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5 Die Perle Kärntens

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Sid raucht am Bahnhof. Meine Mutter zeichnet mir zum Abschied noch ein Kreuz auf die Stirn und küsst mich, was mir peinlich ist. Er ignoriert diesen Vorfall galant. Ich geniere mich, als ich merke, wie er mich beneidet, weil meine Mama noch lebt. Um keine trübsinnigen Gedanken aufkommen zu lassen, betreten wir ein geschlossenes Abteil und ziehen die Vorhänge zu. Sid hat als Wegzehrung einen Sechserträger mitgenommen. Warum Sid Sid heißt, weiß er übrigens selber nicht. Laut Taufschein heißt er Severin, aber nicht mal sein Vater nennt ihn so. Wahrscheinlich ist Sid einfach eine verunglückte Abkürzung seines Vornamens. Auch die Entstehungsgeschichte von Breitis Spitzname ist langweilig. Zuerst dachte ich, alle nennen ihn so, weil er so oft besoffen ist, aber Breiti ist nur die Abkürzung seines Nachnamens. Wenn die beiden allerdings mich aufziehen wollen, nennen sie mich Romy, weil ich unschuldig, theatralisch und geheimnisvoll wie Romy Schneider bin.

Sids Lerneifer ähnelt meinem, er plant seine Mittelschulkarriere gleich sorgfältig. Wie ich steht er auf vier »Genügend«, wird aber zur Matura zugelassen. Sid hat ebenfalls den Mathekönig seiner Klasse verpflichtet, ihm wöchentlich gratis Nachhilfe zu geben. Auch sonst ist er umtriebig. Er schleicht regelmäßig in den Lehreraufenthaltsraum und stöbert in den Unterlagen der Professoren herum, weil er hofft, etwas Verwertbares zu finden. Mit seiner Spürnase erschnüffelt er jede Lateinschularbeit. Bedauerlicherweise bunkert sein Mathelehrer keinerlei Lehrmittelunterlagen im Konferenzzimmer, weshalb Sid fieberhaft nach sonstigen Hinweisen sucht. Er hat bereit die Jahresberichte der letzten zwanzig Jahre auf die zu erwartenden Aufgabenstellungen durchforstet. Nur die Idee, wirklich zu lernen, missfällt ihm verständlicherweise; er wird höhere Mathematik nie mehr brauchen.

Mit dem ersten Schluck aus der zweiten Bierflasche erreichen wir den Villacher Hauptbahnhof. Wir kennen weder Breitis Wohnadresse noch haben wir einen Zeitpunkt ausgemacht, an dem wir uns treffen. Breiti hat uns aufgetragen, zum Leo zu kommen, eine angeblich urige Kneipe in einer schmalen Seitengasse der Innenstadt. Villach ist weitläufiger als Lienz, doch schon nach zwanzig Minuten und ohne uns zu verirren, sind wir am Ziel. Wir entern das Lokal. Niemand, den wir kennen, aber auch kein anderer Gast sitzt dort. Das finden wir nicht ungewöhnlich, es ist schließlich Donnerstag dreiviertel sechs und da werden die meisten Villacher Eishockey spielen, auch in Lienz ist um diese Zeit tote Hose. Die Einrichtung gleicht jener vom »Alt Lienz«; eine klassische Bierstube mit dicken, dunkel gebeizten Echtholztischen, Steinmauergewölbe und Bierschank. Natürlich schenkt der Wirt hier kein Falkensteiner vom Fass aus, wir sind schließlich in Kärnten. Überall kleben Trinkersprüche auf Aufklebern wie »Wanderer, hier enden deine Schritte«. Auch ein paar Bilder mit Landschaftsmalereien, denen wir keine herausragende kunstgeschichtliche Bedeutung beimessen, schmücken die Wände. Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt der Bierkarte, Leo bietet als Vollprofi sechs offene Bier vom Fass an. Wir bestellen uns kein Villacher, aber zwei große Hirter, um die Einheimischen gleich mal ein wenig zu necken.

Endlich taucht Breiti mit Stella und einer feiermotivierten Gruppe auf. Unserer Freundschaftsdelegation zu Ehren bleiben sie morgen geschlossen dem Unterricht fern. Breiti stellt uns seine Leute vor: Wurmi und Seppi besuchen beide die HTL und Seppi hat seine Freundin Hannah mitgenommen, dazu noch deren Freundinnen Elfie und Anne. Wurmis Spitzname ist selbsterklärend, er schaut aus wie ein frisch geschlüpfter Wurm mit Knollennase, zusammengeknautschtem Gesicht und man möchte ihn sofort knuddeln. Seppi schaut weniger niedlich als furchterregend gut aus. Er und Hannah scheinen sich zu mögen, sie wohnen schon zusammen, sitzen auch hier nebeneinander und halten die ganze Zeit Händchen. Hannah ist einen Kopf kleiner als Seppi, hat ein rundliches Gesicht, mittellange dunkelblonde Haare und noch jede Menge Babyspeck an den Hüften. Mein Blick bleibt bei Elfies Freundin hängen. Die hat mich schon bei der Vorstellungsrunde nett angesehen.

Anne hat höchstens fünf Millimeter kurze Haare, so kurz wie Sinéad O‘Connor, nur knallrot gefärbt statt dunkelbraun. Tellergroße braune Augen dominieren ihr ebenmäßig ovales Gesicht und sie trägt knallroten Lippenstift, den sie sehr dick aufgetragen hat. Ohrringe oder sonstigen Schmuck trägt sie keinen. Ich habe mich verliebt! Ich weiß nur noch nicht, wie ich mit ihr ins Gespräch kommen soll. Breiti hat es sich neben Elfie gemütlich gemacht. Seine Freundin habe ich mir ganz anders vorgestellt. Sie trägt einen Pagenkopf, ist ziemlich klein und hat breite Hüften. Sie ist nicht unbedingt eine Katalogschönheit, dennoch versprüht sie eine unerklärlich starke sexuelle Ausstrahlung. Sie schaut einen an und man weiß sofort: Diese Frau genießt ihr Leben und kümmert sich nicht um ihr Übergewicht. Diese Kärntner Mädchen wirken überhaupt aufgeschlossener als ihre Osttiroler Geschlechtsgenossinnen.

Wurmi steigt hinter meinem Rücken über die Holzbank und sagt: »Ich muss pro Bier zweimal pissen. Gestern hab ich neun Bier getrunken, jetzt kannst du dir ausrechnen, wie oft ich noch hinter dir drübersteigen werde. Oder magst lieber Platz tauschen?« Nach dem dritten Bier muss ich auch aufs Klo. Am Rückweg zum Tisch kommt mir Anne entgegen. Wir schauen uns an, ich nehme ihre Hand, halte sie einen Moment lang und dann küssen wir uns. Das war nicht schwer. Ihre Wimpern sind unglaublich dicht. Anne verschwindet Richtung Toilette und ich setze mich wieder… Beim vierten Getränk bin ich schon ziemlich besoffen. Ich habe noch nie so trinkfeste Mädchen erlebt. Anne trinkt schneller als ich und spricht noch klar und deutlich. Breiti küsst mit Elfie, Seppi mit Hannah, ich mit Anne, Sid streitet mit Stella und Wurmi unterhält uns mit Schwänken aus seinem Leben. Obwohl er zu viel trinkt, ist er Vorzugsschüler und er gesteht mir, er trinkt vor allem deshalb, weil er bei seinem Äußeren kaum Frauen kennenlernt. Er hat selber eine Schwäche für Anne. Alle finden ihn nett, weil er lustig ausschaut, küssen will ihn dann aber doch niemand.

Ich bin erst seit drei Stunden hier. Anne wird gleich merken, wie wenig ich vertrage. Ich gehe schon wieder auf die Toilette, um mich mit kaltem Wasser abzukühlen und trinke zwischendurch einen Espresso zur Ausnüchterung; vier Bier sind meine Obergrenze. Im Unterschied zu den Anwesenden, inklusive der Mädchen, bin ich ein lausiger Amateurtrinker. Mir ist schon ein bisschen schlecht. Ich frage Breiti, wo er wohnt und ob er mir seinen Schlüssel gibt, damit ich vorgehen kann. Meine Kondition ist erschöpft und morgen geht die Sauferei ja weiter. An zwei Tagen hintereinander habe ich überhaupt noch nie Alkohol getrunken.

Als mir Breiti seinen Schlüssel geben will, fragt mich Anne, ob ich nicht lieber bei ihr schlafen möchte. Da habe ich mehr Platz und bei diesem Angebot kann ich schlecht Nein sagen. Ich gebe Sid 20 Euro zum Zahlen und verabrede mich für 10 Uhr zum Frühschoppen. Kärnten ist ein Schlaraffenland! Ich schnappe mir meinen Rucksack und versuche mir den Weg einzuprägen, damit ich morgen wieder ins Wirtshaus finde. Ich kann mein Glück kaum fassen – Anne sieht tatsächlich aus wie die Sängerin aus dem Video von »Nothing Compares 2 U«. Ich versuche, möglichst wenig zu wanken und einen nüchternen Eindruck zu erwecken. Vor einem unscheinbaren Reihenhaus bleibt Anne schließlich stehen. Sie schleust mich in ihr Schlafzimmer und wir legen uns angezogen hin. Obwohl ich sie noch nicht ausziehe, höre ich mein Herz pochen. Ich bin aufgeregt, weil ich mir Sorgen mache, ob sie merkt, wie unerfahren ich bin. Sie wirkt weltmännischer und abgebrühter als ich. Weil ich es nicht wage, sie auszuziehen, erledigt Anne das selber. Sie liegt in Strümpfen und BH neben mir, doch das sehe ich nicht, weil es dunkel ist. Ich spüre es aber, weil sie plötzlich meine Hand nimmt und damit langsam über ihren Körper fährt. Schlagartig bin ich nüchtern. Ich gleite über ihre Brüste zu ihrem Bauchnabel und streichle ihre Beine. Ich ziehe mich ebenfalls aus und nun liegen wir halbnackt nebeneinander da. Anne hat eine kräftige und tiefe Stimme und sagt:

»Du bist ein Süßer. Nicht dass du denkst, ich bin eine Schlampe für eine Nacht. Ich bin nicht so gut aufgelegt im Moment. Letzte Woche bin ich draufgekommen, dass mein Freund eine Zweitfreundin hat, ohne mir was zu sagen. Die Kärntner sind alle notgeile Deppen. Du hast eh keine Freundin, oder?«

Diese Frage beendet meine Euphorie; ich habe Sonja vergessen. Ich bin weniger besoffen als panisch. Ich werde Sonja einfach verlassen, wenn ich sie wiedersehe. Streng genommen instrumentalisieren Sonja und ich uns nur gegenseitig. Sie will einen schüchternen Mann zum Knutschen, ich brauche ein Trostpflaster nach der Pleite mit Stella. Sonjas Aufgabe ist es, mein ramponiertes Selbstbewusstsein aufzupolieren. Mit Anne will ich wirklich zusammenkommen. Was soll ich antworten? Sie ist verletzt worden und ich kann ihr schlecht sagen, ich hätte auf meine Freundin vergessen, als ich sie gesehen habe. Also sage ich nichts.

Als ich aufwache, ist Anne schon weg. Sie hat mir auf einen Zettel aufgezeichnet, wie ich zum Leo komme. Sie wird nach der Schule zu uns stoßen. Mit Lippenstift hat sie auf die Nachricht einen Kussmund gedrückt; ich stecke ihre Notiz in meine Brieftasche. Ich bin verkatert und überlege, wie ich mich Anne gegenüber verhalten soll. Ich möchte ihr von Sonja erzählen und dass ich die auch sofort verlassen will, weil ich sie kennengelernt habe. Den klitzekleinen Schönheitsfehler, mit Anne rumgeknutscht zu haben, ohne ihr von meiner Freundin zu erzählen, kann ich leicht erklären: Ihr Anblick hat jeden Gedanken an Sonja unwiederbringlich getilgt.

Ich gehe schleunigst zum Leo, um mein Kopfweh aktiv mit einem Guten-Morgen-Bier zu bekämpfen. Annes Plan ist exakt, sogar die Straßennamen stimmen, und ich erreiche ohne Probleme das Lokal. Für die drei Tage habe ich 50 Euro Reisekasse mitgenommen. Ich war meinen Opa besuchen und er hat mir diese enorme Summe einfach so zugesteckt mit dem Hinweis, die Kärntner Mädchen seien die besten. Ich habe mir seinen Ausspruch damit erklärt, dass er eine Kärntnerin geheiratet hat. Seit dem Auftauchen Annes entpuppt sich Opas Spruch durchaus als Weissagung. Breiti, Sid, Seppi und Wurmi sitzen schon motiviert am Stammtisch. Seppi erzählt mir, dass mich Anne gestern geküsst hätte, weil sie seine Zweitfreundin gewesen wäre. Seppi war richtig erleichtert, als sie mich mit nach Hause genommen hat. Auch Breiti kommentiert anerkennend meine neue Eroberung: »Anne ist ein guter Fang. Elfie hat mir erzählt, du hast ihr gleich gefallen. Wegen deines Aussehens findet dich normalerweise keine gut.«

Das erste Bier schmeckt mir überhaupt nicht; ich muss mich überwinden, schon wieder Alkohol zu trinken. Wurmi und Seppi laden uns zu sich nach Hause ein, weil sie ein altes Haus bewohnen und man dort billiger als im Gasthaus trinken kann. Eine Anlage haben sie auch und der Sound ist dort besser als beim Leo. Sid und ich streichen kurzerhand unsere geplante Platteneinkaufstour. Alle Burschen schwänzen die Schule, während die Frauen brav den Unterricht besuchen. Stella hat eine gute Ausrede, sie schreibt eine Englischschularbeit. Bald habe ich einen Aufgewärmten; ich sollte langsamer trinken, weil ich ja später noch mit Anne reden will. Das Bier vertreibt routiniert mein schlechtes Gewissen wegen Sonja und als Anne gemeinsam mit Elfie und Stella das Lokal betritt, kann ich gerade noch reden, ohne zu lallen… Anne sieht heute noch besser aus als gestern, nur trägt sie schwarzen statt roten Lippenstift. Sie küsst mich zur Begrüßung mit ihrer Zunge, bestellt sich ein Bier und setzt sich gleich neben mich. Heute werden wir miteinander schlafen.

Kurz vor Ladenschluss kaufen wir eine Kiste Bier und gehen zu Wurmis und Seppis Wohngemeinschaft. Ich breche auf der Couch zusammen und schlafe ein. Ich wache erst auf, als mich jemand an der Schulter unsanft rüttelt. Ich schaue Sonja ins Gesicht… Was macht die denn hier? Die Situation ist sehr unübersichtlich. Sid redet auf Stella und Anne ein. Sonja wollte mich überraschen und ist spontan nach Villach gefahren, um mit mir unsere erste Liebesnacht zu verbringen. Stella hat ihr von mir und Annes spontaner Zuneigung erzählt und Sonja ist jetzt fuchsteufelswild. Ich suche Annes Blick. Sie wirkt etwas geknickt. Sonja schimpft mit mir: »Romed, du bist echt ein Arsch. Ich fahre nur wegen dir her, um dich zu überraschen. Und du machst mit anderen Frauen rum. Mit uns ist es aus. Ich fahr‘ wieder heim. Du bespringst doch alles, was dir über den Weg läuft!« Weil ich auf frischer Tat erwischt worden bin, fällt mir keine Ausrede ein. Wer rechnet schon mit Sonja in Villach? Sie kanzelt mich noch als Schwerenöter ab und dann verschwindet sie wieder. Wenigstens hat sie keine arge Szene gemacht und mir Bier über den Kopf geschüttet oder meinen Rucksack auf die Straße geworfen.

Ich will wissen, wie es Anne geht. Ich muss mich um sie kümmern. Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf, aber kann ihren Blick nicht richtig einordnen.

»Ihr Tiroler seid nicht besser als die Kärntner. Dabei habe ich dir von meiner Enttäuschung erzählt. Ich dachte, du wärst ein wenig rücksichtsvoller. Ich finde dich extrem nett, ich wollte dich fragen, ob wir miteinander gehen. Das geht jetzt nicht mehr.«

»Anne, tut mir leid. Es hat mich wegen dir voll geflasht. Ich habe mich extrem verknallt und kann nur mehr an dich denken. Mit der Sonja hätte ich sofort Schluss gemacht am Montag. Ich steh nur auf dich.«

»Das glaub ich dir, aber so einfach ist das nicht für mich. Du schläfst deinen Rausch auf der Couch aus und dann taucht deine Freundin auf. Ich muss das erst einmal verdauen.«

So schnell gebe ich Anne nicht auf, ich hole mir ein Bier und nehme ihr gleich eines mit.

»Jeder hat eine zweite Chance verdient. Trinken wir ein Bier und feiern weiter. Ist ja nix passiert«, sage ich und zucke mit den Schultern.

Ohne WHAM! und ABBA

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