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Kapitel 2

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CIA-Hauptquartier, Langley (USA)


Fassungslos stand CIA-Direktor Ernest Morrison in dem abhörsicheren Konferenzzimmer im vierten Stockwerk des E-Rings auf der Ostseite des Pentagons. Vor gut einer Stunde war er eingetroffen. Sehr unsanft hatte man ihn aus dem Bett geklingelt. Die Nachrichten, die seitdem auf ihn einprasselten, ließen jedoch jede Müdigkeit schlagartig vergehen. Was Morrison da hörte, war unglaublich. Irgendwo in Algerien war die führende Person einer der wohl gefährlichsten Terrororganisationen der Welt von Unbekannten verschleppt worden, nachdem drei ihrer engsten Mitarbeiter getötet wurden. Die Frau namens Hafsa Al-Gharamh war äußerst wichtig für die CIA. Bereits seit Wochen stand sie unter Observierung. Aber ausgerechnet heute morgen hatte man sie nicht beschattet. Und diesen Fehler hatte irgendjemand eiskalt ausgenutzt. Damit aber nicht genug. In London war ein international gesuchter, hoch einflussreicher russischer Mafiaboss erschossen worden und in Hamburg hatten Unbekannte einer ebenfalls unter der Observierung der CIA stehenden Versicherungsgesellschaft hochbrisante Daten gestohlen. Die Versicherung hatte den Diebstahl aus ihrer gesetzlichen Verpflichtung heraus melden müssen, wollte sich aber nicht dazu äußern, um was für Daten es sich genau handelte. Da M&T aber schon seit Jahren im Verdacht stand, illegale Waffengeschäfte zu finanzieren, war allein die Tatsache, dass es zu dem Datendiebstahl gekommen war, Grund genug für die CIA, die Ermittlungen zu verschärfen.

Und es kam noch dicker:

„Pakistan, sagen Sie?“ Morrison schrie förmlich in das Telefon. Der Mann am anderen Ende der Leitung konnte einem nur leid tun. Er musste Morrisons Wutausbruch über sich ergehen lassen und konnte an dem Inhalt der von ihm lediglich überbrachten Nachricht doch nichts ändern.

„So lauten unsere Informationen, Sir“, bestätigte er leise.

„Wie um alles in der Welt konnte uns das entgehen? Wie zum Teufel sind die anderen dahintergekommen? Und wer zum Geier sind die anderen?“ Morrisons Gesicht war rot vor Zorn.

„Ich weiß es nicht, Sir!“, war die Antwort. „Diese Gruppe ist wahrlich ein Phänomen. Und sie scheinen bestens ausgerüstet zu sein!“

„Sie scherzen wohl!“, brüllte Morrison. „Wer einen scheiß B2-Bomber sein Eigen nennt und nicht unserer Air Force angehört, der ist mehr als bestens ausgerüstet! Das..., das ist ein Skandal!“

„Das mit der B2 ist nicht bestätigt, Sir! Die Vermutung liegt nach der Auswertung der Satellitenbilder aber nahe!“

Resigniert ließ sich der CIA-Direktor auf dem Konferenztisch nieder. Der Tag, wenn man das zu dieser unchristlichen Uhrzeit schon so nennen wollte, begann äußerst mies.

Eine seit vielen Jahren immer wieder in Erscheinung tretende, der CIA und allen Geheimdiensten weltweit aber nach wie vor völlig unbekannte Organisation hatte anscheinend wieder zugeschlagen. Seit Morrison den Chefsessel des US-Geheimdienstes innehatte, war diese Organisation bereits mindestens fünf Mal in sein Visier geraten. Im Grunde war ihre Existenz viele Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte zurückzuverfolgen, und das über den gesamten Erdball. Immer wieder hatten Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste es mit international brisanten Ereignissen zu tun gehabt, bei denen diese unbekannte Organisation involviert gewesen war. Tatsächlich zuzuschreiben war ihr jedoch keine einzige Operation, und im Laufe der jahrelangen Ermittlungen hatte sich nur eine einzige Erkenntnis ergeben: Dass irgendjemand, kein Land, keine politische Partei und keine bekannte Terrorgruppe, sondern irgendwer anderes immer wieder und mit großem Erfolg die Wege der Geheimdienste und Militärs kreuzte und auf Verbrecherjagd war. In der Tat hatten alle ungeklärten Vorfälle, die man, da sie eben ungeklärt waren, der geheimnisvollen Organisation zuschrieb, in irgendeiner Weise mit kriminellen Machenschaften zu tun gehabt. Seien es nun Tötungen bekannter Mafiaführer und Warlords gewesen oder die Überführung korrupter Politiker und Wirtschaftsbosse, alle Aktionen der Unbekannten hatten der Verbrechensbekämpfung gedient. Morrison selbst empfand die Existenz dieser Organsiation daher als weniger bedrohlich, wie so manche seiner Kollegen oder die Regierung. Da die Unbekannten aber nun einmal illegal und unkontrolliert handelten, hatten alle Polizeiapparete der Welt natürlich ihre Ergreifung zum Ziel. Eine Aussicht auf Erfolg schien diesbezüglich jedoch in weiter Ferne.

Und nun hatten die Unbekannten also wieder zugeschlagen und allem Anschein nach mal eben so unter Zuhilfenahme eines B2-Bombers ein chinesisches U-Boot der Jin-Klasse versenkt. Als sei das aber noch nicht genug, war jetzt auch noch bekannt geworden, dass sich an Bord des U-Bootes zwölf JL-2-Atomraketen mit Bestimmungsort Pakistan befunden hatten. Das alles war ein Desaster. Sein Geheimdienst hatte komplett versagt. Atomsprengköpfe in Pakistan! Einfach unvorstellbar! Das Land hatte sich, was seine Terrortätigkeiten anbelangte, seinem Nachbarn Afghanistan gefährlich angenähert. Nirgendwo auf der Welt, außer in Afrika waren die Aktivitäten der CIA konzentrierter und brisanter als in Afghanistan und Pakistan. Und da unterlief ihnen so ein dicker Bock? Unfassbar!

„Also gut!“ Morrisons Ton hatte sich inzwischen in ein verzweifeltes Flüstern gewandelt. „Wissen Sie wenigstens schon etwas mehr über den Vorfall in Turin?“

„Naja, nicht wirklich!“, klang es genauso verzweifelt aus dem Telefonhörer. „Bei dem erschossenen Mann vor der Kathedrale handelt es sich um einen bisher nicht näher bekannten Deutschen. Seine Identifizierung scheint nicht so einfach zu sein, da sein Pass offenbar gefälscht war. Der Tote in der Nebenstraße war ein Russe namens Oleg Markov. Er ist bereits aktenkundig und gehört zur russischen Waffenschieberszene.“

„Was wissen wir sonst noch?“

„Leider nichts weiter!“

Morrison schüttelte den Kopf. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

„Haben Sie denn gar nichts Brauchbares für mich?“, fragte er.

„Eigentlich nicht“, war die Antwort. „Interessant ist allerdings, dass der tote Deutsche bereits vor seiner Erschießung Kontakt mit seinem oder seinen Mördern gehabt haben muss. Er war verletzt und hatte sich anscheinend schon einen Kampf mit ihnen geliefert, bevor er vor der Kathedrale erwischt wurde.“

„Ok, das hilft uns zwar auch nicht wirklich weiter, ist aber wenigstens etwas. Sammeln Sie weiter alles, was sie über die beiden Toten finden können und schicken Sie mir ´nen Bericht!“

Ohne ein weiteres Wort beendete Morrison das Gespräch und legte das Mobiltelefon auf den Tisch. Langsam rieb er sich die von Sorgenfalten überzogene Stirn. Der Tag konnte heiter werden. Er hatte keine Ahnung, was da draußen vor sich ging und wohin das alles noch führen konnte. Und zu allem Überfluss hatte der Präsident auch noch eine Sitzung im Weißen Haus einberufen, um die jüngsten Ereignisse zu besprechen. Die ´Einladung´ zu dieser Sitzung kam gerade auf Morrison´s Smartphone an.


***


London (England)


Der Mann in dem sandfarbenen Jacket nahm einen vorsichtigen Schluck aus der heißen Kaffeetasse und blickte dabei kurz von der vor ihm liegenden Zeitung auf. Draußen vor dem Café in der Oxford Street herrschte der übliche Trubel. Trotz des Regens und der noch frühen Uhrzeit waren die Straßen bereits voll von Passanten und Touristen, und die unzähligen Boutiquen, die sich dicht an dicht in der berühmten Einkaufstraße drängten, platzten aus allen Nähten.

Vor dem Café hielt ein Mann an und klappte seinen nassen Regenschirm zusammen. Er trug eine dünne Leinenjacke und eine verschlissene, dunkelblaue Jeans. Nachdem er seinen Schirm etwas ausgeschüttelt und in den Schirmständer neben der Tür gestellt hatte, betrat er das Café und schaute sich um. Der Mann am Tisch vertiefte sich wieder in seine ´Times´. Ein anscheinend äußerst interessanter Artikel über einen Selbstmordanschlag auf das amerikanische Militär in Afghanistan war dort abgedruckt.

„Was für ein bescheidenes Wetter, finden Sie nicht?“

Der Mann schaute auf und blickte in das vorsichtig lächelnde Gesicht des neu angekommenen Gastes.

„Typisch London“, erwiderte er und widmete sich erneut dem Zeitungsartikel. Der andere Mann setzte sich ihm gegenüber und schwieg einige Sekunden.

„Ist der Kaffee hier gut?“, fragte er nach einer Weile. Er schien kein Engländer zu sein, denn er sprach mit einem arabischen Akzent.

„Schwarz würde ich ihn nicht empfehlen“, erwiderte sein Gegenüber ohne aufzublicken, „aber mit ein wenig Zucker ist er durchaus genießbar!“

„Bekommt man einen Keks dazu?“

„Keinen chinesischen Glückskeks, wenn Sie so etwas meinen. Dafür das bröckelige englische Zeugs.“

„Ich glaube, ich bestelle einen Tee!“

„Indisch oder pakistanisch?“

„Welcher ist denn besser?“

„Nun, der pakistanische Tee schmeckt etwas bitter. Aber allemal besser als die indische Plörre!“

Der Kellner kam an den Tisch der beiden Männer und fragte den neuen Gast, was er bestellen möchte.

„Bringen Sie mir einen Cappuccino“, antwortete der Gast ohne zu überlegen. Nachdem der Kellner wieder gegangen war, wandte er sich erneut an den Mann im Jacket.

„Mir steht doch eher der Sinn nach etwas Italienischem, wissen Sie?“

„Wenn Sie meinen...!“

Eine kurze Pause entstand. Argwöhnisch beäugte der Mann in der Leinenjacke sein Gegenüber.

„Können Sie mir vielleicht ein gutes Restaurant hier in London empfehlen?“, fragte er mit vorsichtigem Ton. „So, wie es aussieht, muss ich nämlich wohl ein wenig länger in der Stadt bleiben.“

„Wenn Sie so auf Italiener stehen, dann probieren Sie diesen hier!“

Der Mann griff in seine Hosentasche und schob dem anderen eine Visitenkarte über den Tisch. Dieser nahm sie an sich und stand auf. Dann verließ er ohne weitere Worte zu verlieren das Café. Der Kellner, der ihm gerade den bestellten Cappuccino bringen wollte, schaute ihm verdutzt hinterher.


***


Berlin (Deutschland)


Die Anti-Terroreinheit der deutschen Bundespolizei, die ´GSG 9´, galt international als eines der besten Sonderkommandos überhaupt. Sie wurde nach der Katastrophe bei den Olympischen Spielen 1972 in München gegründet und hat seitdem einige bedeutende Antiterroreinsätze sowohl innerhalb Deutschlands als auch zuletzt im Ausland bei der Operation ´Desert Fox´ in Ägypten und der Piratenbekämpfung vor der somalischen Küste durchgeführt. Anders als das deutsche Kommando Spezialkräfte ´KSK´, welches der Bundeswehr angehörte und somit eine Militäreinheit darstellte, war die GSG 9 vornehmlich als Polizeitruppe für den innerdeutschen Einsatz bei der Terrorbekämpfung und der Geiselbefreiung vorgesehen. So auch heute.

Seit mehr als eineinhalb Stunden schon hielt eine unbekannte Anzahl angeblich russischer Geiselnehmer die fünf Mitarbeiter einer kleinen Bankfiliale im Stadtteil Kreuzberg als Geiseln. Ansich kein Fall für die GSG 9, allerdings waren die Forderungen der Geiselnehmer so außergewöhnlich, dass die Bundespolizei eingeschaltet worden war. Die drei Männer verlangten etwas Unfassbares: Der Direktor der von ihnen überfallenen Bank, der Berliner Sparkasse, die ihren Hauptsitz am Alexanderplatz hatte, sollte sich zu ihnen begeben und sich vor ihren Augen das Leben nehmen. Alle Versuche, sich mit den Russen auszusprechen und ihre Beweggründe in Erfahrung zu bringen, waren gescheitert. Das Ultimatum war gesetzt: Bis 10:30 Uhr hatte sich Dr. Hermann-Josef Fiedler bei ihnen einzufinden und zu erschießen. Ansonsten würde man mit der Hinrichtung der Geiseln beginnen.


Die Sparkassenfiliale war umstellt. Die Beamten der GSG 9 hatten jeden Winkel des Gebäudes im Visier. Mit ihren G36-Sturmgewehren zielten sie auf die Fassade des alten Backsteinhauses. Oben, auf den Dächern der umliegenden Häuser hatten Scharfschützen mit Präzisionsgewehren Stellung bezogen. Durch ihre Schmidt & Bender - Zielfernrohre versuchten sie, zwischen den Lamellen der Raffrollos in die Bank zu spähen. Viel war allerdings nicht zu sehen, und die sommerlich warme Luft rund um die Bank schien vor Spannung förmlich zu knistern.

Eine rasche, ungewöhnliche Bewegung in der Bank erregte plötzlich die Aufmerksamkeit eines der Scharfschützen. Irgendjemand im Inneren der Bank war gerade am Fenster vorbeigehuscht.

„Teamleiter, hier Schütze 3“, meldete er in sein Headset, „ich glaube, in der Bank tut sich etwas!“

„Schütze 3, was sehen Sie?“, kam die Antwort aus dem Ohrhörer des Mannes.

„Ich weiß nicht, da war...“

In der Bank brach die Hölle los.

Die Glasscheiben zerbarsten urplötzlich unter den Einschlägen hunderter von Kugeln. Die Polizisten vor der Bank hechteten hinter ihre Autos. Der Lärm automatischer Schnellfeuergewehre ließ sie in Deckung gehen. In der Bank war anscheinend ein Kampf ausgebrochen. Verwirrung und Chaos machten sich breit.

„Was zum Teufel geht da vor?“

„Ich kriege kein Bild rein!“

„Die Funkverbindung ist abgerissen!“

„Haben wir ein Team in der Bank?“

„Ich will sofort ein Bild haben!“

„Oh mein Gott...!“


Als das Feuer geendet hatte und die Beamten der GSG 9 knapp zwei Minuten später die Bank stürmten, fanden sie die fünf Mitarbeiter gefesselt und geknebelt in einem Abstellraum im hinteren Bereich der Filiale vor. Sie waren bis auf einen kräftigen Schock körperlich unversehrt. Anders die Geiselnehmer. Die waren nämlich nirgendwo aufzufinden. Die Polizisten durchsuchten das ganze Gebäude. Überall herrschte Chaos. Das Mobiliar der Bank glich einem Trümmerfeld. Nichts war im Feuer der Waffen intakt geblieben. Glassplitter, Holz- und Betonscherben sowie Papierfetzen, durchlöcherte Aktenordner und allerlei Schreibtischutensilien übersäten den Boden. Von dem oder den Verursachern des Durcheinanders dagegen fehlte jede Spur.


Name: Sean Elliot

SHADOW-Codename: MONKEY

Alter: 37

Größe: 1,83 m

Gewicht: 80 Kg

Haarfarbe: blond

Augenfarbe: grün-grau

Herkunft: England

Spezialität: Einbrüche und verdeckte Missionen

Bevorzugte Waffen: Sturmgewehr, Pistole, Armbrust, Messer


***


Sierra Nevada (USA)


Die hochmodern ausgestattete Nachrichtenzentrale des SHADOW-Hauptquartiers lag irgendwo in den schneebedeckten Gipfeln des Sierra Nevada-Gebirges im Osten des Bundesstaates Kalifornien. Sie war das Herz der geheimsten privaten Militärmacht der Welt. Der halbrunde, von getönten Glasscheiben eingefasste Raum war mit riesigen Plasmabildschirmen und monoton sirrenden Großrechenanlagen vollgestopft. Überall piepste und blinkte etwas, und Bildschirme zeigten Karten von allen Teilen der Erde. An mehreren im Raum verteilten Terminals saßen in einheitliche, schlichte Uniformen gekleidete Personen und kommunizierten mittels ihrer Headsets mit Außenstellen, Informanten und Agenten. Es herrschte Hochbetrieb. In der Mitte des Raumes befand sich ein etwas erhöhtes, kreisrundes Podest, das in seinem Design der Kommandobrücke eines U-Bootes ähnelte. Ein groß gewachsener, muskulöser Mann mit grau meliertem Haar in olivfarbenem T-Shirt und Tarnhose stand darauf und schaute sich mit nachdenklicher Miene in der Zentrale um.

„Zwischenbericht, Alpha!“, befahl er nach einer Weile.

Eine der Frauen an den Terminals drehte sich zu ihm um.

„Sir, unser Posten in Kabul meldet gerade die Sichtung des Konvois.“

„Anzahl?“

„Drei gepanzerte Jeeps und ein Pritschenwagen.“

„SNAKE soll sich bereithalten!“

„Ja, Sir!“


Die streng geheime, mit modernster Technologie ausgerüstete Organisation SHADOW war selbst den besten Geheimdiensten der Welt unbekannt. Niemand außenstehendes wusste von ihrer Existenz. Dabei blickte SHADOW auf eine mehr als sechshundert Jahre alte Vergangenheit zurück. Gegründet im Jahr 1369 von einer abtrünnigen Gilde des spanischen Ritterordens von Montesa blieb die ´Gesellschaft der Schatten´, wie sich die Organisation bis vor kurzer Zeit genannt hatte, lange eine kleine, unbedeutende Untergrundgemeinschaft, die sich im Widerstand gegen die zunehmende Enteignung des Ritterordens zugunsten des Adels und dem Kampf gegen den Einfluss der zerschlagenen Templer auf den Montesaorden übte. Als dann gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die spanische Inquisition gegründet wurde und der Adel mit diesem Instrument seine Macht ins Unermessliche steigerte, zog die ´Gesellschaft der Schatten´ in den Krieg. Dieser Krieg sollte niemals mehr enden und die einst unbedeutende und schwache Gilde zu einer über die Grenzen Spaniens und bald sogar Europas hinaus einflussreichen und furchteinflößenden Organisation werden lassen, deren Kampf bis heute andauerte.

Im Zuge ihrer wachsenden Stärke und dem gleichzeitigen Aufstreben Amerikas als Weltmacht hatte die ´Gesellschaft der Schatten´ zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Hauptquartier aus Spanien heraus in die USA verlegt. Dort hatte man sich zunächst in der Nähe von Denver, Colorado niedergelassen, bevor sozusagen als Huldigung an die spanischen Wurzeln der Organisation ein erneuter Umzug in die Berge der Sierra Nevada stattfand. Hier, unweit des Mount Whitney, des höchsten Berges der USA außerhalb von Alaska, war die Organisation, die sich seither SHADOW nannte, nun seit fast zwanzig Jahren zuhause.

Geheimhaltung war seit jeher der wichtigste Schlüssel zum Überleben von SHADOW gewesen. Die über vierhundert Mitglieder der Organisation waren zum großen Teil direkte Nachkommen anderer Mitglieder. Insofern war SHADOW fast eine Art Familienunternehmen. Selbstverständlich war die Technologie, die die Organisation für ihren Kampf gegen das Verbrechen einsetzte, nicht nur über rein familiäre Beziehungen zu bekommen. Über eine Unmenge von Scheinfirmen und Bankzwischenkonten wurden die nötigen Umwege bei der Technologiebeschaffung gegangen, so dass niemand die Spuren bis zu SHADOW zurückverfolgen konnte. Die Operationen, die SHADOW auf der ganzen Welt durchführte, wurden stets durch ausgeklügelte Täuschungsmanöver und falsche Fährten getarnt. Oftmals wurden sogar die Computersysteme der Geheimdienste gehackt, um Spuren zu verwischen und Manöver für die Akten ungeschehen zu machen. Die Regierungen der Welt tappten im Dunkeln und mussten nicht selten als Sündenböcke für die von SHADOW unternommenen Operationen herhalten. Das alles war vielleicht nicht die feinste Art und Weise und brachte so manchen Staatsmann des Öfteren in arge Erklärungsnöte, der Erfolg von SHADOW allerdings sprach für sich. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, skrupellose Waffenhändler, korrupte Wirtschaftsmagnaten und mächtige Drogenkartelle waren die SHADOW-Operationen die durchschlagendsten Waffen. Dankbarkeit allerdings konnte man dafür nicht erwarten. Im Gegenteil: Die Suche nach den Hintermännern der Operationen stand auf den Prioritätenlisten aller Geheimdienste seit langer Zeit ganz oben. Die Regierungen und Militärs der führenden Industriestaaten setzten alles daran, SHADOW auf die Schliche zu kommen. Sie konnten sich nicht sicher fühlen, wenn eine ihnen unbekannte Macht Militäraktionen auf der ganzen Welt durchführte und dabei die allerneusten, teilweise noch streng geheimen Technologien verwendete. Außerdem waren nicht nur klassische Verbrecher das Ziel von SHADOW. Auch auf den ersten Blick saubere, in Wahrheit aber korrupte und kriminelle Wirtschaftsunternehmen und sogar Politiker wurden von der geheimen Organisation enttarnt und bekämpft. Niemand konnte sich sicher sein, seine verbrecherischen Geheimnisse nicht plötzlich offenlegen und dafür büßen, möglicherweise sogar sein Leben geben zu müssen.

SHADOW war absolut neutral und an keinen Staat und keine Regierung der Welt gebunden. Die Mitglieder der Organisation entstammten den verschiedensten Nationalitäten, waren aber allesamt unabhängig von ihrer Heimat und nur ihrem gemeinsamen Geheimnis treu ergeben. Ausgerüstet mit der modernsten Waffen- und Spionagetechnologie war SHADOW in der Lage, jederzeit und überall auf der Welt zuzuschlagen.

General Francis Clayton, Codename GHOST, war seit nunmehr acht Jahren der Anführer von SHADOW. Er war direkt seinem Onkel Howard Spencer Clayton gefolgt und genoss innerhalb der Organisation den Ruf eines harten, aber fairen und vor allem höchst kompetenten Anführers. Als ehemaliger General der US-Army hatte er herausragende Erfahrungen in der Militärtaktik und der Waffentechnologie der größten Armee der Welt. Hinzu kamen hilfreiche Kontakte bis in die höchsten Führungsebenen des Pentagon. Selbstverständlich wusste niemand über Clayton´s neue Tätigkeit Bescheid. In den Augen der Army war er vor zehn Jahren viel zu frühzeitig in den Ruhestand gegangen. Aber der heute Sechsundfünfzigjährige hatte es sich leisten können, die Army so früh zu verlassen. Er hatte eine beeindruckende Laufbahn genossen, war einer der jüngsten amerikanischen Generäle überhaupt gewesen und hatte ausgezeichnete, mit der Medal of Honor gekrönte Dienste, unter anderem auf den Schlachtfeldern des Balkan und des Irak geleistet. Daher hatte man ihn zwar schweren Herzens, aber mit Verständnis und Dankbarkeit aus dem Dienst scheiden lassen. Clayton hatte seitdem immer noch regelmäßig Kontakt mit der Militärführung der Army, hielt seine Identität bei SHADOW aber erfolgreich geheim und hatte dadurch den Vorteil, immer auf dem aktuellen Stand der Dinge bei der Army zu sein und dieses wertvolle Wissen direkt bei SHADOW verwenden zu können.


„Sir?“

GHOST drehte sich zu der Dame am Kontrollterminal um.

„Der Konvoi erreicht jetzt das Zielgebiet.“

Der General nickte. Es wurde ernst.

„Grünes Licht für Operation ´Schwarzer Afghane´!“


Name: Francis Clayton

SHADOW-Codename: GHOST

Alter: 56

Größe: 1,88 m

Gewicht: 96 Kg

Haarfarbe: grau-schwarz

Augenfarbe: blau

Herkunft: USA

Spezialität: Militärstrategie und -taktik

Bevorzugte Waffen: Sein Verstand


***


Kabul (Afghanistan)


In der flirrenden Mittagshitze wirkten die näher kommenden Fahrzeuge wie eine verschwommene Fata Morgana. Während sie rumpelnd über die unebene Sandpiste auf die Stadt zufuhren und sich ihre Motoren die Steigung zum Stadttor hinauf quälten, richtete der in einen sandfarbenen Tarnanzug gekleidete Mann in dem Minarett sein Laserobjektiv neu ein. Unter ihm in den engen, staubigen Gassen der Stadt herrschte die alltägliche Hektik. Für einen Fremden musste das vom Schwarz und Blau der afghanischen Abayas und Burkas bestimmte Treiben zwangsläufig bedrohlich und unheimlich wirken. Das chaotische Stimmengewirr der unzähligen Händler, die auf Holzkarren ihre orientalischen Waren darboten, verursachte Kopfschmerzen. Hupende Autos, wild gestikulierende Militärposten und Polizisten und die überall presente Angst vor neuen Gewaltausbrüchen taten ihren Rest zu dem mulmigen Gefühl, das einen überkam, wenn man Kabul besuchte.

Afghanistan war nach wie vor Kriegsgebiet. Der Einfluss der Taliban war ungebrochen und fast täglich erschütterten Bombenanschläge das ohnehin so arg gebeutelte Land. Die Amerikaner hatten ihre Truppenstärke in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht, anstatt sie wie geplant zu verringern, konnten aber dennoch keine durchschlagenden Erfolge gegen den Terror der Taliban und ihres Waffenarmes, der Al-Quaida, verbuchen.

Osama bin Laden war zwar tot, der erhoffte Sieg über den Terrorismus war mit seiner Liquidierung allerdings nicht eingetreten. Überhaupt war die Tötung ´Geronimos´, so Bin Laden´s Codename im CIA-Jargon, nur ein symbolischer Erfolg gewesen. Mehr als ein gutes Gefühl und die Verkündung eines endlich geglückten Vergeltungsschlages für die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001 hatte man seinem Tod nicht abgewinnen können. Wie auch? Schließlich war das Thema ´Bin Laden´ nie mehr als ein zugegebenermaßen gut gespieltes Theaterstück gewesen:

Ein Sonderkommando der US-Navy Seals hatte den meistgesuchten Terroristen der Welt zur Strecke gebracht. ´Neptune´s Spear´ hatte die Operation geheißen. Allerdings hatte man Bin-laden nicht, wie viele zuvor vermutet hatten, in einem Erdloch oder einer Höhle, irgendwo in den afghanisch-pakistanischen Bergen erwischt, so wie es damals bei Saddam Hussein im Irak gewesen war. Nein, der Schauplatz der gezielten Eliminierungsmission war die pakistanische Stadt Abbottabad, sechzig Kilometer nördlich der Hauptstadt Islamabad gewesen. Dort hatte sich Bin Laden bereits seit mehreren Jahren aufgehalten. Unter den wachsamen Augen des amerikanischen und des pakistanischen Geheimdienstes wohlgemerkt. Die CIA und der ISI hatten genau gewusst, wo sich der Al-Quaida-Führer zu welchem Zeitpunkt aufhielt, und sie hatten seine Anwesenheit und sein Wirken immer geduldet. Für den unbedarften Normalbürger mochte es befremdlich erscheinen, wenn die westlichen Staaten einen Mann wie Osama bin Laden einerseits zum Staatsfeind Nr. 1 erklärten und ihn angeblich händeringend suchten, andererseits seine Aufenthaltsorte aber genau kannten und nichts gegen ihn unternahmen. Aber die Regeln der Politik und der internationalen Handelsbeziehungen waren nun einmal anders, als ein gewöhnlicher Bürger es je verstehen würde. Der Einfluss der Familie Bin Laden war, bedingt durch die Macht des von Muhammad bin Laden gegründeten Kartells ´Saudi Binladin Group´ in der ganzen islamischen Welt enorm. Die politischen Beziehungen des aus dem Jemen stammenden Muhammad hatten seine Sippschaft zu einem starken, kaum antastbaren Pfeiler im Machtgefüge des Königshauses Saud werden lassen. Die Bin Ladens betätigten sich in vielen Bereichen des nah-östlichen Wirtschaftslebens und wurden so nach und nach auch wichtige Handelspartner des Westens. Entsprechend hoch waren die politischen Interessen und die Notwendigkeit der Verständigung mit der kapitalistischen Welt. Von Osama bin Laden selber war daher keine besonders hohe Gefahr ausgegangen, niemals. Auch wenn er im Laufe seines Lebens immer radikaler geworden und schlussendlich der Gründer und lange Zeit der Führer der Al-Quaida gewesen war, das wirkliche Übel hatten immer die geistlosen, vom Fanatismus blind und zornig gemachten Straßenkrieger des Islam verbreitet. Diejenigen, die sich ohne lange nachzudenken einen Sprengstoffgürtel umschnallten, ein Kaufhaus betraten und sich selbst in einen Feuerball verwandelten. Männer und Frauen ohne den Blick für das Wesentliche, der sie von ihren Aufwieglern und Anführern unterschied. Bin Laden dagegen war als Stimmungsmacher und Fürsprecher des Terrors zwar ein Problem gewesen, es zu bekämpfen hätte jedoch mehr Schaden angerichtet, als es der Beendigung des Terrors jemals hätte dienen können. Stattdessen hatte man Bin Laden an die Leine gelegt und gewissermaßen als Zirkusdompteur benutzt. Seine Stellung und sein Ansehen in der Al-Quaida und bei den Taliban hatte seinen Worten immer ein großes Gewicht verliehen, sodass er das Terrornetzwerk zumindest ein Stück weit lenken und vor dem unkontrollierten Ausufern der Gewalt hatte zurückhalten können. Sicher, für viele Menschen auf der Welt war das, was die Terroristen mit ihren regelmäßig verübten Anschlägen anrichteten, bereits blutig und unkontrolliert genug, aber ohne Bin Ladens lenkende Hände wäre die Welt wohl schon lange im Blut eines ´Heiligen Krieges´ ertrunken. Aus diesem Grund ließ man ihn lange Zeit unbehelligt und stellte ihn sogar unter den Schutz der Geheimdienste. Man ließ ihn in einem für pakistanische Verhältnisse äußerst luxeriösen Domizil wohnen – nach seiner ´Entdeckung´ wusste natürlich niemand, wie er dort so lange hatte unentdeckt bleiben können - verschaffte ihm die ein oder andere zusätzliche Annehmlichkeit und erhielt seinen Status als gefürchteter und gesuchter Terroristenführer. Bin Laden, der trotz seines unbestreitbaren Hasses auf den Westen immer noch ein intelligenter Mann mit Prinzipien und politischem Weltverständnis gewesen war, hatte sich dafür mit wichtiger Vermittlungsarbeit zwischen den Allierten und den Taliban revanchiert. Denn neben all den kriegerischen Auseinandersetzungen und den Anschlägen wurden sowohl die westlichen Kräfte, als auch die Taliban letztendlich doch noch von ihren wirtschaftlichen Interessen getrieben. Krieg war nun einmal teuer und Terror ebenso. Der Osten hatte die Bodenschätze, der Westen die Devisen. Man musste also dafür sorgen, dass man sich gegenseitig nicht völlig kaputt bombte. Und um das sicherzustellen, hatte man Osama bin Laden gebraucht.

Dann aber hatte es einen neuen, verheerenden Anschlag nahe Kabul gegeben, bei dem siebzehn amerikanische Zivilisten ihr Leben verloren. Unter ihnen die Nichte eines Regierungsmitgliedes, die als UNICEF-Botschafterin in Afghanistan tätig gewesen war. Die Öffentlichkeit hatte Konsequenzen gefordert. Und so hatte man kurzerhand auf den armen Osama zurückgegriffen und ihn in einer angeblich lange vorbereiteten und natürlich perfekt durchgeführten Aktion liquidiert. Offiziell hatte man hinterher behauptet, man habe den Terroristenführer eigentlich gefangen nehmen wollen und ihn nur aufgrund von Gegenwehr erschossen. In Wahrheit aber war es ein speziell für Tötungsmissionen ausgebildetes Seals-Kommando mit dem Codenamen ´G-Shock´ gewesen, das Bin Laden in seinem Wohnsitz in Abbottabad hingerichtet hatte. Den Plan, den Al-Quaida-Führer gefangen zu nehmen, hatte es nie gegeben. „Geronimo EKIA“, hatte es am Ende geheißen, „Geronimo, Enemy killed in Action“.

Eine Welle der Erleichterung war nach Bin Laden´s Tod um die Welt gerast. Die Nachrichten hatten sich in ihrem Lob auf die CIA und die amerikanischen Streitkräfte nahezu überschlagen, und die jahrelangen vergeblichen Versuche und leeren Versprechungen, die die Amerikaner und ihre Verbündeten der Öffentlichkeit hatten weiß machen wollen, waren mit einem Schlag vergessen gewesen. Nur wenige wussten, dass der Tod des Terroristenführers in Wirklichkeit nur Kalkül gewesen war. Und die meisten, die es wussten, schwiegen selbstverständlich. Darunter die Regierungen der USA, Russlands, Chinas, Frankreichs, Deutschlands und Englands.

Und SHADOW ? Die Augen und Ohren der Organisation waren überall, und natürlich waren ihr der Fall ´Bin Laden´ und die Hintergründe seines Todes bestens bekannt gewesen. Die Liquidierung ´Geronimos´ hatte genau die Folgen gehabt, die man zuvor durch seine Duldung in Pakistan hatte vermeiden können, nämlich das Ausufern der Gewalt. Die Zahl der Selbstmordattentate war seitdem stark angestiegen, vor allem in Pakistan und Afghanistan. Von einem Ende der Al-Quaida konnte nicht die Rede sein, im Gegenteil. Und so durchkämmten fast tagtäglich irgendwelche Spezialeinheiten der USA und der allierten Streitkräfte alle möglichen Schlupflöcher der Welt auf der Suche nach Terroristen und Extremisten. Alle waren sich inzwischen darüber im Klaren, dass ganz andere Leute als bloß ein Osama bin Laden sterben mussten, um etwas wirklich Effektives gegen den Terror der Welt zu unternehmen. Und heute war ein guter Tag dafür.


Durch das Zielfernrohr des M82-Präzisionsgewehres schienen die vier in die Stadt einfahrenden Fahrzeuge bereits bedrohlich nahe. Der Mann, der die Waffe führte und gerade die letzten Feineinstellungen daran vornahm, schaute kurz auf einen neben sich auf dem Betonboden liegenden Laptop. Der Bildschirm zeigte eine Live-Satellitenaufnahme des Stadtteils von Kabul, in dem sich der Mann gerade befand. Außerdem waren drei rot blinkende Punkte zu erkennen. Sie waren am Rand der Straße verteilt, auf der sich die vier Fahrzeuge vorwärts bewegten. Der Mann betätigte eine Taste auf dem Laptop, und das Bild teilte sich in vier Einzelbilder. Jeder der vier kleinen Monitorausschnitte zeigte nun eine Kamerasicht aus verschiedenen Positionen auf die Straße. Diese war aufgrund der allgemeinen Mittagsruhe nur wenig befahren. Ab und zu huschte ein Fahrzeug an den Kameras vorbei und erschien dabei auf dem Monitor im Minarett erst in dem Ausschnitt links oben, dann rechts oben, dann links unten. Der Bildausschnitt rechts unten zeigte weiterhin die Satellitenaufnahme der Stadt. Die Zielfahrzeuge rumpelten vorwärts. Jetzt, wo sie die Sandpiste außerhalb der Stadt verlassen hatten und auf einer, wenn auch sehr huckelig asphaltierten Straße fuhren, konnten sie das Tempo erhöhen. Die Motoren der Fahrzeuge heulten auf, und der Auspuff des Pritschenwagens, der an zweiter Stelle fuhr, hustete eine gigantische schwarze Abgaswolke in die heiß flirrende Luft hinaus. Vor dem Pritschenwagen, einem Mercedes T1, fuhr ein gepanzerter Humvee mit amerikanischer Flagge und Maschinengewehr auf dem Fahrzeugdach. In der Dachluke stand ein Soldat und schwenkte das Gewehr nervös von einer Seite zur anderen. Dabei wurde er von den unzähligen Schlaglöchern in der Straße kräftig durchgeschüttelt. Dem Pritschenwagen folgten zwei gepanzerte Geländewagen vom Typ Mercedes Benz G-Klasse. Die Fond-Scheiben waren stark getönt und ließen keinen Blick in den Innenraum zu. Zwei deutsche Flaggen auf den olivgrünen Motorhauben signalisierten die Zugehörigkeit der beiden Wagen zur deutschen Bundeswehr.

Der Mann im Minarett stand auf und wischte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn. Dann lockerte er seine Muskulatur, entspannte seine Hände und legte sich wieder hinter das Gewehr. Konzentriert hielt er den Atem an.

Der Humvee passierte eine Straßenlaterne. An dieser war eine quer über die Straße gerichtete Lichtschranke angebracht. Als das Militärfahrzeug diese durchfuhr, brach urplötzlich die Hölle los. Die drei auf dem Laptop erkennbaren, roten Punkte am Straßenrand waren nichts anderes als hochpräzise, computergesteuerte GAU–12 Equalizer-Gatlingkanonen. Diese normalerweise in Kampfflugzeugen verwendeten Waffen waren speziell für die Panzerbekämpfung entwickelt worden und verfügten über eine gewaltige Durchschlagskraft. Zwei der Kanonen waren in zwei am Straßenrand parkenden Lieferwagen versteckt. Die dritte befand sich hinter dem teilweise mit Zeitungen abgeklebten Schaufenster eines verlassenen Fahrradladens.


Die GAU spuckten Feuer. Ihre rotierenden, siebenläufigen Mündungstrommeln ließen ein wahres Kugelgewitter los und durchsiebten die Verkleidungen ihrer Verstecke innerhalb eines Sekundenbruchteils. Das Schaufenster und die Autoscheiben explodierten in einem gewaltigen Getöse. Die vorbeifahrenden Zielfahrzeuge wurden förmlich von der Fahrbahn gefegt. Ein gewaltiger Hagel aus panzerbrechenden 25 Millimeter-Geschossen zerfetzte die vier Autos und ließ einen Regen aus Metall und Glas auf die Straße niedergehen. Die Insassen hatten keine Zeit, irgendwie zu reagieren. Sie waren tot, bevor sie überhaupt begreifen konnten, welcher Sturm gerade über sie herein brach. Ihre Körper wurden in Stücke gerissen, als die Geschosse sie trafen und wie Butter durchschlugen. Die wenigen umherlaufenden Passanten, die aus heiterem Himmel in das Inferno geraten waren, warfen sich schreiend zu Boden und versuchten, irgendwo Deckung zu finden. Doch das computergesteuerte Feuer der Gatling-Kanonen war präzise auf die vier Ziele fixiert, und keiner von ihnen wurde verletzt. Der Mann im Minarett beobachtete das Spektakel durch das Objektiv seines Gewehres. Er brauchte nicht einzugreifen. Die drei automatischen Waffen erledigten den Job ohne sein Zutun. Als ihr Feuer endete, hinterließen sie vier brennende, aus Blut und Metall bestehende Klumpen, deren ursprüngliche Form sich nur noch erahnen ließ. Operation ´Schwarzer Afghane´ war somit erfolgreich beendet.


Name: Lennox Devreaux

SHADOW-Codename: SNAKE

Alter: 30

Größe: 1,82 m

Gewicht: 73 Kg

Haarfarbe: dunkelbraun

Augenfarbe: braun

Herkunft: Belgien

Spezialität: Sprengstoff und Observierungsmissionen

Bevorzugte Waffen: Präzisionsgewehr, Pistole, Sprengstoff


***


New York City (USA)


In dem karg eingerichteten und ungemütlich wirkenden Raum saßen zwei Personen. Eine davon war der Vorstandsvorsitzende des größten Rüstungskonzerns der Welt. Sein Name war Christopher O´Connell. Der ihm gegenüber sitzende Mann war sein persönlicher Berater Thomas Haffner. Der Grund für ihr Zusammentreffen hier im amerikanischen Hauptsitz der Firma in Midtown Manhatten war einfach: Die beiden hatten ein Problem.

Als weltgrößter Waffenlieferant war der schwedische Konzern Raffelson & Svenson in allen Krisenherden der Erde zuhause. Kein einziger Schuss fiel, von dem R&S nichts wusste. Im Grunde genommen konnte man sogar soweit gehen, zu behaupten, dass es auf der ganzen Welt keinen einzigen Konflikt gab, den diese Firma nicht genehmigt hatte. Ihr Einfluss in allen bedeutenden politischen Häusern war enorm, und ihre Machtstruktur war so weit vernetzt, dass sie in nahezu allen wichtigen Regierungen zumindest indirekt zugegen war. Neben den Millionen schweren Waffendeals, die R&S jeden Tag tätigte, war der Konzern neben der CIA und der NSA eine der am besten informierten Organisationen des Erdballs. Nur wer gut informiert war, konnte in der harten Branche der Rüstungsindustrie überleben. Immer und überall Bescheid zu wissen, diese Einstellung hatte R&S zu dem gemacht, was die Firma heute war: Ein mächtiges Imperium mit soviel Geld und Einfluss, wie sich so mancher Politiker und Wirtschaftsriese nur erträumen konnte. Und Chris O´Connell war der König dieses Imperiums. Der gebürtige Schotte war ein ebenso intelligenter wie hinterhältiger Stratege, der mit Geld und Macht spielte, wie andere Leute mit Karten. O´Connell liebte das Schachspiel auf der weltpolitischen Bühne. Seine Figuren waren Politiker und Geschäftspartner, sein Gegner der Pazifismus. Krieg war eine Droge, von der nicht nur O´Connell selber abhängig war, sondern die ganze Welt. Und er war der Dealer.

Gerade eben allerdings hatte sein Geschäft einen schweren Schlag hinnehmen müssen, und O´Connell war sich nicht sicher, ob er am Anfang oder am Ende eines Problems stand. Der Tag hatte bereits denkbar schlecht angefangen, als ihn die Nachricht ereilt hatte, dass wichtige Dokumente über ein streng geheimes Waffenprojekt namens ´Ares´ abhanden gekommen waren. Verloren hatte sie seine Versicherung in Deutschland, die Auswirkungen aber würden ihn direkt treffen.

Noch war auch nicht geklärt, was der Anlass des Überfalls auf die Berliner Sparkasse gewesen war, denn die Geiselnehmer waren wie vom Erdboden verschluckt, und die Aufräumarbeiten dauerten noch an. Ob, und wenn ja, was aus der Bank verschwunden war, konnte noch nicht geklärt werden. Wenn dieser Vorfall aber ebenfalls im Zusammenhang mit ´Ares´ stehen sollte, war es langsam wirklich an der Zeit, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Konnte es denn ein Zufall sein, dass an ein und demselben Tag die Versicherung bestohlen wurde, die das Waffenprojekt betreute, und kurze Zeit später ein Überfall auf die Bank stattfand, die seine Finanzierung unterstützte? Beide, sowohl die Versicherung, als auch die Bank, hatten natürlich keine Ahnung, um was genau es sich bei ´Ares´ handelte, aber auch ohne dieses Wissen waren die Überfälle auf die beiden höchst bedenklich.

Dann war da die Sache mit dem versenkten chinesischen U-Boot. O´Connell hoffte inständig, dass die Beteiligung seiner Firma an der Fracht genauso wie die Fracht selber für immer auf dem Grund des Meeres begraben lag. Wenn herauskommen sollte, dass R&S Raketenlieferungen an Terroristen finanzierte, und dass die Zünder der Raketen noch dazu von R&S produziert worden waren...

Wieso war die Lieferung überhaupt aufgeflogen? Und wer um alles in der Welt versenkte ohne zu Zögern ein chinesisches U-Boot? Dieser jemand musste völlig verrückt sein, schließlich konnte das als Kriegsakt gegen China gewertet werden und einen internationalen Konflikt heraufbeschwören. Es sei denn, der Verursacher wusste genau um die prekäre Fracht, die das Boot transportierte und für wen diese bestimmt war. Denn dann wusste er auch, dass die chinesische Regierung die Sache keinesfalls an die große Glocke hängen würde. Aber sollte der Verursacher tatsächlich wissen, was das U-Boot geladen hatte, wusste er womöglich auch, wer in der Sache mit drin steckte...

Konnten das alles nur Zufälle sein, oder hatte es jemand direkt auf R&S abgesehen?


„Eben ist die Meldung gekommen, dass General Gummersbach in Kabul einem Anschlag zum Opfer gefallen ist“, erklärte Thomas Haffner dem besorgt dreinschauenden O´Connell und steckte sein Handy weg, mit dem er telefoniert hatte.

O´Connell wurde schlagartig blass. Nein, ein Zufall konnte das Ganze nun wirklich nicht mehr sein. Gummersbach war ein wichtiger Handelspartner für R&S gewesen, der seine guten Kontakte vor allem nach Afrika nutzte, um dort Geschäfte für den Waffenkonzern abzuschließen. Zudem war er ein Verbindungsmann zwischen R&S und einigen hochrangigen französischen Militärs und Geheimdienstlern, die die Firma bei der Durchführung des streng geheimen Projektes ´Ares´ unterstützten.

„Weiß man schon, wer dahinter steckt?“ O´Connell´s bleichem Gesicht war der Schock dieser Nachricht deutlich anzumerken.

Haffner schüttelte den Kopf. „Nein, bislang keine Spur!“

Der Vorstandsvorsitzende überlegte. Allem Anschein nach war seine Firma tatsächlich das Ziel eines unbekannten Angreifers. Aber wer konnte das sein, und vor allem, was konnte er wollen? Ging es wirklich um ´Ares´? War das Projekt aufgeflogen?

„Wir sollten ´Ares´ vorerst auf Eis legen“, riet Thomas Haffner mit vorsichtigem Ton.

„Auf Eis legen?“ O´Connell traute seinen Ohren nicht. „Thomas, wir können ´Ares´ nicht einfach so auf Eis legen! Hast du eine Ahnung, wieviel Geld bereits in dem Projekt steckt und in wessen Verpflichtung wir damit stehen?“

„Wir werden aber alle nichts davon haben, wenn wir auffliegen!“, mahnte Haffner.

O´Connell nickte. Natürlich hatte sein Berater Recht. Ärgerlicherweise! Das größte Problem von Christopher O´Connell war, dass er die schlechte Angewohnheit hatte, niemals auf die Ratschläge anderer Menschen zu hören. Im Grunde war die Funktion von Thomas Haffner daher völlig überflüssig. Die Regeln der Firma verlangten jedoch nach einem Mann mit gutem Rat an der Seite ihres Chefs. Also hatte sich O´Connell seinen langjährigen Freund und früheren Studiengefärten Thomas Haffner ins Boot geholt. Und dieser hatte seitdem gute Dienste geleistet. Denn selbst wenn O´Connell es nie zugeben würde, ohne seinen Berater wäre so manche Situation in seinem Leben als Vorstandsvorsitzender um einiges heikler geworden. Und das wurmte den Schotten ungemein. Im Stillen aber dankte er Haffner für seine Arbeit, und der widerum wusste auch ohne entsprechende Worte seines Chefs, welch große Bedeutung dieser ihm zumaß.

„Wir werden vorerst gar nichts tun“, beschloss O´Connell mit bestimmendem Ton und erhob sich. Er brauchte dringend einen starken Kaffee. Der Tag hatte unerwartet früh begonnen, und der gestrige, feucht fröhliche Abend mit ein paar Golfbekannten und weiblicher Begleitung steckte dem R&S-Chef noch tief in den Knochen.

Haffner schaute O´Connell skeptisch an. „Gar nichts? Und was sagen wir unseren Partnern? Einige Leute werden ziemlich nervös sein!““

„Wir müssen uns bedeckt halten“, erkärte O´Connell, während er sich in Richtung Tür begab. „Nichts darf das Projekt gefährden. Immerhin existiert es offiziell gar nicht. Wenn aber jemand davon Wind bekommen hat und uns deswegen angreift, dürfen wir uns nicht vorschnell aus der Reserve locken lassen. Wenn wir ´Ares´ stoppen, haben wir ein größeres Problem, als uns womöglich durch diese merkwürdigen Angriffe entsteht. Die Franzosen sind ungeduldige Menschen. Die zerreißen uns in der Luft, wenn sie nicht kriegen, wofür sie bezahlen. Wir warten also erstmal ab!“

Haffner nickte skeptisch. Dann folgte er seinem Chef hinaus aus dem Zimmer.


***


Washington D.C. (USA)


Ernest Morrison war kein großer Mann. Diese Aussage war weniger auf seinen beruflichen Werdegang oder seine Funktion als Direktor des größten Geheimdienstes der Welt bezogen, sondern vielmehr auf seine Körpergröße. Mit gerade einmal einsachtundsechzig gehörte Morrison zu den kleinsten Männern der Firma, und war doch der Chef des ganzen Ladens. Im Moment jedoch fühlte sich Morrison noch um einiges kleiner als sonst, und schon gar nicht als Chef der Central Intelligence Agency.

Soeben war eine spontan einberufene Dringlichkeitssitzung im Weißen Haus zu den Ereignissen des heutigen Tages zuende gegangen, und der CIA-Direktor konnte nicht gerade behaupten, sie sei aus seiner Sicht erfolgreich verlaufen. Gelinde ausgedrückt, hatte man ihn platt gemacht. Das Unwissen seines Büros über das Richtung Pakistan fahrende, chinesische U-Boot mit seiner mehr als bedenklichen Fracht hatte den amerikanischen Präsidenten ziemlich ausflippen lassen. Mehr aber noch hatte die Zerstörung des Bootes für Wirbel gesorgt: Eine unbekannte Macht, die die USA und die ganze Welt schon seit langer Zeit immer wieder mit professionell angelegten, militärischen Aktionen gegen diverse Ziele düpierte, verfügte allem Anschein nach über einen amerikanischen B2-Bomber und versenkte das Boot in einer spektakulären Aktion mitten im südchinesichen Meer. Unglaublich! Und das war noch nicht alles gewesen. Die nicht weniger aufsehenerregenden Vorfälle in Algerien, Italien, England und Deutschland waren bislang noch völlig ungeklärt, und Morrison vermutete, dass sie alle von derselben unbekannten Macht ausgingen, wie der U-Boot-Angriff in China.

Irgendjemand zog im Dunkeln die Fäden und war auf privater Verbrecherjagd. Und er, Ernest Morrison, hatte tatsächlich nicht die blasseste Ahnung, wer das sein konnte. Dabei füllten Vorfälle ähnlicher Art seit Jahren die Aktenschränke der CIA, und mehrere Sonderkommissionen zur Identifizierung der unbekannten Macht waren bereits ins Leben gerufen und aufgrund mangelnden Erfolges wieder aufgelöst worden. Niemand schien in der Lage zu sein, die hoch professionell und technologisch unglaublich gut ausgerüsteten Unbekannten zu enttarnen. Sicher, alle Aktionen der Vergangenheit, die man mangels anderer Informationen dieser nicht identifizierten Organisation zugeschrieben hatte, hatten stets die Richtigen getroffen. Menschenverachtende Diktatoren, korrupte Politiker und Wirtschaftsmagnaten sowie Mafiabanden und Drogendealerringe waren von den Unbekannten angegriffen worden. Nichts desto trotz schmeckte es den Regierungen und Geheimdiensten der Welt natürlich ganz und gar nicht, dass sie nicht wussten, wer ihnen da ins Handwerk pfuschte und auch noch so unerhört erfolgreich dabei war. Besonders die Amerikaner fühlten sich mächtig auf den Schlips getreten, und die CIA setzte immer wieder neue Ermittlungen diesbezüglich an. Ein Erfolg war bislang jedoch gänzlich ausgeblieben. Kein Wunder also, dass man ihn gerade im Weißen Haus förmlich in den Boden gestampft hatte und er nur knapp seiner Entlassung entgangen war. Wie er das geschafft hatte, war ihm selber schleierhaft.

Ok, was war zu tun? Zuallererst mussten sämtliche neue Spuren, die sich ergaben, akribisch verfolgt und analysiert werden. Der B2-Bomber stellte dabei zurzeit den besten Anhaltspunkt dar. Mit Hilfe der Satellitenbilder aus dem chinesischen Meer würde es vielleicht gelingen, den Weg des Stealth-Flugzeuges nachzuvollziehen. Außerdem mussten die Air Force und Northrop tätig werden. Wie viele B2 waren im Umlauf, wie viele wurden hergestellt, wer war alles in die Entwicklung und die Käufe involviert? Irgendwie musste sich doch feststellen lassen, ob und wie jemand unbefugt an ein fast neunhundert Millionen Dollar teures, streng geheimes Flugzeug gelangt war, von dem es gerade mal zwei Dutzend Stück gab und welches alleine von den USA genutzt wurde.

Ebenso mussten die Satellitenbilder aus Algerien ausgewertet werden. Möglicherweise konnte man die Entführung von Hafsa Al-Gharamh irgendwie nachverfolgen. Im Grunde genommen hätte es der CIA ja völlig egal sein können, ob irgendjemand in Algerien eine Terroristin entführt. Bei Hafsa war die Sache allerdings etwas komplizierter. Die Frau war innerhalb der letzten Jahre zu einer bedeutenden Führungsperson innerhalb der ´Al-Quaida des Islamischen Maghreb´ geworden. Ihr Wissen war sehr umfangreich. Daher hatte man sie beschatten lassen. Dem US-Geheimdienst lagen Informationen darüber vor, dass sie und ihre Gruppierung in engem Kontakt zu einer aufstrebenden pakistanischen Terrorzelle standen. Diese wiederum wäre möglicherweise sogar der Empfänger der chinesischen Atomraketen gewesen. Man konnte sich leicht ausmalen, was passieren würde, wenn pakistanische Terroristen in den Besitz nuklearer Langstreckenraketen kämen. Es war daher von äußerster Wichtigkeit, dass diese Terrorzelle näher untersucht und überwacht wurde. Um allerdings mehr über sie erfahren zu können, brauchte man Hafsa.

Und dann musste endlich der Vorfall in Turin geklärt werden. Die Ermittlungen waren hier nicht wirklich vorangekommen. Der Tote auf dem Kirchplatz war allem Anschein nach ein deutscher Waffenschieber namens Norbert Fischer. Der tote Russe namens Oleg Markov in der Seitenstraße schien sein Kumpane gewesen zu sein. Vermutlich hatte er den Mörder von Fischer verfolgt und war dabei selber drauf gegangen.

Die Spurensuche in der Berliner Bankfiliale und der Hamburger Versicherungsagentur dauerten ebenfalls noch an. Erste Ergebnisse waren frühestens morgen zu erwarten. Die von der CIA überwachte M&T-Versicherung in Hamburg hatte die in der vergangenen Nacht gestohlenen Daten inzwischen als nicht mehr aktuelle Tarifdaten einiger verstorbener Kunden bezeichnet. Morrison hatte laut losgelacht, als man ihm dies erzählte. Wer um alles in der Welt klaute schon alte Tarifdaten toter Menschen? Netter Versuch, aber so ganz blöd war der amerikanische Geheimdienst nun auch nicht. M&T stand unter dem Verdacht, die Schwarzmarktgeschäfte diverser Rüstungsfirmen zu unterstützen und daran mitzuverdienen. Die gestohlenen Daten schienen in direktem Zusammenhang mit diesem Verdacht zu stehen. Wundern würde es Morrison sicher nicht, wenn außer der CIA auch die mysteriöse, unbekannte Organisation von den Machenschaften der Versicherung Wind bekommen und sie daher nun ins Visier genommen hatte.

Tja, und was die Untersuchung des Anschlags auf einen deutsch-amerikanischen Militärkonvoi in Kabul anbelangte – die Nachricht über diesen Vorfall hatte Morrison erst vor wenigen Minuten während der Sitzung erreicht – konnte man nur hoffen, dass die afghanischen Kollegen dieses Mal etwas gewissenhafter mit der Tatortabsperrung sein würden als sonst. Kabul war weiß Gott kein Ort, um Spuren zu suchen, geschweige denn zu finden. Und auch wenn bereits CIA- und BND-Männer sowie Angehörige der amerikanischen und deutschen Streitkräfte auf dem Weg zum Ort des Geschehens waren, so bestand dennoch wenig Hoffnung, in der afghanischen Hauptstadt etwas Brauchbares über den oder die Drahtzieher des Attentates zu finden.

Der CIA-Chef schüttelte verärgert den Kopf, während er den blank gewienerten Flur des Weißen Hauses entlang eilte, um nach draußen zu seinem Wagen zu gelangen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Soviele Zwischenfälle mit internationaler Brisanz, und die CIA war völlig ahnungslos! Die ´Firma´, und vor allem er selbst, hatten so einiges gutzumachen, soviel stand fest.

Gedankenversunken stieg Morrison in den vor der Tür stehenden Wagen. Es lagen viele Stunden harter Arbeit vor ihm. Sicher würde er heute abend erst sehr spät nach Hause fahren können. Als erstes musste er sich über die Fortschritte bei den Ermittlungen an allen Tatorten schlau machen. Und dann wollten so einige Berichte geschrieben werden. Bereits für morgen Mittag hatte der Präsident eine neue Sitzung angeordnet. Bis dahin sollte Morrison besser etwas mehr in der Hand haben als heute. Mit heruntergelassenen Hosen vor John Ramsey zu stehen, war absolut kein Spaß, das hatte Morrison heute deutlich zu spüren bekommen. Der mächtigste Mann der Welt war normalerweise durchaus locker und für so manchen Scherz zu haben, aber an Tagen wie diesem war der gebürtige Texaner trockener wie die Sahara im afrikanischen Sommer. Ramseys Wunsch, bis morgen brauchbare Untersuchungsergebnisse auf dem Tisch zu haben, war nicht einfach die unumstößliche Forderung eines Präsidenten gewesen, sondern ein klares Ultimatum. Die Zeit lief gegen Morrison, und wenn er nicht bald zeigte, dass die CIA mehr war, als ein Haufen träger, der Zeit hinterher trabender Möchtegern-Spione, würde der Laden schon sehr bald von jemand anderem geleitet werden. Morrison aber mochte seinen Job und wollte ihn um keinen Preis verlieren. Jedenfalls nicht auf diese Weise! Wenn man ihm eines nicht nachsagen konnte, dann war es mangelnder Ehrgeiz. Der CIA-Direktor war fest entschlossen, ein Fiasko wie das der vergangenen Nacht nicht noch einmal mitzuerleben.


***


Die Gesellschaft der Schatten

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