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3. Leiden

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Julia steht am Bett eines Siebenjährigen und stellt die Infusion für eine Chemotherapie bei Leukämie ein. Die Kinderstation ist freundlicher eingerichtet als die sonstigen Trakte der Klinik: ein sonniges Gelb ist an den Wänden, in das Tierfiguren gemalt sind – Affen, Giraffen, Elefanten und Pelikane.

Julia spürt, dass Jonas sich matt und fiebrig fühlt. Sie weiß, dass er ohne Medikamente starke Schmerzen hätte. Für Kinder sind die Heilungschancen bei Blutkrebs mittlerweile zwar recht gut, aber seine Blutwerte deuten an, dass sein Körper zu wenig Abwehrkraft hat.

In Jonas’ Bett liegen mehrere Kuscheltiere verstreut. An der Wand neben seinem Bett hängen Bilder, die er in den letzten Tagen gemalt hat: eine untergehende Sonne, einen Menschen als schwarzen Schatten und einen Jungen mit Flügeln. Aufgrund ihrer Ausbildung weiß Julia die Symbolik zu deuten: Jonas bereitet sich auf das Sterben vor und auf das, was danach kommen könnte. Sie streicht ihm vorsichtig über die warme Stirn.

Dann sieht sie auf ihre Uhr und stellt fest, dass ihre Freunde wohl seit einigen Minuten in der Cafeteria warten. Sie geht schnell hinunter.

Tatsächlich sitzen die drei schon an einem Tisch. Kuchen aus der Cafeteria liegen auf schmucklosen, weißen Tellern. Daneben stehen ihre Lieblingsgetränke in Bechern: Cappuccino, Milchkakao und tatsächlich Malzkaffee.

Julia wird von den Anderen herzlich begrüßt.

Sie entschuldigt sich: „Ich bin etwas länger bei einem von meinen kleinen Patienten geblieben. Bei ihm sieht die Prognose schlecht aus.“

„Schon hier in der Cafeteria fühle ich mich unwohl“, gesteht Stefan. „Krankenhäuser mag ich gar nicht. Wie gelingt es dir, hier jeden Tag zu arbeiten, sogar auf einer Krebsstation für Kinder?“

„Bei mir trifft das Klischee der Ärztin, die Leben retten will, tatsächlich zu“, erklärt sie. „Das war mein Hauptmotiv, um Medizin zu studieren – nicht das Ansehen als Ärztin oder das Einkommen, wenn man sich selbstständig macht. Ich habe zwei ältere Brüder und hatte noch einen jüngeren Bruder, der aber nicht mehr lebt. Er hatte von Geburt an einen Herzfehler und ist nur vier Jahre alt geworden. Für mich – ich war damals sieben – war das sehr schlimm. Ich hatte ihn so lieb. Bald stand mein Entschluss fest, Ärztin zu werden, um Menschen zu helfen und Leben zu retten. Um das zu erreichen, war ich schon in der Schule recht ehrgeizig. Hinter meinem Rücken wurde ich Streberin genannt.“

„Bist du immer noch ehrgeizig?“, fragt Lukas sie.

„Ja, auch hier in der Klinik. Ich arbeite gern, weil ich die Behandlung optimieren will: genauere Diagnosen, verbesserte Therapien. Jeder Tag ist eine Herausforderung. Nebenher sammle ich Daten für wissenschaftliche Publikationen.“

„Dein Umgang mit dem Leid ist also quasi ein Kampf gegen das Leid mit Hilfe der modernen Medizin und Wissenschaft“, fasst Stefan zusammen.

„Genau!“, entgegnet Julia. „Übrigens: Ich hatte mir eine Frage an euch überlegt, die in eine ähnliche Richtung geht. Was ist für euch Leid und wie geht ihr damit um?“

„Eine typische Lehrerfrage!“, meint Lukas. „Die habe ich schon des Öfteren den Schülern im Religionsunterricht gestellt, wenn es um die sogenannte Theodizeefrage geht.“

Maria stutzt. „Theodizeefrage?“

„Das ist ein theologischer Fachbegriff. Es geht darum, Gott angesichts des vielen Leidens zu verteidigen“, erläutert Lukas. „Wenn wir annehmen, dass Gott allmächtig ist, dann kann er Leid verhindern. Und wenn wir glauben, dass Gott barmherzig und gütig ist, dann will er Leid verhindern. Warum lässt dann dieser allmächtige und zugleich barmherzige Gott das Leid zu? Das ist die Frage, die viele Menschen stellen – eben die Theodizeefrage.“

Stefan unterbricht: „Das ist mir zu theologisch! Bitte zurück zu der Lehrerfrage von Julia.“

„Danke, Stefan“, schaltet sich Maria ein. „Ich möchte auf ihre Frage antworten. Leid ist für mich hauptsächlich mit dem Verlust eines geliebten Menschen verbunden. Ich war sehr traurig, dass meine Lieblingsoma starb, als ich erst elf Jahre alt war. Aber ihr wisst: Wirklich traumatisch war der tödliche Fahrradunfall meines Mannes vor drei Jahren. Das Ganze war so trivial: Er war auf dem Weg zur Arbeit – ganz korrekt auf dem Fahrradweg, als völlig unerwartet ein LKW rückwärts aus einer Ausfahrt direkt vor ihm hinausfuhr. Da es dort bergab ging, hatte Alexander ein ziemliches Tempo drauf. Mit schweren Kopfverletzungen – trotz Helm – brachte man ihn ins Krankenhaus. Aus dem Koma ist er nicht mehr erwacht; nach drei Wochen ist er gestorben.“

Maria kommen bei der Schilderung die Tränen. Julia umfasst ihre rechte Hand. Und Stefan schluckt.

Lukas findet als erster wieder Worte: „Auch mir kommt Alexanders Tod so sinnlos vor. Er war einer meiner besten Freunde. Wir haben tolle Mountainbiketouren unternommen.“

Wieder gefasst, sagt Maria: „Ich glaube trotzdem, dass alles einen Sinn hat. Das hilft mir am meisten.“

„Werden und Vergehen, Leben und Sterben – das ist ein ewiger Kreislauf, in den wir alle hineingenommen sind. Den Einen trifft es früher, den Anderen später“, meint Stefan.

„Ihr seid mir zu schnell mit Deutungen und Erklärungen“, entgegnet Julia. „Stefan, wie beantwortest du meine Frage? Was ist für dich Leid?“

„Ich verbinde Leiden eher mit ganz alltäglichen Problemen: Müdigkeit, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Stressgefühle, wenn ich keine Aufträge habe, Sticheleien, die mich kränken. Oft habe ich das Gefühl, ein Außenseiter zu sein – nicht so gesichert wie du, Lukas, im Beamtenstatus. Obwohl ich meinen Beruf sehr mag, fühle ich mich von Anderen oft ausgegrenzt, missachtet oder übersehen. Und das wirkt sich auf den Körper aus mit Schmerzen oder Schlaflosigkeit. Unsere Runde hier tut mir übrigens sehr gut. Ich habe das Gefühl, drinnen zu sein und gute Freunde zu haben, die mich ernst nehmen.“

„Das ist auch wirklich so!“, bestätigt Lukas. „Ich mag dich! Und ich kann deine Gefühle aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Als Lehrer bin ich es gewohnt, auch meine Leiderfahrungen in Kategorien einzuordnen. Ich unterscheide also zwischen körperlichen, seelischen, sozialen und geistigen Leiden. Du hast gerade beschrieben, dass es eine Wechselwirkung zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Leiderfahrungen gibt. Soziale Ausgrenzung fühlt man auch körperlich. Leiden zeigt sich körperlich durch Schmerzen, seelisch durch negative Gefühle wie Angst, Trauer, Wut oder Eifersucht, sozial durch Demütigungen wie Bestrafung, Mobbing, Stigmatisierung oder Verleumdung. Und es gibt auch ein geistiges Leiden an Sinnlosigkeit – also den inneren Halt völlig zu verlieren und ins Nichts zu fallen, verloren zu sein in einer inneren Wüste. Dem Leben einen Sinn geben zu können ist darum für die Überwindung von Leid ganz wichtig.“

Julia unterbricht ihn: „Lukas, das sind gute Gedanken, aber du hast bisher noch nicht von dir persönlich erzählt.“

„Ich kenne alle diese Formen von Leid – abgesehen von einer absoluten Sinnlosigkeitserfahrung. Stefan, ich fühle mich auch unter meinen Kollegen manchmal allein, nicht zugehörig. Regelmäßig nagt ein gewisser Neid an mir. Einige Kollegen kommen zum Beispiel besser bei den Schülern an oder haben einen besseren Draht zur Schulleitung. Zum Glück bin ich seit einigen Jahren körperlich ziemlich fit dank meines Trainings. Vor vier Jahren habe ich einen schlimmen Sturz mit dem Fahrrad erlebt, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich bin erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Zum Glück war es nur eine Gehirnerschütterung, aber die Kopfschmerzen waren sehr heftig. Am schlimmsten jedoch sind für mich Zahnschmerzen. Als Jugendlicher hatte ich mehrere Wurzelentzündungen, und die Angst vor dem Zahnarzt hat mich geradezu gelähmt. Ich konnte mir das weitere Leben nach einem Termin beim Zahnarzt nicht vorstellen – so bedrohlich wirkte das auf mich.“

„Solche Angstgefühle kenne ich auch“, sagt Stefan.

Lukas ist noch nicht fertig. „Insgesamt aber kann ich mit diesen Leiderfahrungen recht gut leben. Mittlerweile deute ich sie als Chance, Widerstände zu überwinden, mutiger, besonnener und einfühlsamer zu werden. Leiden helfen mir, charakterlich zu reifen und lebenserfahrener zu werden.“

„Dem kann ich zustimmen“, meint Julia. „Mich haben leidvolle Erfahrungen zu meinem Beruf geführt. Und das Leiden meiner kleinen Patienten macht mich leidenschaftlich und ehrgeizig, es zu überwinden und Heilung zu ermöglichen.“

„Aber was ist mit den Menschen, die schlimmes Leid erfahren, aber daraus nichts lernen können, weil sie nämlich daran sterben?“, fragt Stefan. „Opfer von schweren Verbrechen, von Kriegen oder von Unfällen wie Alexander – und vielleicht auch durch eine böse Krankheit wie dein kleiner Patient, Julia. Welchen Sinn hat solches Leiden?“

Julia reagiert prompt: „Es ruft in anderen Menschen Mitleid hervor und den Willen zu helfen. Oder nach deren Tod Anderen zu helfen, die vom gleichen Leid betroffen sind. Die Kinderkrebsstation wird zum Beispiel von Spendengeldern eines Vereins von Eltern unterstützt, deren Kinder gestorben sind. Eine wohlhabende Familie hat sogar eine Stiftung für krebskranke Kinder ins Leben gerufen. Ihre Trauer haben sie in ein Engagement für Leidtragende verwandelt.“

„Es klingt für euch vielleicht eigenartig“, sagt Maria, „aber mich hat Alexanders Tod zum Glauben an Christus geführt. Das gibt für mich dem Geschehen nachträglich einen Sinn. Nach seinem Tod war ich sehr verzweifelt. Lukas hat mich dann eines Tages in seine Kirchengemeinde mitgenommen. Die Lieder, Predigten und Gebete haben mir in der Trauer sehr geholfen. Und mir wurde der Glaube geschenkt, dass ich Alexander, der sehr gläubig war, im ewigen Leben auf einer neuen Erde wiedersehen werde. Es war kein Abschied für immer.“

„Dazu kann ich eine besondere Erfahrung erzählen, die ich mit einem Kollegen gemacht habe“, beginnt Lukas. „Im Sommer vor zwei Jahren rief er mich an und fragte mich, ob ich ihn seelsorgerlich begleiten könne; es gehe um seine Krebserkrankung. Als wir uns trafen, offenbarte er mir, dass die neuesten Befunde signalisierten: unheilbar. Eine Therapie diene nur der Lebensverlängerung. Was wünschte er sich von mir? Über seine Krankheit konnte er mit seiner Frau reden. Er wollte alle seine Ängste aussprechen und mit mir über die Hoffnung sprechen, die mit Christus verbunden ist. Und er bat darum, dass ich mit ihm bete. Ob Gott ein Wunder bewirken könne, sodass er doch noch geheilt würde, war seine Frage. Ich betete mit ihm um Heilung, aber auch dafür, dass es ihm gelingt, mit der unheilbaren Krankheit zu leben. Es wurde ihm ganz wichtig, sich mit seinem Sohn – er ist Mitte 20 – wieder auszusöhnen und zu ihm eine neue Beziehung aufzubauen. Das geschah tatsächlich. Als er immer schwächer wurde und spürte, dass seine Tage gezählt waren, sollte ich ihm oft von der neuen Erde und vom ewigen Leben mit Gott erzählen, von der Auferstehung, die Jesus erlebte, und von der Erlösung durch ihn. Ich sollte ihm auch die entsprechenden Texte aus der Bibel vorlesen. Er verbrachte die letzten Tage geborgen im Kreise seiner Familie und getragen von der Hoffnung, dass er auch im Tod von Gottes Hand gehalten wird. Ich war sehr berührt, dass er mir das Vertrauen schenkte, ihn auf seinem schweren Weg zu begleiten.“

„Jonas, mein kleiner Patient, malt Bilder, die auch etwas von solch einer Hoffnung ausdrücken“, erzählt Julia. „Ich denke, ich sollte den Krankenhausseelsorger darum bitten, mit ihm zu sprechen, vielleicht sogar zu beten, so wie es einem Siebenjährigen angemessen ist. Ich selbst kann mir aber ein ewiges Leben nicht vorstellen.“

„Ich mir auch nicht“, stimmt ihr Stefan zu. „Einen ewigen Kreislauf des Lebens und Vergehens schon – jedoch ewiges Leben? Aber wäre das nicht ein Thema für das nächste Treffen? Ich fände es so schade, wenn es mit diesem Gespräch nicht weitergeht.“

„Ich weiß nicht, ob Julia dazu Lust hat“, entgegnet Maria etwas skeptisch.

„Naja, ich habe es auf der Kinderkrebsstation immer wieder mit der Frage zu tun: Was kommt nach dem Tod? Manche Eltern verzweifeln, wenn ihr Kind stirbt, andere sind gefasst und hoffen darauf, dass sie es im Himmel wiedersehen werden oder es vom Himmel her auf sie herabschaut. Als kritische Gesprächspartnerin könnt ihr mich weiterhin dabeihaben.“

„Super!“, freut sich Stefan. „Ich würde euch gerne für das nächste Mal zu mir einladen, in die Blumenstraße 8. Das ist nicht weit von hier. Lukas, würdest du einige Gedanken zum Thema vorbereiten?“

„Ja, gern!“

„Ich muss jetzt schnell wieder zu meinen kleinen Patienten“, verabschiedet sich Julia.

Sie verlässt die drei und eilt zurück auf die Kinderkrebsstation. Die Infusion bei Jonas tropft noch immer regelmäßig. Sie sieht, dass er tief und ruhig schläft. Ach, wäre das schön, wenn er es doch packt, denkt sie und ruft dann spontan in Gedanken: „Gott, wenn es dich gibt, dann lass dieses Kind doch bitte wieder gesund werden!“

Freu(n)de, Hoffnung, Malzkaffee

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