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III. Stilgeschichtliche Interpretationen mittelalterlicher Sakralarchitektur

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„Kunstgeschichte wurde erst durch die Ausbildung der Stilkritik und durch die Methode der Stilepochen-Ordnung im 19. Jahrhundert eine eigene Wissenschaft“ (Schmoll gen. Eisenwerth 1970, S. 77). So beschreibt J. A. Schmoll gen. Eisenwerth den Beginn der im Nachfolgenden interessierenden Konstellation und nennt zugleich drei zentrale Schlagwörter: die Stilkritik, die Stilepochen-Ordnung und die Verwissenschaftlichung. Mit diesem Interpretationsmodell, das ich als Stilgeschichte bezeichne, institutionalisiert sich die Kunstgeschichte um 1850 als universitäre Disziplin. Sie verfügt damit über ein fachspezifisches Instrumentarium.

Ohne ins Detail zu gehen, werden zunächst einige allgemeine Charakteristika dieses Modells besprochen, worauf eine Betrachtung der damals entstehenden und bis heute beibehaltenen Form der Handbücher folgt, um dann schließlich in einer Zusammenfassung auf die Vorteile und Nachteile der Stilgeschichte einzugehen.

Springers Leitlinien

Einen ersten Eindruck des damals Angestrebten vermittelt eine Anekdote, die Harry Graf Kessler über seinen Lehrer Anton Springer berichtet, der in einer Lehrveranstaltung forderte, „die Kunstgeschichte zu einer Wissenschaft zu erheben, die in Laboratorien Tatsachen ebenso einwandfrei registriere wie die Biologie oder Chemie“. Da ein jedes Werk gewisse Charakteristika aufweise, gelte: Aus „einem Kunstwerk diese einmaligen Formen herauszuziehen, die wie Fingerabdrücke seinen Urheber, den Ort und die Zeit seiner Entstehung anzeigen, sie zu Steckbriefen zusammenzustellen, an ihrer Hand die Überlieferung nachzuprüfen, das war für ihn Ausgangspunkt und sichere Grundlage der Kunstwissenschaft“ (Kessler 1935, S. 257f.).

Als Maßstab für die erstrebte Wissenschaftlichkeit dienen die Naturwissenschaften und es sollen Tatsachen ermittelt, das heißt die einzelnen Werke in Bezug auf Urheber, Entstehungsort und Entstehungszeit bestimmt werden, woraus sich dann Gruppen aufstellen lassen (vgl. Karge 2006, S. 48–50; Niehr 2004, S. 178–189; Springer 1854, S. 4–7).

Mit dieser Zielsetzung richtet sich Springer namentlich gegen Herman Grimm, dessen Arbeiten zu Michelangelo und Raphael er als „‚Geschwätz‘, historischer Roman, Kolportage“ ansieht. Der schwärmerisch erzählenden Beschäftigung mit einem Künstler stellt er die harte Wissenschaftlichkeit, die Untersuchung der Kunstwerke hinsichtlich ihres „Formwandels“ entgegen: „Die Einfühlung in die Kunst als solche, die Bewertung des einzelnen Kunstwerks nach ästhetischen oder weltanschaulichen Gesichtspunkten, kam hinterher und lag außerhalb der Wissenschaft“ (Kessler 1935, S. 257f.).

Eine zweite Position, von der sich Springer abzugrenzen versucht, ist jene von Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Die Dissertation Springers ist eine „Kritik der Hegelschen Geschichtsanschauung“, ein Versuch, „den künstlichen Aufbau des Systems nachzuweisen und die inneren Widersprüchlichkeiten in Hegels Philosophie der Geschichte darzulegen“. Der „spekulative Mantel“, das „willkürliche Spiel mit den Tatsachen“ sollte abgelegt werden (Springer 1892, S. 115). Springer möchte also das spekulative System als die Tatsachen dominierende Größe verabschieden und vielmehr aus der Untersuchung von Einzeltatsachen ein gesichertes System etablieren (vgl. Kwon 2008; Waetzoldt 1965, Bd. 2, S. 106–129).

Vergleich mit den voruniversitären Deutungen

Abstrahiert man ein wenig von Springers Ablehnung gegenüber Grimm und Hegel, so lassen sich Charakteristika des stilgeschichtlichen Modells angeben. Charakteristika, die auch den Unterschied zur voruniversitären Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Sakralarchitektur verdeutlichen. Gegen Grimms romanhaftes Vorgehen, Goethes emphatisches Geniedenken und die persönlichen Vorlieben von Pius II., also gegen das unsystematische Genießen, wird nun einerseits die ordnende Wissenschaft gestellt. Andererseits wird eine unterstellte Systematik eines Vasaris beziehungsweise das spekulative philosophische System eines Hegels als unwissenschaftlich abgelehnt.

Ziel ist es vielmehr, aus historisch ermittelten Einzeltatsachen ein Gesamtbild („Steckbriefe“) zu entwerfen. Urheber, Ort und Zeit sind die relevanten Parameter, die verschiedentlich aufgefasst werden können. Entweder wird ein Werk auf diese Weise exakt bestimmt (z.B.: Der Bau X in Köln wurde 1200 von Y errichtet) oder in größere Zusammenhänge gestellt (z.B.: Der Bau X gehört zur Gotik in Südfrankreich). Man kann sich diese Vorgehensweise und ihre Orientierung an den Naturwissenschaften gut verdeutlichen, indem man etwa an Pflanzenbestimmungsbücher denkt.

Die Handbücher

Eine typische Form, um dem gerade angedeuteten Anspruch gerecht zu werden, stellen die großen Handbücher dar. Ein solches wurde von Springer 1879 zunächst unter dem Titel „Textbuch zu Seemann’s kunsthistorischen Bilderbogen“ publiziert und später als „Handbuch der Kunstgeschichte“ bekannt (Arbeiten dieses Typs sind: Kugler 1842; Lübke 1860; Schnaase 1843–64). Wird in diesen Arbeiten noch die Gesamtgeschichte aller Künste dargelegt, so entstehen darüber hinaus und zum Teil von denselben Autoren speziellere Schriften zur Architektur (vgl. Kugler 1856–59; Lübke 1855). Schließlich beschränken sich „Die kirchliche Baukunst des Abendlandes“ (1884–1901) von Georg Dehio und Gustav Bezold, Rudolf Redtenbachers „Die Baukunst des christlichen Mittelalters. Ein Leitfaden zum Gebrauche für Vorlesungen und zum Selbstunterrichte“ (1881) sowie Springers „Die Baukunst des christlichen Mittelalters“ (1854) ausschließlich auf das Mittelalter.

Obgleich diese Arbeiten im Detail viele Unterschiede aufweisen, verfügen sie doch über einige Gemeinsamkeiten. So wird die von Vasari bekannte Einheitsvorstellung der mittelalterlichen Architektur aufgegeben und durch eine Differenzierung in romanisch und gotisch ersetzt (vgl. Jahn 1966, v.a. S. 4f.; Springer 1854, S. 63–66 und S. 118–121).

Zweitens besteht das Bestreben, den Bestand in großen Zügen zu präsentieren. Exemplarisch hierfür ist Dehios „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“ (1905–12), das bis heute fortgesetzt wird und als „Ergänzungsmaßregel zur Inventarisation“ beantragt wurde (Dehio 1900, S. 210; vgl. Betthausen 2004, S. 251–262; Weis 2005).

Drittens wird diesen Werken stets eine Vielzahl von gezeichneten Abbildungen, Grundrissen und Schnitten beigegeben, woran sich auch der empirische Charakter der Stilgeschichte zeigt. Damit wird die Möglichkeit geboten, den „Text an diesen Illustrationen zu kontrollieren“ (Hubala 1983, S. 8).

Schließlich ist die ungemeine Verbreitung zu betonen. 1913 etwa lag Springers allgemeines Handbuch bereits in der neunten Auflage vor, so dass man feststellen kann, dass die Handbücher den damaligen Diskurs auf breiter Basis bestimmten.

Lübkes Geschichte der Architektur

Wie wird der immense Stoff konkret geordnet, die „‚große Erzählung‘ der Stilgeschichte“ geschrieben (Locher 2001, S. 25; vgl. Locher 1999)? Diese Fragen sollen an einem Beispiel erörtert werden. Die von Springer herausgestellten Kriterien bestimmen den Aufbau eines jeden Handbuchs, wie er an der Inhaltsübersicht von Lübkes „Geschichte der Architektur“ gut erkennbar ist, bei der hier das fünfte Buch zur christlich-mittelalterlichen Baukunst interessiert (vgl. Abb. 1).

Der erste Blick offenbart, dass eine chronologische Anordnung herrscht. Damit kommt (zwangsläufig) der wertende Gedanke des Fortschritts beziehungsweise des sich Entwickelns auf ein Ideal hin ins Spiel. Entsprechend heißt es zu Beginn des Buches: „Nach dem Intermezzo des muhamedanischen Styles, welches uns nichteinen bestimmten geraden Weg, sondern im Kreise herumführte, suchen wir nun den Punkt auf, von welchem die Architektur fortan ihren stätigen Schritt bis zum Gipfel der Vollendung lenkt“ (Lübke 1855, S. 193; zur Wertfrage vgl. Dehio/Bezold 1901, S. 4).


Abb. 1: Inhaltsverzeichnis von Lübke 1855

Ferner findet eine Binnendifferenzierung nach Ländern und, in nächster Ebene, nach Regionen statt. Dass dabei der einzelne Künstler wenig Beachtung findet, hat zwei Ursachen. Zunächst wurde erkannt, dass – im Gegensatz zu Goethes Vorstellung – meist nicht der eine Genius den gesamten Bau geschaffen hatte. Sodann liegt das Interesse nun vorrangig auf den Objekten. Wie das Zitat zeigt, handelt nicht ein Baumeister. Vielmehr lenkt die Architektur selbst ihren Schritt Richtung Vollendung. Eine solche den menschlichen Akteur ausblendende Sichtweise ist für die Stilgeschichte typisch und begegnet bis heute.

Da Lübke vom Mittelalter im Unterschied zu anderen Epochen handelt, ist es nur folgerichtig, dass in einem ersten Kapitel, bevor er sich den Bau ten zuwendet, der „Charakter des Mittelalters“ thematisiert wird. Ein Vorgehen, mit dem der im Vorwort formulierte Anspruch, die „Architektur im Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung der Menschheit zu betrachten“ (Lübke 1855, S. VI), eingelöst wird. Darin kommen religiöse, rechtliche, politische, philosophische usw. Aspekte zur Sprache, um den „geschichtlichen Hintergrund“ der mittelalterlichen Architektur „mit einigen Strichen“ anzudeuten (Lübke 1855, S. 193). Somit entsteht die Frage, wie sich Architekturgeschichte und allgemeine Geschichte, Vorder- und Hintergrund, zueinander verhalten. Lübke kommt hier, wie die Stilgeschichte allgemein, ohne „eine enge argumentative Verknüpfung beider Bereiche“ aus (Karge 2006, S. 52).

In diesem Stilgefüge aus historischem Kontext, zeitlicher Entwicklung und regionaler Besonderheit erscheinen dann die einzelnen Bauten, meist unter Angabe des Entstehungsdatums. Die jeweiligen Ausführungen erstrecken sich dabei nur über ein paar Zeilen und weisen eine Vielzahl von „technischen Ausdrücken“ auf (Lübke 1855, S. V), so dass der zweiten Auflage ein Glossar beigegeben worden ist (vgl. Lübke 1858, S. VI und S. IX).

Stilkritik bei Dehio und Bezold

Bei der Einteilung in Epochen ist es notwendig, das Ende des einen und den Anfang eines anderen Stilabschnittes zu bestimmen, wozu eben die jeweiligen stilistischen Charakteristika anzugeben sind. Dehio fasst dies prägnant zusammen: „Das Bau-Schöne ist ein zusammengesetztes Ding; nicht nach allen Seiten gleichmässig bethätigt der einzelne historische Stil seine Productivität; sein Dasein und seine Entwicklung beginnt dort, wo das für ihn Wesentliche zuerst als ein klar empfundenes hervortritt. Wenn man demgemäss den Anfang des Renaissancestils von der Wiederbelebung der antiken Formen, den Anfang der Gotik von der Anwendung des Kreuzrippengewölbes in Verbindung mit dem Strebesystem rechnet, so ist man im Recht“ (Dehio 1893, S. 217). Handelt bei Lübke die Architektur, so ist es hier der Stil, der Produktivität zeigt.

Auch für Dehio/Bezold gilt, dass die Monumente „nur aus der allgemeingeschichtlichen Situation heraus richtig gedeutet werden“ können (Dehio/Bezold 1892, S. 9). Lübkes Vorstellung von Vorder- und Hintergrund taucht hier erneut auf: „Die grossen Epochen der Kunstgeschichte stehen mit denen der Kulturgeschichte in bestimmtem geistigem Zusammenhange, ohne dass sie chronologisch sich völlig deckten.“ Dies hat große Folgen für die Bestimmung des „Mittelalters“: „Wo immer man vom Standpunkt der Universalgeschichte die Grenze zwischen Altertum und Mittelalter ziehen mag: stilgeschichtlich ist der Zeitraum von Konstantin d. Gr. bis Karl d. Gr. (für manche Länder noch darüber hinaus) der antiken Baukunst zuzuzählen“ (Dehio/Bezold 1892, S. 13). Offenkundig folgt die Stilgeschichte eigenen, autonomen Gesetzen, obgleich betont wird, dass ein bestimmter – nicht näher geklärter – Zusammenhang zur allgemeinen Geschichte besteht.

Eine weitere Frage gilt dem Verhältnis von Schriftquellen und Stilkritik. Beim Versuch, „nach der Entstehung der einzelnen Denkmäler [zu] fragen und diese dann in zeitliche Reihen und örtliche Gruppen“ zu ordnen, kommt es zum Problem, dass zwar sowohl Bauten als auch Schriftquellen jeweils vorhanden sind, beide aber selten zusammen auftreten. Texte zu noch bestehenden Bauten sind rar. Es bleiben große Lücken, die die „vergleichende Stilkritik nach Kräften auszufüllen“ versucht. Obgleich optimistisch von „unbedingt sicher datierten Denkmälern“ die Rede ist, wird gleichfalls eingeräumt, dass die Stilkritik nur relative Aussagen liefern kann (Dehio/Bezold 1901, S. 38f.).

Schließlich muss mit Nachdruck betont werden, dass versucht wurde, Merkmale der Stilgeschichte herauszustellen. Wenn man hingegen das Gewicht weniger auf die allgemeinen Konstellationen, sondern vielmehr auf das Gesamtœuvre einzelner Forscher legt, lassen sich zudem viele Überlegungen herausarbeiten, die in andere Richtungen weisen (vgl. Hubala 1983).

Fortsetzung der Stilgeschichte

Die Stilgeschichte bedeutet den Anfang der universitären Kunstgeschichte. Gleichwohl verstummen auch später die Diskussionen darum, was Stil denn sei usw., nicht, so dass auch in den folgenden Kapiteln immer wieder auf diesen Aspekt zurückgekommen werden wird (vgl. Brückle 2010; Klein/Boerner(Hg.)2006). An dieser Stelle sollen allein die Fortsetzung der Stilgeschichte im soeben dargestellten Sinn beziehungsweise Elemente derselben benannt werden.

Am eindrücklichsten findet sich das Modell der Stilgeschichte in Werken wie etwa Wilfried Kochs 1982 zum ersten Mal erschienener „Baustilkunde“, die in direkter Nachfolgerschaft der Handbücher steht. Eine kurze geschichtliche Einführung, eine chronologische und regionale Ordnung, zahlreiche Abbildungen, ein Glossar und hohe Auflagenzahlen bleiben charakteristisch. Diese Traditionslinie wird von Günther Binding 1978 (vgl. Binding 2009, S. VII) explizit gemacht, indem er Günter Bandmann zustimmt, der bereits 1948 meint: „Die Arbeit kann in ihrem beschränkten Umfang nicht die großen Kompendien, die in der Zeit von etwa 1860–1920 erschienen sind, ersetzen. Diese bilden, neben der hier in den einzelnen Abschnitten erwähnten Spezialliteratur, die Grundlage eingehenden Studiums“ (Bandmann 1948, S. 5).


Abb. 2: Entwicklung der Fensterformen (Soissons, Chartres, Reims)

Ein Beispiel für das partielle Fortwirken der Stilgeschichte stellt Hans Jantzen dar, der ein neues Kriterium zur Bestimmung der Gotik anbietet: „Für den Raumcharakter der französischen Gotik erscheint das Prinzip der diaphanen Wandstruktur sinnfälliger als alle Einzelheiten der Formensprache und entscheidender als die Verwendung von Spitzbogen und des Kreuzrippengewölbes“ (Jantzen 1951, S. 15). Wer von Gotik im Unterschied zur Romanik, vom Mittelalter im Unterschied zur Renaissance sprechen will, muss eben Merkmale der jeweiligen Stilepoche festlegen.

Beispiel

Noch spezieller beschäftigt sich Binding ausschließlich mit der Gotik und dabei unter anderem mit der Entwicklung des Maßwerkfensters, was es erlaubt, ein anschauliches und aktuelles Beispiel für das stilgeschichtliche Vorgehen zu geben (vgl. Abb. 2). Die in eine Reihe gestellten Abbildungen werden folgendermaßen kommentiert: „Die Vorstufe zum Maßwerk ist nicht das im Laufe der 2. Hälfte des 12. Jh.s in Frankreich, Deutschland und England zu Gruppen geordneten Spitzbogen- oder Lanzettfenster, sondern es sind erst die unter einem Überfangbogen in eine zurückgestufte, glatte Mauerfläche eingeschnittenen Fensterpaare in Verbindung mit einem darüber angeordneten Rundfenster (Okulus) wie im Obergaden der Kathedrale von Chartres, wo die Fenstergruppe die ganze, durch Säulchen und Archivolten gerahmte Schildbogenfläche einnimmt. Die Öffnungen haben im Inneren einfache, schräge Gewände, in die das Glas außen fast flächenbündig eingesetzt ist. Die verbleibenden Zwickelflächen zwischen Fensterbogen und Okulus sind schichtweise aufgemauert, ebenso wie die Pfosten, Laibungen und Bogen der Fenster (Plattenmaßwerk). Dies entspricht den Obergadenfenstern im Langchor der Kathedrale von Soissons […]. In Frankreich wird auf der Grundlage dieser Vorstufen in den Chorkapellen der Kathedrale von Reims der aus profilierten Stäben gefügte klassische Maßwerktyp der Hochgotik gebildet […]“ (Binding 2000, S. 200f.).

Viel stärker als etwa bei Dehios Bestimmung der Gotik durch Kreuzrippengewölbe und Strebesystem erkennt man an diesem Zitat die Verwendung einer Vielzahl von Fachtermini, die dazu dienen, die Formentwicklung möglichst präzise zu bestimmen und damit den sichtbaren Befund in geeignete Begriffe zu übersetzen.

Zusammenfassung

Die Stilgeschichte erfasst und ordnet den Bestand von Kunstwerken nach den Kategorien Urheber, Entstehungsort und Entstehungszeit. Mit diesem Modell sind eine Reihe von Vor- und Nachteilen verbunden, die ich einander zusammenfassend gegenüberstelle. Die Vorteile bestehen in Folgendem:

(1) Gerade das am Beispiel verdeutlichte begriffliche Erfassen von Dingen ist für die Wissenschaft unentbehrlich, da nur hierdurch klar Eigenschaften bestimmt, Gruppen von Ähnlichem gebildet und Unterschiede benannt werden können (vgl. Binding 2009, S. 1). Sichtbares wird damit in ein sprachliches Modell überführt.

(2) Dann bietet die Stilgeschichte oft das einzige Mittel, um überhaupt eine Aussage bezüglich einer Datierung machen zu können.

(3) Dabei zwingt sie förmlich dazu, sich mit einer Vielzahl von Bauten zu beschäftigen, sie durch betrachtenden Vergleich zu erfassen.

(4) Damit geht einher, dass die Werke den Hauptgegenstand des Interesses bilden, man also die genuine Leistung der Architekturgeschichte im Vergleich zur allgemeinen Geschichte betont.

(5) Ganz praktisch bieten die Handbücher eine sehr gute erste Orientierung und lassen sich vorzüglich als Nachschlagewerke benutzen.

Gegenüber diesen Punkten können folgende Nachteile angeführt werden:

(1) Ein Hauptproblem der Stilgeschichte besteht in der Verselbständigung der Architektur, des Stils, der Epoche zu einem eigenständigen autonomen Akteur, was schlicht falsch ist. Ein Bauwerk wie der Kölner Dom ist nicht von sich aus eine gotische Kathedrale oder strebt diesem Ideal zu, sondern wird von jemandem als eine solche bezeichnet.

(2) Zudem ist eine Autonomie in diesem Sinne, losgelöst von historischen Konstellationen und menschlichen Handlungen, schwer verständlich. Bei der Fixierung auf die Bauten werden menschliche Akteure komplett ausgeblendet.

(3) Damit hängt die Frage nach dem Verhältnis von Kulturgeschichte und Architekturgeschichte zusammen. Einerseits soll eine autonome Stilgeschichte angenommen werden, nicht zuletzt, um sich als Disziplin zu etablieren und sich von der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu unterscheiden, andererseits aber besteht der Versuch, den Stil an eine Epoche zurückzubinden. Ziel ist dann die „lebendige Reconstruction der mittelalterlichen Culturanschauungen“, von denen die einzelnen Werke künden (Springer 1860, S. 31). Jedoch ist eine autonome Stilgeschichte ebenso unplausibel wie ein unklares Zusammenfallen derselben mit der allgemeinen Kultur (vgl. Wind 1991, S. 165–170).

(4) Obwohl die Tendenz Richtung Inventarisierung weist, muss man eine Entscheidung treffen, welche Bauten aufgenommen werden. Lübke meint: „Uebrigens ist es nirgend Absicht gewesen, den ganzen Denkmälervorrat aufzuzählen; nur das Wesentliche, Bedeutendste wurde in möglicher Kürze erwähnt“ (Lübke 1855, S. VII). Jedoch wird nirgends angegeben, was genau als Kriterium der Auswahl gilt (vgl. zu Dehio/Bezold: Weis 2005, S. 64). So muss man annehmen, dass vielleicht die Reinform eines Stiles in Frage kommt, der aber doch nur aus den Bauten erschlossen werden kann, was einen argumentativen Zirkel bedeutet. Praktisch gewendet besteht die Gefahr, alles, was nicht ins Schema passt, als unbedeutend zu übergehen.

(5) Dies führt zur Annahme einer linearen Entwicklung, die für die Aufstellung der Stilgeschichte unentbehrlich ist, zugleich aber alles, was diesem Verlauf zuwiderläuft, ausblenden oder als rückständig abwerten muss.

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