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Wo ein Wille, da ein Dolch
Оглавлениеvon Christian Milkus
Fayne wurde in Ketten in den Thronsaal geführt.
Hinter ihr liefen zwei Soldaten, während sie den länglichen Raum auf rotem Samtteppich durchschritt, vorbei an massiven Marmorsäulen. Licht flutete durch baumhohe Fenster den Saal. Die Rüstungen der Soldaten klapperten bei jedem Schritt, das Geräusch verlor sich in den Höhen des Gebäudes. Die Menschen an den Seiten starrten die Gefangene an, riefen Beleidigungen, verspotteten sie. Wie ein summender Wespenschwarm erfüllte ihr Murmeln den Raum.
Ihr Urteil schien schon gefällt.
Prinz Joaquin hatte soeben das Podium betreten, eine Stufe unter seinen Eltern, dem Königspaar. Entgegen seiner inneren Unruhe gab er sich nach außen hin unbewegt und unantastbar. Seiner geknickten Seele zum Trotz stand er mit gestrecktem Rücken da, wie man es von einem Prinzen und angehenden Ritter erwartete.
Tief atmete er durch, ballte seine Hände zu Fäusten und ließ sie wieder locker. Er zwang sich, seine Augen offen zu halten, den Blick nicht von der Szenerie abzuwenden. Mit zähen Schritten lief Fayne in Richtung Anklagebank, hinter ihr die Schwerter der Wachen, neben ihr die scharfen Zungen der Zuschauer, vor ihr die Justiz der Königsfamilie. Im Gegensatz zu Joaquin meisterte sie die Situation mit Ehrgefühl, ihr aufrechter Gang und ihr gehobener Kopf als Zeugen ihrer Stärke. Bei ihr war das nicht gespielt, wie er wusste, schließlich kannte er sie bereits, seitdem sie als kleine Racker zusammen im Schlossgarten gerauft hatten. Schon damals hatte er sie bewundert, und während ihrer engen Freundschaft hatte sie immer wieder bewiesen, dass sie eine selbstbewusste Kriegerin war. Selbst als sie sich als Zwölfjährige hinaus in die Gassen Lloyandasburgs getraut hatte, geschlagen und gedemütigt worden war und tagelang heulend in ihrem Zimmer gekauert hatte – irgendwann hatte sie sich wieder aufgerafft und der Welt ihr stolzes Gesicht gezeigt, zäher als je zuvor.
Ruhe kehrte ein, als Fayne den morschen, klapprigen Stuhl vor dem Podium erreichte. Sie setzte sich, und das Knarzen des Stuhles spukte durch den Raum wie ein Geist. König Zalamo hob seine Hand, um die letzten murmelnden Stimmen abklingen zu lassen, und der Meister der Justiz stand auf und verlas die Anklage.
Mord.
Fayne solle Schatzmeister Kelion ein Messer in den Bauch gerammt haben.
Ein schrecklicher Vorwurf.
»Ihr könnt nichts beweisen!«, brüllte Fayne – so erschütternd, dass Joaquin sich ausmalte, wie die Fenster zersplitterten.
Seine Mutter, Königin Hylenia, schüttelte verächtlich den Kopf, hatte für diese Respektlosigkeit kein Verständnis. Gleichzeitig umspielte ein Schmunzeln ihr Gesicht. Sie amüsierte sich darüber, wie Fayne hilflos zappelte wie ein Tier auf der Schlachtbank.
Die erste Zeugin wurde vernommen, ein junges Dienstmädchen. Während sie sprach, hielt sie ihren Blick gesenkt und spielte an ihren Fingernägeln herum. Sie redete so leise, dass Joaquin genau hinhören musste, um sie zu verstehen. Doch so sanft und lieblich ihre Stimme auch war, so beißend und gnadenlos waren ihre Worte. Und so dauerte es nicht lange, bis Faynes rebellischer, vor Kraft strotzender Blick sich in einen Ausdruck von Entsetzen und Verstörtheit verwandelte. Ihr Brüllen, das eben noch wie der Ausbruch eines wütenden Bären den Saal erfüllt hatte, wurde durch wenige Worte eines unscheinbaren Dienstmädchens zu dem Fiepsen einer Maus degradiert.
Auch die Mordwaffe – ein Küchenmesser – wurde nun präsentiert, angeblich von der Zeugin unter dem Schrank in Faynes Zimmer gefunden.
Von wegen keine Beweise.
Der nächste Zeuge wurde vernommen und berichtete von einem Streit zwischen Fayne und Kelion. Wie ein Hagelschauer prasselten die Anschuldigungen auf sie ein, die Klinge einer drohenden Verurteilung drückte immer fester in ihre bleicher werdende Haut. Joaquin spürte ihre Schmerzen, als säße er selbst auf dem Stuhl vor dem Podium. Seine und Faynes Seelen hatten sich über all die Zeit in treuer Freundschaft hinweg verbunden. Immer hatten die beiden zueinandergestanden, für alles gemeinsam gekämpft, sich immer aus schwierigen Situationen herausgeholfen.
Doch dann hatte sie der Königsfamilie einen Dolch in den Rücken gerammt.
Nach so vielen Jahren, in denen sie den Liandras treu gedient hatte, hatte sie sich eines Tages gegen sie gewandt. Immer öfter war sie mit den Entscheidungen von Joaquins Eltern nicht einverstanden gewesen, hatte mit ihnen wortgewaltig diskutiert, sich sogar öffentlich gegen sie ausgesprochen. Bis sie irgendwann zu weit gegangen war. Sie hatte versucht, andere Mitarbeiter am königlichen Hof auf ihre Seite zu ziehen, eine Neubesetzung verschiedener Ämter geplant, notfalls eine Rebellion.
Und seine Eltern hatten es herausgefunden.
Hochverrat.
Als Erstes war sie natürlich an ihren engsten Freund und treuesten Verbündeten herangetreten: an ihn, Joaquin, Prinz und Thronfolger. Doch was sie von ihm verlangt hatte, war unmöglich gewesen. Die eigene Familie hintergehen. Wie hatte sie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden können, wie hatte die finstere Saat des Verrats nur derart in ihr keimen können?
Wie sagte seine Mutter doch immer? »Deine Familie ist die Heimat deiner Stimme, der Ort deiner Zuflucht. Sie ist deine Vergangenheit und deine Zukunft. Deine Familie geht über alles.«
Über alles. Über alles.
Die Worte echoten in seinem Kopf. Er hatte sie schon so oft gehört, sie hatten sich eingebrannt und begleiteten ihn überall hin, ob in die fernen Ecken des Königreiches oder auf den Abort.
Während sich seine Gedanken immer wieder in die Vergangenheit verliefen, schritt die Verhandlung rasch voran. Als Nächstes sagte eine Wache aus, die schon seit zwanzig Jahren am königlichen Hof diente. »Habe sie eindeutig erkannt«, erklärte sie unter Eid. »Ist aus seinem Zimmer gekommen, dachte wohl, ist unbeobachtet. Aber nein, Eure Hoheit, war sie nicht. Ich war zufällig in der Kammer am Ende des Ganges, hab sie durch den Türschlitz gesehen. Ist durch die Gänge geschlichen wie eine Katze.«
Joaquin musste sich zurückhalten, nicht laut zu stöhnen und die Augen zu rollen.
Wie eine Katze – so ein Unsinn!
Niemals würde diese Wache sich so ausdrücken. Nein, in dieser Verhandlung war sie bloß eine Marionette, kontrolliert von der Königin, die ihr diese Worte in den Mund gelegt hatte.
Alles war inszeniert.
Das Manuskript dieses Prozesses war von Joaquins Eltern vorgeschrieben worden, alle Zeugenaussagen wurden im Schein der Lüge getätigt. Die Zuschauer verfolgten ein Schauspiel, allerdings eines mit bitterem, blutigem Ausgang. Mit Gerechtigkeit hatte das nichts zu tun, es war ein Hohn gegenüber den Göttern und ein Bruch gegenüber der Gesetzestafel, einst gefertigt von seiner Vorfahrin, Königin Lloyanda. Zwar hatte Fayne Verrat begangen, doch das konnte ihr nicht bewiesen werden, außerdem hätte das Volk dann eine öffentliche Hinrichtung verlangt, und das wäre nicht im Sinne des Königspaares gewesen. Also hängten sie Fayne einen Mord an, den sie selbst in Auftrag gegeben hatten. Der Schuldspruch dazu war bereits ausformuliert, die Worte mussten nach der Verhandlung nur noch zu Pergament gebracht werden.
Fayne hatte inzwischen aufgehört zu protestieren, hatte eingesehen, dass sie das Opfer eines ausgereiften Planes war, der keine Möglichkeit zur Flucht offenbarte. Was auch immer sie sagen oder tun würde, wer auch immer sich jetzt noch für sie aussprechen würde, an ihrem Schicksal würde nichts mehr kratzen können.
Schließlich verhallte auch die letzte Zeugenaussage im Saal, ihr Inhalt so unbedeutend wie für den Wolf die Blume. Bei der erdrückenden Beweislage, die sich im Laufe des Prozesses entfaltet hatte, war sie nicht mehr nötig gewesen, doch wollte Königin Hylenia etwas erledigt wissen, so sicherte sie alles drei- und vierfach ab.
Die sieben Verantwortlichen zogen sich nun zurück und berieten sich über das Urteil. Wortlos verfolgte Joaquin das Gespräch, das sich bloß als ein bewegtes Spottbild voller Schauspielerei darstellte. Vier der Anwesenden, inklusive ihm, waren in die Inszenierung eingeweiht, die anderen drei wären verrückt, wenn sie nach dieser so einseitig geführten Verhandlung an etwas anderes als eine hohe Strafe denken würden. Die monoton gesprochenen Sätze erinnerten ihn an das Rauschen des Meeres. Es wurde nicht gestritten, es wurde nicht laut, und er musste nicht richtig hinhören, schließlich sagte jeder dasselbe aus, nur in andere Worte verpackt. Und als am Ende dieses heuchlerischen Dialoges darüber abgestimmt wurde, ob Fayne schuldig war, hoben alle simultan ihre Hand – auch Joaquin, der sich mit dieser Geste offiziell gegen seine beste Freundin aussprach. Seine Eltern hatten es nicht anders erwartet, und er enttäuschte sie nicht.
Danach entsprang das erste Mal eine Diskussion, denn die Höhe der Strafe war nicht so eindeutig wie der Schuldspruch an sich. Exil, Kerker, Tod – alles kam in Frage. Doch auch diese Entscheidung stand schon vorher fest, denn die vier Eingeweihten stimmten – wie abgesprochen – für den Kerker.
Kaum war das Urteil gefällt, widmeten Joaquins Eltern ihr Gespräch dem Wetter und ihrer anstehenden Reise. Eigentlich war es auch für sie kein Alltag, eine langjährige und die meiste Zeit über loyale Dienerin der Königsfamilie für immer in ein kaltes, stinkendes Loch zu werfen, doch sie benahmen sich, als wäre dies ein nebensächlicher Zwischenfall, der vor dem Abendessen schnell noch abgehakt werden musste.
Innerlich zerrüttet von der Skrupellosigkeit, mit der seine Eltern das Urteil durchzusetzen vermochten, betrat Joaquin mit den anderen wieder den Saal. Seine Eltern nahmen auf ihren Thronen Platz, der Prinz selbst war zu unruhig, um sich hinzusetzen. Er wollte den Alptraum, der gleich seinen Höhepunkt erreichen würde, lieber im Stehen durchleben. Er wagte es kaum, auch nur einem der Anwesenden in die Augen zu gucken, doch die neugierige und fürsorgliche Seite in ihm setzte sich durch, und so schaute er kurz zu Fayne hinüber, die plötzlich zum ersten Mal während der Verhandlung seinem Blick begegnete.
Ihm war, als jagte ein Blitz durch seinen Körper.
Er kannte sie gut. Sehr gut. Manchmal konnte er aufs Wort genau vorhersehen, was sie sagen würde, und jetzt, in diesem Moment, mit diesem Feuer in ihren Augen, konnte er sich gut vorstellen, welche Worte auf ihrer Zunge lagen: Bist du zu feige, um mir zu helfen, oder warst du hinterlistiger Verräter sogar eingeweiht in diese Intrige?
Wie gern wäre er jetzt zu ihr gerannt, hätte sie in die Arme genommen und ihr alles erklärt. Ich konnte nicht eingreifen. Meine Mutter hat den Plan umgesetzt, bevor sie mir davon erzählt hat. Doch er presste seine Lippen aufeinander und spannte seinen Körper an. Er musste sich beherrschen.
Einen kurzen Moment lang war es still im Saal. Joaquin kam es vor, als hätte man die Zeit angehalten. Anspannung, Ungeduld, innere Zerrissenheit – würde man ihn jetzt schütteln, würden all seine Gefühle überkochen und sich wie eine Rauchschwade an finsteren Gedanken im Raum verteilen.
Der Meister der Justiz trat nach vorne. Er hustete und würgte, als hätte er Asche verschluckt, bevor er endlich sprechen konnte: »Unter den Händen Youlinas, Göttin der Gerechtigkeit, und im Namen König Zalamos, Herrscher und Beschützer über Qython, verkünde ich hiermit das Urteil. Die Angeklagte Fayne aus dem Hause Haberle wurde des Mordes an Schatzmeister Kelion überführt. Als Strafe wird sie den Rest ihres Lebens in den Kerkern Lloyandasburgs verbringen.«
Eine diffuse Mischung an Geräuschen erfüllte den Saal, laut, durchdringend, für Joaquin kaum auseinanderzuhalten. Ein Donnerwetter, das sich entlud und in seinen Ohren dröhnte. Die Leute klatschten, brüllten, johlten, eine Fehde zwischen Zustimmung und empörter Ablehnung, wenngleich die Freudenrufe zu überwiegen schienen.
Doch sämtliche Laute wurden verschluckt, als sich Faynes Stimme über alle anderen erhob. »Tu doch was!«, schrie sie aus voller Lunge. »Hilf mir! Bitte!«
Es war ein verzweifelter Ruf, der mit düsteren Klauen nach Joaquins Seele griff. Ihre Worte waren an ihn gerichtet. An wen sonst konnte sie sich im Angesicht dieser schrecklichen Strafe jetzt noch wenden? Es war nicht der Tod, den sie gefürchtet hatte, dem hätte diese starke Frau sogar trotzig in die Augen geschaut. Nein, es war der Aufenthalt im Kerker, der sie Beherrschung und Würde vergessen und wie ein kleines Kind flehen ließ. Denn er bedeutet nur Eines, und das wusste sie genau: Folter.
Wenn das Königspaar eine Person loswerden wollte, so war die Hinrichtung meistens der unkomplizierte Weg, schnell und risikolos. Dass Fayne in diesem Fall ihr Leben zugestanden wurde, war kein Geschenk, sondern eine noch schlimmere Strafe als der Tod selbst und gleichzeitig ein erbarmungsloser Schachzug. Es galt, mögliche Mitverschwörer zu entlarven, und das würde nur im Verhör auf der Streckbank oder mit dem Brandeisen auf der Haut gelingen.
»So führt sie hinab und geleitet sie in die Katakomben«, befahl die Königin. »Sie wird dort genug Zeit haben, über ihren Verrat nachzudenken. Wir werden dafür beten, dass sie ihre Schuld bereut, und die wahren Götter bitten, ihr zu verzeihen.«
Eine Wache griff Fayne unter die Arme und hievte sie hoch. Die Verurteilte schrie erneut, schluchzte. Tränen rannen ihre Wangen herunter. Doch schon kurze Zeit später schlug ihre Hilflosigkeit in Wut um, sie trat aus und versuchte, sich loszureißen. Eine andere Wache schlug ihr in den Magen, die Menschen um sie herum kamen näher und brüllten sie an.
Bei dem Schlag zuckte Joaquin zusammen und legte die rechte Hand an den Griff seines Schwertes. Doch er besann sich, atmete tief durch und nahm die Hand wieder weg.
Hoffentlich hat niemand meine Bewegung gesehen.
Er stieg die Stufen hinunter und ging auf die Meute zu, die Schmährufe der Zuschauer ignorierend, ebenso die vernichtenden Blicke seiner besten Freundin, die sie ihm durch ihre verquollenen Augen zuwarf. Offenbar hatte die Freundschaft für sie keinen Bestand mehr.
Er packte Faynes rechten Arm und begleitete sie zusammen mit der anderen Wache zum Ostausgang des Saales, um zu den Katakomben zu gelangen. Die Menschen erschwerten ihnen den Weg, inzwischen hatte sich eine Traube um sie herum gebildet. Sie pöbelten, schimpften, wünschten der Verurteilten alles Schlimme dieser Welt.
»Sei froh, dass sie deinen Kopf nicht unters Schwert legen!«, brüllte jemand.
Weitere Soldaten eilten herbei und schirmten die drei von der wütenden Menge ab. Nur langsam konnten sie sich vorkämpfen, es kam Joaquin vor, als liefen sie durch kinnhohes Wasser. Dennoch erreichten sie schließlich den Ausgang und durchschritten die verworrenen Gänge des jahrhundertealten Gebäudes. Nach der ersten Treppe nach unten wurde es dunkler, kälter und enger. Ihre Schritte echoten zwischen den Wänden hin und her, während die Schmährufe aus dem Thronsaal allmählich verblassten.
Zu keiner Zeit nahm Fayne ihren schwer lastenden Blick von Joaquin. Noch würde er ihn ertragen müssen und er hatte vollstes Verständnis für sie. Sie sah einem hungrigen Wolf ins Maul, ihr scheinbar unausweichlicher Gang in den Kerker bedeutete, hilflos zwischen die Reißzähne der Königsfamilie zu geraten.
Doch nicht alles war vorherbestimmt.
Das eine, unausweichliche Ende, das sich seine Eltern vorstellten, würde es nicht geben. Nein, den letzten Absatz des Manuskripts hatte er gestrichen und selbst geschrieben. Und einige Abzweigungen und dunkle Gänge später erreichten sie endlich die Stelle, die er sich für seinen Teil des Plans ausgesucht hatte. Niemand außer ihnen war hier, niemand konnte sie hören.
Er zückte seinen Dolch und bohrte ihn der Wache in den Hals.
Es tut mir so leid.
Joaquin hatte den Mann kaum gekannt, nur sporadisch mit ihm gesprochen. Er war ein feiner Kerl gewesen, zwar etwas frech, doch vertrauenswürdig und ambitioniert. Die Götter würden dem Prinzen diese Tat niemals verzeihen, und auch er selbst würde sich damit auf ewig belasten.
Für unsere Freundschaft, Fayne.
Blut ergoss sich über die Klinge, aus der Kehle des Mannes drang Röcheln und Gurgeln. Seine Augen waren weit aufgerissen, für einen kurzen Moment befand sich sein Gesicht in einer Starre aus Schock und Schreck, bevor er zusammensackte.
Faynes Mund stand offen, ihr Blick ging zur Leiche, zu ihm, wieder zur Leiche. »Du ...«
Joaquin schnappte sich die Schlüssel, die am Hosenbund der Wache befestigt waren, und befreite Fayne. »Flieh! Nimm den Gang hinten links, die Treppe nach oben und lauf von dort aus nach rechts. Der Weg führt dich direkt zu einem Ausgang. Alle Türen sind offen, niemand wird dort stehen.«
Erleichterung umspielte Faynes Gesicht, sie legte ihre Hände in seine. »Ehrlich? Du hast ... für mich?«
»Fayne, wir halten zusammen. Immer. Das weißt du doch. Ich musste aber auf die richtige Gelegenheit warten.«
Sie fiel ihm um den Hals.
»Hau ab! Sie werden bald herausfinden, was los ist.«
Sie ließ ihn wieder los, doch statt ihm endlich den Rücken zu kehren und so schnell zu rennen, wie sie konnte, sah sie ihn forsch an. »Eine Sache muss ich noch wissen. Warum musste der Schatzmeister sterben? Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen.«
»In den Augen meiner Eltern schon. Um es mit den Worten meiner Mutter zu sagen: Unfähig, trottelig, würde nicht einmal mit einem Bordell Geld machen.«
Ihr kämpferischer Blick kehrte zurück, das Feuer in ihr loderte wieder auf. »Verdammt seien sie! Warum haben sie ihn nicht einfach abgesetzt?«
»Verschwinde endlich!«
»Erst verrätst du es mir!«
Er seufzte. »Es war nicht mehr als pragmatische Notwendigkeit. Hätten meine Eltern ihn abgesetzt, hätten sie die Loyalität seiner Familie gefährdet. Doch mit dem Mord haben sie gleich zwei Tauben mit einem Pfeil erlegt: Du im Kerker, der Schatzmeister im Jenseits. Und der Ärger seiner Familie konzentriert sich ganz auf dich.«
»Typisch!« Sie schnaubte. »Verstehst du jetzt endlich, warum ich das nicht länger mit ansehen konnte? Sie sind skrupellos, irgendwann werden sie das Königreich wieder in den Krieg stürzen.«
Joaquin drehte seinen Kopf immer wieder zur Seite, jeden Moment konnte jemand nachsehen kommen und die beiden erwischen. »Bitte lass das! Ich verstehe dich ja. Aber du musst jetzt gehen.«
»Wir brauchen einen neuen Herrscher. Dich!«
»Ich bin nicht geeignet. Ich bin schwach.«
Sie rollte mit den Augen. »So ein Fliegenschiss! Natürlich bist du das. Irgendwann wirst du deine Eltern beerben und das Reich in eine Ära voll Wohlstand führen.«
»Lass das! Geh jetzt, du wirst keine zweite Gelegenheit kriegen.«
»Wieso kommst du nicht mit?«
»Ich kann meine Familie nicht verraten. Niemals. Ich habe ihnen bereits einen Dolch in den Rücken gestoßen, ich kann nicht auch noch ein Schwert folgen lassen. Wir müssen zusammenhalten. Wer in diesem Reich soll meinen Eltern Vertrauen entgegenbringen, wenn nicht einmal ihr eigener Sohn das tut?«
»Du hast sie bereits verraten, indem du einen Soldaten getötet und mich befreit hast.«
»Nein, das habe ich nicht. Du hast uns überwältigt.«
Sie kniff ihre Augen zusammen. »Was ...?«
Ohne ein weiteres Wort nahm er wieder seinen Dolch zur Hand und stieß ihn sich in die rechte Seite seines Bauches.
Ein Schrei entfuhr Fayne, bevor sie diesen mit einer Hand auf den Mund erstickte. Durch Joaquins Körper jagte ein stechender Schmerz. Er fiel nach vorne auf die Knie, Augen zusammengekniffen, Zähne aufeinandergepresst. Mit der rechten Hand hielt er sich die Stelle, an der er zugestochen hatte, mit der linken stützte er sich ab. Blut trat aus seiner Wunde und füllte die Lache der getöteten Wache.
»Bist du verrückt?«, fragte sie, ein schreiendes Flüstern.
Er holte tief Luft, bevor er die Klinge stöhnend und grunzend wieder aus seinem Körper zog.
»Geh!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe nur auf die ... auf die Seite gezielt ... wird mir nichts anhaben.«
»Oh, du dummer, törichter, idiotischer ... ach, du bist einfach wundervoll!« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wir sehen uns wieder, ja?«
Er nickte schwach. »Na ... natürlich.«
»Ich werde dich aufsuchen.«
»Ich weiß, dass du das wirst. Pass auf dich auf.«
Und so rannte sie endlich den Gang entlang, hinfort in die Freiheit. Ob Joaquin sie wirklich jemals wieder in die Arme schließen würde? Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht.
Er war sich dieser Ungewissheit von Anfang an bewusst gewesen, doch erst jetzt, zum Zeitpunkt des Abschieds, plagte sie ihn besonders schwer, und der Schmerz, den er in der Seele verspürte, ließ ihn die Einstichwunde am Bauch für kurze Zeit vergessen.
Schließlich hörte er Stimmen. Offenbar war bemerkt worden, dass etwas nicht stimmte, und die ersten Wachen schienen nachzuschauen, wo die drei vermissten Personen steckten. Schon bald würden sie ihren Prinzen schwerverletzt vorfinden.
Endlich.
Seit Faynes Festnahme hatte er sich nur gequält. Die Tage über hatte er sich auf jegliche Weise versucht abzulenken, die Nächte über hatte er wach gelegen und gegrübelt.
Freundin oder Familie?
Den Göttern sei Dank war dies nun vorbei. Und spätestens jetzt, als Fayne hinein in ihr neues, von ihm geschenktes Leben lief, überkam ihn eine sanfte Woge der Gewissheit.
Er hatte sich richtig entschieden.