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II. Voruniversitäre Interpretationen mittelalterlicher Sakralarchitektur

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Da die im Zentrum stehenden wissenschaftlich-universitären Modelle nicht vom Himmel gefallen sind, muss zumindest ansatzweise versucht werden, zentrale Aspekte ihrer historischen Basis zu skizzieren. Somit geraten Schriften ins Blickfeld, die zwischen dem Ende des Mittelalters und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind und sich mit der mittelalterlichen Sakralarchitektur beschäftigen.

Aus der Vielzahl von in Frage kommenden Autoren und Schriften (vgl. Brandis 2002; Frankl 1960) wurden drei ausgewählt, die sich mit der gotischen Architektur auseinandersetzen: erstens Giorgio Vasari (1511–1571), der sprichwörtlich gewordene Vater der Kunstgeschichte, zweitens Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II., und drittens Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Die Ausführungen können knapp gehalten werden, da hierzu bereits eine große Menge an Forschungsarbeiten existiert.

Giorgio Vasari

Vasari vertritt ein zyklisches Geschichtsbild, nach dem die Kunst in der Antike den „höchsten Gipfel“ erreicht hat, dann im Mittelalter „in den völligen Ruin hinabstürzte“, um schließlich zur „Vervollkommnung“ zu gelangen, „die sie in unserer Zeit [d.h. in der Renaissance] erlangt hat“. Seine Darlegungen sollen den Künstlern der Gegenwart helfen, an dieser Vervollkommnung mitzuarbeiten. Für die Wechsel, die die Kunst im Laufe der Zeit durchläuft, macht er neben der göttlichen Fügung die Menschen selbst sowie historische Umstände verantwortlich (Vasari: Kunstgeschichte, S. 72f.; vgl. Belting 1978; Kliemann 1991).

Genauer ist es der „Einfall fremder Völker“ in Italien, der zum Niedergang der Kunst im Mittelalter geführt hat (Vasari: Kunstgeschichte, S. 58; vgl. S. 60–62). Damit zeigt sich neben dem Geschichtsmodell ein erheblicher Nationalstolz. Zum Einzug der mittelalterlichen Architektur, die für Vasari über wenig Ordnung und Vernunft verfügt, heißt es: „Dadurch kamen neue Architekten auf, die aus ihren barbarischen Nationen jenen eigentümlichen Baustil mitbrachten, den wir heutzutage als den deutschen bezeichnen. Diese schufen eine Reihe von Werken, die uns modernen Menschen um einiges lächerlicher anmuten, als sie ihnen lobenswert schienen, bis dann bessere Künstler zu einer angemesseneren, dem guten antiken Stil vergleichbaren Form fanden“ (Vasari: Kunstgeschichte, S. 64).

Mittelalterliche Architektur ist also barbarische, deutsche Architektur. Ihr Stil wird, entsprechend dem dreigliedrigen Geschichtsablauf, als einheitlich verstanden. Vasari unterscheidet nicht zwischen romanischer oder gotischer Architektur, wie man es heute für gewöhnlich tut. Gleichwohl charakterisiert er die „deutsche Werkart“ auf eine Weise, die unzweifelhaft an Gotik erinnert. Im Vergleich zur Antike lassen diese Bauten „jegliche Ordnung vermissen“, die Säulen vermögen „nicht einmal die leichtesten Gewichte zu tragen“, es herrscht eine „Plage von übereinander gestellten Tabernäkelchen“ und mit „spitzbogigen Bewölben“ werden diese Bauten überspannt (Vasari: Einführung, S. 63f.).

Gegenüber diesen Hauptzügen von Vasaris „normativer Ästhetik“ (Brandis 2002, S. 242) versucht die Forschung, auch alternative Aspekte herauszuarbeiten. Erwin Panofsky etwa meint zu einem von Vasari gefertigten, gotischen Rahmen für eine Renaissancegrafik: „Er illustriert die Möglichkeit, mittelalterliche Kunstwerke über die Unterschiede der Gattung und der maniera hinweg – als Beispiel eines ‚Zeitstils‘ zu sehen“ (Panofsky 2002 (c), S. 235). So verstanden, werden die Werke in ihrem Entstehungskontext betrachtet, was einer normativen Wertung zuwiderläuft. Ähnliches wird mittlerweile auch für die Architektur angenommen (vgl. Brandis 2002, S. 247–249).

Häufig ist zu lesen, dass Vasaris negative Einschätzung der mittelalterlichen oder gotischen Architektur bis ins 18. Jahrhundert Allgemeingültigkeit besessen habe (vgl. Jantzen 1962, S. 42). Gleichwohl finden sich wichtige Ausnahmen, wenn man etwa an die Barockgotik denkt (vgl. Sutthoff 1990).

Pius II.

Ein weiteres Beispiel stellt Pius II. dar. Er schätzt die gotischen Bauten, was sowohl seine Schriften als auch die von ihm initiierten Bauprojekte belegen. Im Gegensatz zu Vasari und vielen anderen Renaissanceschriftstellern handelt es sich dabei aber nicht um den Versuch, die „Gotik als stilistisches Phänomen“ zu begreifen und sie in ein weltgeschichtliches Modell zu integrieren, sondern Pius II. agiert vielmehr „rein aus seiner persönlichen Bewunderung der gotischen Bauformen“ heraus (Brandis 2002, S. 137f.).

Auf seinen vielen Reisen hat er unter anderem das Straßburger Münster gesehen und schreibt begeistert: „Die Bischofskirche, die ‚Münster‘ genannt wird, ein großartiges Bauwerk aus geschnittenen Steinen, erhebt sich in einer hohen Konstruktion, geziert von zwei Türmen, von denen einer, der vollendet ist, ein bewundernswertes Werk ist und seine Spitzen in den Wolken verbirgt“ (zitiert nach Brandis 2002, S. 132). Ähnliche Äußerungen finden sich zu weiteren Bauten Nordeuropas (vgl. Heydenreich 1937, S. 116f.).

In der Kathedrale von Pienza lässt Pius II. den nordalpin-mittelalterlichen Typ der spätgotischen Hallenkirchen, wie er ihn in Deutschland und Österreich gesehen hatte, von einem italienischen Architekten mit Renaissanceelementen kombinieren (vgl. Brandis 2002, S. 135; Günther 2009, S. 201ff.; Heydenreich 1937).

Goethe

Goethes kleine, 1772 erschienene Schrift zum Straßburger Münster stellt seine erste Buchpublikation dar. Hierzu existiert eine unüberschaubare Menge an Forschungsliteratur (vgl. Heimerl 2004; Hellersberg 2006, S. 74–95; Keller 1974). Es kann an dieser Stelle weder auf die vielen Spezialfragen noch auf den komplexen Aufbau dieses Textes eingegangen werden, zu dem Goethe rückblickend meint: „Ich schrieb damals ein Blatt verhüllter Innigkeit, das wenige lasen, buchstabenweise nicht verstanden, und worin gute Seelen nur Funken wehen sahen des was sie unaussprechlich, unausgesprochen glücklich machte. Wunderlich war’s von einem Gebäude geheimnisvoll reden, Tatsachen in Rätsel hüllen, und von Maßverhältnissen poetisch lallen“ (Goethe: Dritte Wallfahrt, S. 304).

Diese Selbstcharakterisierung deutet einen zentralen Punkt des Inhalts an, wonach der Betrachter dieses Bauwerks, zu dem allein man „gottgleich sprechen kann, es ist gut“, sich „nur beugen, und anbeten muß“ (Goethe: Baukunst, S. 419f.). Nur „ganzen Seelen“ kommt es zu, „ohne Deuter“ das Genie des Erbauers, Erwin von Steinbach, zu erleben (Goethe: Baukunst, S. 415). Damit wird das Werk der systematischen Interpretation entzogen und zu einem anbetungswürdigen Kultobjekt erhoben. Entsprechend heißt es mit Blick auf den französischen Architekturtheoretiker Marc Antoine Laugier: „Schule und Principium fesselt alle Kraft der Erkenntnis und Tätigkeit“, oder auch: „Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Prinzipien“ (Goethe: Baukunst, S. 416f.).

Zu dieser Genieästhetik tritt eine Betonung der nationalen Eigenarten. Viele vermögen die Größe des Straßburger Münsters nicht zu erkennen: „Es ist im kleinen Geschmack, sagt der Italiener, und geht vorbei. Kindereien lallt der Franzose nach, und schnellt triumphierend auf seine Dose à la Greque.“ Dieser Einstellung stellt Goethe die Frage entgegen: „Was habt ihr getan, daß ihr verachten dürft?“ und prangert die uneigenständige Nachahmung der Antike durch die Welschen an, bei der mehr „gemessen“ als „gefühlt“ und nur ein „Schein von Wahrheit und Schönheit aufgetüncht“ wird (Goethe: Baukunst, S. 416).

Es mag der Anschein entstehen, dass Goethe die Architektur des Mittelalters oder zumindest der Gotik, im Gegensatz zu jener der Antike, allgemein bewundert, also einfach Vasaris Wertung umkehrt. Dies ist jedoch nicht der Fall, da er allein den Erbauer des Straßburger Münsters rühmt, der „würkend aus starker, rauer, deutscher Seele, auf dem eingeschränkten düsteren Pfaffenschauplatz des medii aevi“ agierte (Goethe: Baukunst, S. 422). Das heißt, das bewunderte Münster entstand nicht so sehr im Zuge oder als Repräsentant des, sondern vielmehr „trotz des Mittelalters“ (Knopp 1979, S. 642).

Abschließend kommt Goethe auf die Gegenwart und die Adressaten seiner Schrift zu sprechen, auf die hin nun das bisher Gesagte gewendet wird: „Heil dir, Knabe! Der du mit einem scharfen Aug für Verhältnisse geboren wirst, dich mit Leichtigkeit an allen Gestalten zu üben.“ Diese angeborene Fähigkeit soll eher natürlich als durch „Pädagogen“ oder die eklektizistische Übernahme aus anderen Ländern kultiviert werden (Goethe: Baukunst, S. 422).

Zusammenfassung

Trotz der gebotenen Kürze der Darstellung und der Beschränkung auf drei Autoren lassen sich einige Merkmale zusammenstellen, die als Kontrastfolie für die darauf folgende wissenschaftlich-universitäre Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Sakralarchitektur bedeutsam sind. Erstens findet auf je verschiedene Weise eine Bewertung der gotischen Architektur statt, wobei ihr Vasari systematisch ablehnend gegenübersteht, Pius II. eine große Zahl an Einzelwerken schätzt und Goethe allein das Straßburger Münster samt genialem Schöpfer verehrt. Damit hängt zweitens ein normativer Anspruch zusammen, wie die Architektur der Gegenwart zu gestalten sei, so dass die Beschäftigung mit älteren Bauten keinen Selbstzweck darstellt. Drittens zeigt sich bei zwei Autoren ein nationaler Stolz, wenngleich mit inhaltlich anderer Ausprägung. Während Vasari viertens ein schlüssiges Geschichtsmodell zugrunde legt und Pius II. persönlich-individuelle Würdigung betreibt, wird von Goethe im Sinne der Genieästhetik jede Art einer Systematisierung kategorisch als der künstlerischen Schöpfung wie deren Rezeption ungemäß abgelehnt.

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