nach Hinweisen zu suchen. Spurenlesen konnte er nicht, doch vielleicht waren seine Soldaten darin geschult.
So unangekündigt wie der Knall und Lichtblitz zuvor, spürte er lodernde Wärme hinter sich. Auch war es mit einem Male deutlich heller als noch zuvor. Melacho stand auf und drehte sich um.
Hinter ihm türmte sich eine flammende Wand auf. Ein Feuer, was bis zu den Bäumen ragte, war wie aus dem Nichts entfacht. Es hatte ihn von seinen Männern getrennt, keiner der Soldaten stand noch neben ihm.
Panisch zog Melacho sein Schwert. Wie konnte das möglich sein? Hatten die Fackelträger ihr Feuer fallengelassen und so einen Waldbrand verursacht? Das umliegende Holz war so nicht trocken, dass bereits ein kleiner Funke genügte. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet. Der König hielt seine Klinge von sich gestreckt, als ob jeden Moment ein Feind auf ihn zuspringen würde. Doch es war niemand da.
»Könnt ihr mich hören?«, rief er in Richtung der Flammen, wo noch kurz zuvor Soldaten gestanden hatten. Doch alles, was er hörte und was ihm eine Antwort schenkte, war das Knacken des Feuers.
Es hatte ihn gänzlich von allen anderen abgeschnitten. Wie eine Schlange bahnte es sich seinen Weg, was dem König noch seltsamer vorkam. Denn es breitete sich nicht wie herkömmliches Feuer aus, sondern formte eine Art Linie. Etwas hier stank ganz gewaltig, und es war nicht allein der Geruch nach verbranntem Fleisch. War es möglich, dass die Familie Fingrabor einen Begabten gefunden hatte?
Nur noch vereinzelte Gerüchte zeugten von der Existenz der Magier, die gejagt, zusammengetrieben und getötet worden waren. Doch weshalb hatten sie ihn dann nicht dem Feuer übergeben?
Melacho sah sich um und wurde gewahr, dass er das Waldstück verlassen konnte. Das ist ihr Plan, sie wollen, dass ich freiwillig zu ihnen gehe und zu Kreuze krieche. Darauf können sie lange warten! Der König fasste den Plan, tiefer zwischen die Bäume zu wandern, bis er irgendwo auf seine Männer traf. Sie sollen mich schon selbst holen, wenn sie mich haben wollen!
Da knackte hinter ihm ein Ast und Melacho fuhr erschrocken herum. »Eure Hoheit, so ganz allein hier im Wald?«
Die Stimme des Mannes, der sich ihm unvermittelt gezeigt hatte, deutete bereits an, dass er noch jung war. Der König musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er hatte dunkelbraunes, ungepflegtes Haar, was ihm etwas in sein Gesicht fiel. Das Licht des Feuers offenbarte sogar rote Unreinheiten auf seiner Haut. Er war nicht sonderlich groß, doch schlank. Der junge Mann, falls er überhaupt schon einer war, trug einfache Kleider. Doch das vielleicht faszinierendste an ihm waren seine Augen. Vielmehr die Narben auf der Haut um seine Augen herum. Melacho dachte daran, dass es so aussehen könnte, wenn jemand eine lange Zeit direkt in die Sonne blickte. Oder in Feuer.
»Bist du für die Flammen verantwortlich?«, fragte er den Jungen, sein erster Schrecken war allmählich gewichen. Dieser sah zur feurigen Wand und machte eine abwehrende Geste.
»Das ist nicht mein Geschmack, ganz und gar nicht. Wie es der Zufall so will, wollte ich genau mit dir sprechen.«
Melacho runzelte die Stirn. Er überlegte, ob dies ein Mitglied der Familie Fingrabor sein konnte, der sich seinen Spaß mit ihm gönnte. Es verärgerte den König ungemein, dass dieser Knilch ihm nicht den gebührenden Respekt erwies. Bedrohlich ging er auf den Jungen zu.
»Sieh zu, dass du zurück zu den deinen kommst! Wenn ihr auf die Knie vor mir geht, verschone ich sogar euer Leben. Falls mir danach ist.«
Jetzt lächelte der Fremde freundlich. »Das ist ganz offensichtlich ein Missverständnis. Ich bin keiner von der früheren Herrscherfamilie, keinesfalls! Sie waren zwar einer der Gründe, weshalb ich mich hier aufhalte, doch du, ja du Melacho, bist der eigentliche Zweck meines Besuchs!«
Melacho war sich langsam sicher, dass der Junge verrückt war, nicht richtig im Kopf. »Und was könnte ein Bursche wie du von mir wollen?«, fragte er. Der König wollte das Spiel mitspielen. Solche Menschen konnten schnell gefährlich werden und er legte es nicht darauf an, einen bescheuerten Jungen zu töten. Dieser verbeugte sich nun vor ihm.
»Die bekannte Welt!« Melacho wollte das Wort ergreifen und ihm erklären, dass diese nicht zu verschenken war, doch der Junge hob die Hand. »Lass mich erklären: Ich habe der Familie Fingrabor Hilfe zugesagt, dich zu stürzen. Sie sind eine stolze Familie, von Generation zu Generation wurde einzig der Hass auf das Geschlecht des Hattovans vererbt. Keine Münzen. Aber das habe ich nur getan, um dich herzulocken! Ich hätte ihnen niemals irgendetwas gegeben, diesem dreckigen Pack. Doch ich benötigte deine Aufmerksamkeit!«
Für voll nahm Melacho ihn schon nicht mehr, jetzt wurde es jedoch noch unterhaltsam. Auch wenn er sich gern angehört hätte, wie diese Geschichte weiterging, so wollte der König zu seinen Männern. Er musste sichergehen, dass Abaro und Calansir in Ordnung waren.
»Sehr ambitioniert für einen Burschen. Doch ich kann mich nicht länger mit dir aufhalten. Geh, bevor ich es mir anders überlege und dich niederstrecke!«
Das Lächeln war nicht aus dem Gesicht des Jungen verschwunden, doch er formte mit seiner Hand einen Kelch und drehte diesen. Unter Melacho brach der Boden auf, die Erde wurde weich und er versank wie in einer Schlammgrube. Der König wusste nicht, wie ihm geschah, doch eines war eindeutig: Der Junge war doch ein Begabter. Seine Hilfeschreie wurden von dem Magier ignoriert, währenddessen versank Melacho immer weiter, er steckte bereits bis zu den Hüften in der Erde, die einfach ihren festen Zustand verloren hatte. Der König versuchte, mit seinem Schwert in den noch stabilen Boden zu bohren, um sich festhalten zu können. Doch auch an der Stelle wurde die Erde weich und er fand keinen Halt.
Erst jetzt stoppte der Junge seine Bewegung und somit sank auch Melacho nicht tiefer. Er hörte auf, um Hilfe zu betteln, sondern blickte hoch zu dem Begabten, der nach wie vor lächelte.
»Ich denke, dir ist jetzt bewusst, dass ich kein einfacher Bursche bin. Du musstest einfach nur deinen rechtmäßigen Platz in der Welt finden: unter der Erde. Nicht wahr, Melacho?«
Der König fürchtete sich so sehr, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Hätte er auf Abaro gehört, wäre dies niemals passiert und er wäre in Sicherheit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nun das Spiel dieses Jungen zu spielen. Er wollte am Leben bleiben.
»Ja.«
»Ja ...?«
»Ja, Begabter.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nah dran, aber darauf wollte ich nicht hinaus. Ich bin von nun an dein Herr und Meister. Also hast du mich auch so anzusprechen.«
Alles in Melacho sträubte sich, doch er wusste, dass er ihm nachgeben musste. »Ja, Meister.«
»Sehr gut. Du musst nicht viel über mich wissen. Das Feuer wird gleich verschwinden und deine Freunde kehren zu dir zurück. Ihr werdet den Landsitz angreifen und die Familie Fingrabor vernichten. Anschließend kehrt ihr zurück nach Jerobina. Dort wirst du einen Mann, es ist mir gleich, wer er ist, in das Geheimversteck deiner Vorfahren führen. Dort wirst du ihn töten und warten. Hast du verstanden?«
Der König hatte nicht verstanden. Was dieser Junge, oder was auch immer er war, von ihm wollte, war verrückt. Doch es war alles zu real, um einfach nur ein Traum zu sein. Und Melacho wusste, dass er es bereuen würde, wenn er es nicht tun würde.
»Ja, Meister.«
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Jedoch wirst du warten, bis deine beiden Freunde die Stadt verlassen haben. Erst dann wirst du meinen Auftrag ausführen.«
Melacho stutzte. »Warum sollten sie Jerobina verlassen? Sie sind meine Hauptmänner, meine Freunde!«
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Jungen. »Hinterfrage mich nicht. Und erweise mir den Respekt, der mir zusteht.«
Die Hand, die er zuvor noch wie einen Kelch gehalten hatte, ballte er nun zu einer Faust. Gleichzeitig spürte Melacho den Schmerz. Die Erde, in der er sich befand, presste auf seine Beine, als hätte sie ein Steinblock aus hundert Metern Höhe getroffen und zerquetscht. Er schrie so laut in die Nacht hinein, dass man ihn bis in das Landhaus hören musste. Der Schmerz pochte in ihm und der König fühlte eine erlösende Ohnmacht. Da öffnete der Begabte die Faust wieder und die Qualen waren mit dieser verschwunden.
»Verzeiht mir, Meister«, presste Melacho hervor, der Blut in seinem Mund schmeckte. Der Blick des Jungen blieb eisern.
»Wir haben einiges zu tun, Melacho. Bis dahin.«
Die nächsten Stunden erlebte der König wie einen Fiebertraum. Er meinte, sich daran erinnern zu können, dass Calansir als erster durch die nachlassenden Flammen gesprungen gekommen war, ein wildes Lachen im Gesicht. Abaro, der ihm auf die Beine half. Die Hilfeschreie von Frauen und Kindern, das Betteln eines alten Mannes. Er sah ein Schwert, was hoch und runterzuckte, immer und immer wieder, bis der Stahl vor lauter Blut nicht mehr länger zu sehen war. Grölende Jubelrufe, ein Fest. Wein, gebratenes Fleisch, andere Speisen. Ein einsames Bett in einem Zimmer.
Melacho war am nächsten Tag schweißgebadet erwacht und atmete pustend. Er hatte es tatsächlich für einen Traum gehalten. Bis er sein Zimmer verlassen und erkannt hatte, dass er sich im Landhaus befunden hatte. Alles zuvor war tatsächlich geschehen.
Unverzüglich hatte er angeordnet, dass sie zur Hauptstadt zurückkehren sollten. Diesen schrecklichen Ort musste er hinter sich lassen. Niemand von ihnen hatte auf dem Heimweg viel gesprochen. Melacho hatte sich vorgenommen, niemals mit jemandem darüber zu sprechen, was er gesehen hatte. War ihm zuvor noch der Gedanke gekommen, diesen Begabten zu jagen und hinrichten zu lassen, hatte er schon während des Rückwegs solche Hoffnungen aufgegeben. Man hätte ihn für verrückt gehalten, so wie er den Jungen.
Abaro war noch zurückhaltender und schweigsamer als zuvor geworden. Er ritt oft nicht mit ihm oder Calansir, sondern hielt sich an anderen Standorten der Armee auf.
Und der Hüne hatte offenbar noch mehr Blut geleckt, als zuvor schon. Jede Disziplinlosigkeit hatte er mit drakonischen Strafen belegt und einfache Straßendiebe waren froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Deshalb und da Melacho so schnell wie möglich in die Sicherheit seines Palastes wollte, hatte er befohlen, dass er mit einer kleineren Gruppe in Brilur Schiffspassage buchen würde und so den Weg um einen Monat verkürzte.
In Jerobina angekommen, sagte er jedes Fest, das ihm zu seinem glorreichen Sieg gratulieren sollte, ab und schloss sich in seinem Schlafzimmer ein. Der König wollte nichts und niemanden sehen.
Woher der Junge von dem Geheimversteck wusste und wie er von der Zukunft wissen wollte, das blieb Melacho ein Rätsel. Er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern einfach zu schlafen.
Melacho blieb die meiste Zeit der nächsten Woche in seinem Gemach und ließ nur ausgewählte Bedienstete hinein. Seine Gattin gehörte nicht zu denjenigen, die er sehen wollte.
Nur einmal am Tag fragte er nach Neuigkeiten, die ihm sein Abenddiener berichtete. Der Senat machte sich Sorgen um ihn, das konnte er nachvollziehen. Er verhielt sich nicht gerade wie ein guter König. Melacho vertröstete sie mit der Nachricht, bald wieder der Alte zu sein. Auf der langen Reise hatte er sich eine Krankheit eingefangen, die es nun auszuschwitzen galt.
Das Volk war stolz auf den König, der unter eigenem Risiko dafür gesorgt hatte, dass Verräter ihre gerechte Strafe erhielten. Doch in der Hauptstadt kam Furcht auf. Ein schrecklicher Verbrecher suchte und tötete schwangere Frauen. Man sagte sich nach, dass die Leichen bestialisch zugerichtet waren. Deshalb hatte der Mörder den Namen Schlächter Jerobinas im Volk erhalten. Melacho schauderte und befahl, die Stadtwachen vermehrt patrouillieren zu lassen.
Seine beiden Freunde hatte er seit ihrer Ankunft nicht gesehen. Abaro war sich sicher, dass das Feuer ein Unfall gewesen war, ein unachtsamer Soldat, der seine Fackel verloren hatte. Calansir vertrat die Ansicht, dass die Familie dafür verantwortlich gewesen war. Er benutzte diese Vermutung, um seine Taten zu rechtfertigen. Melacho erinnerte sich nicht, in der Nacht noch Befehle erteilt zu haben, doch Calansir beteuerte, nach seinen Wünschen gehandelt zu haben. Der Hüne hatte die gesamte Familie Fingrabor hingerichtet, einen nach dem anderen. Egal, ob Mann, Frau oder Kind. Der König wollte sie beide zu sich rufen, er benötigte wieder Normalität. Doch zuerst musste er sich besser fühlen.
Seine Angst verschwand immer mehr, sodass er sich am Ende der Woche so kräftig fühlte, Besuch zu empfangen. Bald würde er sogar aus dem Bett aufstehen. Er rief seinen Abenddiener zu sich.
»Ja, Eure Hoheit?«, fragte dieser, als er hereinkam.
»Ich wünsche die Hauptmänner Abaro und Calansir zu sprechen. Schickt einen Boten, um sie holen zu lassen.«
»Sehr wohl, Majestät.«
Der Mann verschwand und Melacho war endlich einmal wieder guter Dinge. Er nahm sich vor, auch wieder seine Frau zu empfangen, es war zu lange her, dass sie sich gesehen hatten. Nach wenigen Minuten klopfte es bereits.
»Herein, meine Freunde! Ihr seid sehr schnell hier, Respekt!«, rief er fröhlich, doch es war erneut sein Diener, der eintrat. »Ach, du bist es. Was gibt es? Hast du den Boten etwa noch nicht losgeschickt?«
Der Abenddiener hatte alle Farbe im Gesicht verloren und schluckte laut, bevor er begann zu antworten. »Hoheit, der Bote ist zurück. Er hat etwas gesehen.«
Melacho blickte ihn fragend an. »Und, was? Ich kann keine Gedanken erraten.«
»Er sagt, es habe einen Kampf gegeben.«
»Einen Kampf? Auf der Straße? Haben sich die Wachen nicht darum gekümmert?«, fragte der König.
»Nein, niemand schien sich zu trauen, die beiden zu stören.«
Melacho verstand nicht. »Wen? Was soll das? Machst du Späße mit mir?«
»Nein, nein, das würde ich nicht wagen, Majestät. Die Duellierenden waren die Hauptmänner, Eure Hoheit. Abaro und Calansir.«
Der König konnte nicht glauben, was er da hörte. Er sprang aus dem Bett und zog sich selbst die Kleider an. Danach ging er zu der Tür, in der der Diener noch immer stand.
»Lass mich vorbei, ich muss zu ihnen und sie aufhalten! Was immer es für ein Streit ist, sie sind Freunde, meine Freunde!«
»Der Kampf ist vorüber. Beide sind geflohen, wohin, das weiß niemand. Keiner der Stadtwachen hat sie gesehen. Sie befinden sich nicht mehr in Jerobina.«
Melacho hatte das Gefühl, als hätte sich ein Loch in seinem Bauch geöffnet. Und dann kam die schreckliche Erkenntnis, die mehr schmerzte, als alles zuvor. Der König wandte sich zu dem Abenddiener.
»Komm mit, ich muss dir etwas zeigen.«