Читать книгу Die Gesellschaft der Schatten - Christian Quaing - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

Sierra Nevada (USA)


General a.D. Francis Clayton, alias GHOST, war zufrieden. Der Tag war äußerst erfolgreich verlaufen, und alle SHADOW-Mitglieder waren nach ihren Einsätzen wohlauf. Die TV-Nachrichten waren bereits voll mit den heute durchgeführten Aktionen, und GHOST war sich sicher, dass in Washington, Berlin, Hamburg und New York schon so einige Köpfe rauchten. Sowohl die zuständigen politischen Ebenen, als auch die ohne Zweifel nervös gewordenen eigentlichen Ziele der SHADOW-Operationen würden sich sicher gerade hitzige Diskussionen liefern und die Hosen dabei gehörig voll haben. Insofern war das Etappenziel für heute erreicht.

GHOST wusste natürlich, dass seine Organisation erst am Anfang einer schwierigen Zeit stand. SHADOW hatte im Laufe seiner Vergangenheit schon so manche harte Nuss geknackt und dabei sowohl Politiker, als auch Privatmänner und –frauen von ihrem Thron gestürzt. Selbst ganze Regierungen waren von der „Gesellschaft der Schatten“ zu Fall gebracht worden. Da sollte ein Waffenkonzern wie Raffelson & Svenson auf den ersten Blick kein großes Problem darstellen. Aber wie so oft waren die vermeintlich leichteren Ziele auch die hartnäckigsten. R&S war auf der ganzen Welt aktiv und hatte bedeutende Verbindungen in die Regierungs- und Militäretagen aller möglichen Länder. Das notwendig gewordene Attentat auf den deutschen General Gummersbach war der jüngste Beweis dafür. R&S lieferte seine Produkte an alle wichtigen Militärs der Welt und war absolut führend in der Erforschung neuer Technologien. Viele Führungspersonen in den Armeen der verschiedenen Länder unterstützten und begrüßten die oftmals umstrittenen Forschungen des Unternehmens. Dies äußerte sich entweder direkt in finanziellen Zuwendungen, oder aber durch kleine Gefallen und verdeckte Absprachen und Dienstleistungen. General Gummersbach war einer der Männer gewesen, die R&S zwar nicht offiziell, aber in Form brauchbarer Dienste unterstützt hatten. Normalerweise wäre das noch kein Grund gewesen, ihn zu liquidieren, aber der nette General war mit seiner Hilfe etwas zu weit gegangen. Über die Funktion als Fürsprecher und Einflussnehmer in der deutschen Militärführung hinaus, hatte Gummersbach dem Waffenkonzern als Vermittler einiger höchst bedenklicher und sicherlich nicht genehmigter Waffenlieferungen gedient. So hatte er beispielsweise eine Lieferung tödlicher Gasgranaten an das israelische Militär durch die bürokratischen Hinderniskanäle geschleust. Dass diese Granaten einzig und allein dafür bestimmt waren, gegen die im Gazastreifen rebellierenden Palästinenser eingesetzt zu werden, war sowohl R&S als auch Gummersbach mehr als bekannt gewesen. Auch mehrere Waffenlieferungen in die afrikanischen Bürgerkriegsstaaten Somalia und Uganda, sowie in den Tschad hatte Gummersbach an den geltenden Embargovorschriften vorbei gelotst und dafür eine gute Stange Geld von R&S kassiert. Dass der Waffenhersteller keine Skrupel kannte, war bekannt. Dass ein deutscher Bundeswehrgeneral diese Skrupellosigkeit unterstützte und R&S illegale Geschäfte zu höchst bedenklichen Zwecken ermöglichte, war dagegen auch in der heutigen, durch und durch korrupten politischen Welt nicht selbstverständlich. SHADOW hatte diese Ungeheuerlichkeit nach langer Ermittlungsarbeit nun endlich geahndet und den General dahin geschickt, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte.

Dem R&S-Imperium das Handwerk zu legen, stand schon seit langem auf der ´To-do-Liste´ der ´Gesellschaft der Schatten´. Der Waffenkonzern unterhielt seit Jahren ein weit ausgedehntes Netz an Waffenhändlern, die die R&S-Technik illegal an alle möglichen Menschenschlächter und Kriegsverbrecher der Welt lieferten. General Gummersbach war nur einer dieser Händler gewesen. Außerdem hatte SHADOW stichhaltige Hinweise dafür, dass R&S ein schon lange in der Militärtechnik herumgeisterndes Projekt vorantrieb, in dem es um die geistige Manipulation von Soldaten ging. ´Ares´, so hatte R&S dieses Projekt betitelt, aber GHOST kannte es aus seiner aktiven Zeit bei der US-Army unter vielen Namen. SHADOW hatte R&S jahrelang bespitzelt, und die Projekte, die die Firma betrieb, genauestens verfolgt. Dabei war man auch auf ´Ares´ gestoßen. Aus sicheren Quellen wusste man inzwischen sehr gut über dieses spezielle Projekt Bescheid, und es wurde Zeit, sowohl ´Ares´ als auch die weiteren fragwürdigen Machenschaften der Firma zu beenden.

R&S zu bezwingen, würde aber mit Sicherheit auf größere Hindernisse treffen als beispielsweise Operation ´Schwarzer Afghane´. Die heutigen Erfolge waren wichtige Schritte gewesen, nun aber zog SHADOW erst so richtig in den Krieg. Schließlich kämpfte man nicht nur gegen einen größenwahnsinnigen und menschenfeindlichen Waffenhersteller, sondern gleichzeitig auch gegen alle involvierten Regierungen, einschließlich der amerikanischen. Niemand wusste von SHADOW, und alle würden angesichts der Aktionen, die die Organisation durchführte, nervös sein und die Suche nach der unbekannten Macht erneut verstärken. Damit konnten sie schnell weitaus größere Probleme machen, als der eigentliche Gegner. Allzu oft schon war SHADOW in den Kampf eingetreten und hatte es dabei mit Militärs von Ländern zutun bekommen, die eigentlich gar nicht das Ziel der Operationen gewesen waren, sondern nur aufgrund der Nervosität ihrer Regierungen aktiv wurden. Jede SHADOW-Operation stellte somit eine gefährliche Gratwanderung dar. Jederzeit konnte eine falsche Aktion, ein ungewolltes Opfer oder ein vor den Kopf gestoßener Beteiligter ohne große Vorwarnung zum Auslöser einer internationalen Krise, womöglich eines dritten Weltkrieges, werden. GHOST wusste um die große Verantwortung, die seine Organisation und er hatten. Und deshalb arbeitete er nur mit den Besten der Besten. Jedes einzelne Mitglied der ´Gesellschaft der Schatten´ war auf seinem Gebiet unübertroffen und einzigartig. Sowohl die Menschen, die hier arbeiteten, als auch die Technik, die ihnen zur Verfügung stand, waren auf dem besten und stärksten Stand, den man sich vorstellen konnte.


SHADOW verfügte über ein beispielsloses technisches Equipment und konnte auf die neuesten Waffen- und Nachrichtentechnologien zugreifen, die es gab. Dabei wurden sowohl fremde Technik als auch Speziallösungen aus der eigenen Forschung eingesetzt. Die Entwicklungsabteilung von SHADOW hatte schon so manches technisches Wunderwerk hervorgebracht und sorgte mit immer neuen Erfindungen dafür, dass die Kämpfer ihren Gegner immer und überall überlegen waren. Nur so konnte man verdeckte Kriege in allen Winkeln der Welt gegen die verschiedensten, in ihrer genauen Stärke oftmals unbekannten Gegner führen und gewinnen. Um jederzeit und überall schlagbereit zu sein, verfügte SHADOW über ein beeindruckendes Arsenal an Transport- und Einsatzfahrzeugen. Der B2-Bomber, der SHARK an ihr Einsatzziel im chinesischen Meer geflogen hatte und der sich erst seit kurzem in SHADOWS Besitz befand, war nur eines davon. Die modernsten Kampfflugzeuge, Helikopter, Jagdboote und Panzer gehörten zur Ausrüstung der Organisation. Sogar ein U-Boot, eine Fregatte und ein Jumbo-Jet waren dabei. Waffentechnisch galt dasselbe. Ob herkömmliche Handfeuerwaffen, Spezial-Gewehre oder mächtige Infanterie- und Artilleriewaffen, es gab nichts, was SHADOW nicht hatte. Große Teile der Ausrüstung waren General Clayton zu verdanken. Durch seine exzellenten Beziehungen zur US-Army wusste er immer, wie und vor allem wo man, ohne großes Aufsehen zu erregen, an neue Militärtechnik gelangen konnte. Und wenn man nicht direkt über den ersten Markt an eine Waffe oder ein Fahrzeug heran kam, dann gab es immer noch diverse Schwarzmärkte, auf denen man garantiert fündig wurde. Untergebracht waren all die Fahrzeuge und Waffen in verschiedenen, auf der ganzen Welt verteilten und unscheinbar anmutenden Gebäuden, die von SHADOW im Laufe der Jahre gekauft oder gemietet und zu hoch gesicherten Lagerhallen umfunktioniert worden waren.

Der größte Teil der Ausrüstung jedoch befand sich im Hauptquartier der Organisation in den Bergen der Sierra Nevada. Es verlief größtenteils unter der Erdoberfläche. Ursprünglich war es eine alte Erzmine gewesen, wurde dann aber, nachdem Clayton´s Onkel die Mine vor zwanzig Jahren gekauft hatte, komplett modernisiert und inzwischen zu einem wahren HiTec-Bunker ausgebaut. Auf vier unterirdischen Ebenen verteilte sich ein Trainings- und Kommandozentrum, bei dessen Anblick jede normale Militäreinheit der Welt vor Neid erblassen würde. Mit modernster Sicherheitstechnik vor unerwünschten Eindringlingen und Satellitenerfassung geschützt, bot die Basis ein mit allen erdenklichen technischen Raffinessen ausgestattetes El-Dorado für die SHADOW-Mitglieder. Ein auf alle möglichen Überwachungssysteme und Spionagesatelliten zugreifendes Kommunikationscenter sorgte dafür, dass die Organisation immer auf dem aktuellen Stand der Dinge war und alles wusste, was auch die offiziellen und inoffiziellen Geheimdienste der Weltmächte wussten. Und manchmal sogar mehr.


GHOST befand sich wieder im Kommandostand der Nachrichtenzentrale. In dem verglasten Raum um ihn herum piepten unzählige Computerkonsolen und Monitore vor sich hin, und Mitarbeiter der Datenauswertung rannten geschäftig durcheinander und diskutierten aufgeregt ihre Untersuchungsergebnisse. Draußen, außerhalb der Zentrale bot sich ein ähnliches Bild. Überall herrschte hektischer Trubel, und allerlei Menschen liefen herum, um sich mit ihren Kollegen auszutauschen und neue Informationen einzuholen oder zu verteilen. GHOST aber war in seine eigene Welt versunken und bekam von all dem nicht viel mit. Sein messerscharfer Verstand arbeitete die vielen, in seinem Kopf umherschwirrenden Gedankengänge ab und analysierte die möglichen Schlussfolgerungen. Konzentriert blickte er dabei auf die riesige Bildschirmwand vor sich. Sie zeigte die teils sehr verschwommenen Satellitenbilder einer Bergregion irgendwo im indisch-asiatischen Raum. Ein riesiger See, umrandet von steil aufragenden Felsen war darauf zu sehen. Einige der Aufnahmen waren im Infrarotbereich aufgenommen worden und ließen ein leicht rötlich gefärbtes Quadrat inmitten eines blau-violetten Hintergrundes erkennen.

„Wie tief geht dieses Ding nach unten?“, fragte GHOST nach einer ganzen Weile des Schweigens in den Raum hinein.

„Etwa sechzig Meter, Sir“, antwortete ein Mann, der am Rand eines Computerterminals stand und aufmerksam die über den Monitor flimmernden Zahlenreihen betrachtete.

GHOST nickte und versank erneut in seinen Gedanken.


***


New York City (USA)


Der internationale Waffenhandel konnte ohne große Rechnerei als eines der finanziell bedeutendsten und lukrativsten Geschäfte der Welt bezeichnet werden. Allein die drei größten Waffenexporteure der Welt, die USA, Russland und Deutschland hatten in den vergangenen Jahren zusammen Waffen im Wert von jeweils etwa fünfzehn Milliarden US-Dollar pro Jahr ins Ausland verkauft. Die meisten davon gingen nach Asien. Neben dem offiziellen, ersten Waffenmarkt existierten jedoch noch viele weitere Submärkte, deren Verkaufszahlen selbstverständlich nirgendwo erfasst waren, die aber ohne Zweifel mindestens genauso absatzstark waren, wie der offizielle Waffenmarkt. Die Branche der Rüstungsindustrie war daher aus gutem Grund eine der am heißesten umkämpften überhaupt. Insgesamt erwirtschafteten die einhundert größten Waffenhersteller einen Jahresumsatz von etwa fünfhundert Milliarden Dollar.

Lange Zeit galten die drei amerikanischen Branchenriesen BAE Systems, Lockheed Martin und Boeing als unumstrittene Könige der Waffenproduktion. Dann aber drang der schwedische Elektronik und Computerkonzern Raffelson & Svenson in den Waffenmarkt vor und führte ihn binnen kürzester Zeit in noch nie dagewesene Dimensionen. Im Jahr 2011 exportierte alleine R&S Waffen im Wert von knapp elf Milliarden Dollar. Der Grund für das neue Aufrüsten war dabei gar nicht unbedingt die Anzahl neuer Kriege oder Krisengebiete, sondern vielmehr der von R&S aufgebrachte Trend zu neuen, bislang nur in Zukunftsvisionen vorhandenen Technologien. Und wie es bei jeder neuen, gut vermarkteten Technologie der Fall war, fand diese immer ihre Abnehmer, egal ob sie nun wirklich gebraucht wurde, oder nicht. Gerade im Bereich der Infanteriewaffen setzte R&S von Anfang an auf das Argument der Hochtechnologie. Herkömmliche Schusswaffen konnte schließlich jeder bauen. Die Schweden dagegen erforschten und entwickelten Techniken, von denen andere nur träumten. So war es nicht verwunderlich, dass der Konzern sich schnell von allen Konkurrenten absetzte und binnen kürzester Zeit eine Ausnahmestellung im Rüstungsmarkt einnahm.

Maßgeblichen Anteil an diesem Erfolg hatte der Firmengründer Stieg Raffelson. Der studierte Elektroingenieur erschuf die Firma am Ende der 1970er-Jahre zusammen mit seinem Freund Mo Svenson. Beide waren ausgesprochene Technikfanatiker und darüber hinaus noch zwei sehr helle Köpfe. Sie setzten von Anfang an auf eine Strategie der Technologieführerschaft und bescherten vor allem dem Markt der Computertechnik immer wieder neue Geniestreiche. Mit ihren Erfahrungen und ihrem Wagemut brachten sie auch das später gegründete Segment der Waffentechnik schnell auf einen guten Kurs. Sie brauchten nicht lange, um sich in diesem neuen Mark zu etablieren und lösten mit ihren neuen Ansätzen und Forschungsprojekten einen wahren Waffenhype aus. Während Raffelson bis heute immer noch als Seniorberater im Unternehmen tätig war, hatte sich Svenson inzwischen aus dem Geschäft zurückgezogen und zusammen mit seinem Bruder Lars, einem Biologen, ein anderes Unternehmen gegründet. Den Sitz des Vorstandsvorsitzenden hatte man Svenson´s Neffen Christopher O´Connell überlassen. O´Connell, ein Sohn von Svenson´s nach Schottland ausgewanderter Schwester, führte exakt den Kurs der Firmengründer weiter, konzentrierte das Geschäft auf die Waffenbranche und investierte vor allem in die Erforschung neuer Technologien.

Im Grunde konnte es als logische Konsequenz dieser Entwicklung bezeichnet werden, dass das Projekt ´Ares´ ins Leben gerufen worden war. Für die nach dem griechischen Kriegsgott benannte Entwicklung stieß auch R&S in Forschungsbereiche vor, die bis dato höchstens in Science-Fiction-Filmen in einen Zusammenhang mit der Rüstungstechnologie gebracht wurden. Das Ziel lautete, den Träger einer Schusswaffe, üblicherweise einen Soldaten oder Polizisten, nicht nur rein physisch mit seiner Waffe zu verbinden, sondern auch auf psychischer Ebene eine Sybiose zu schaffen. Körperliche Zusammenschlüsse zwischen Mensch und Maschine waren lange schon Gang und Gebe, auch und besonders in der Waffentechnik. Fingerabdruck- und Retinascanner oder Stimmenerkennungssysteme beispielsweise ließen es zu, eine Waffe ausschließlich einem bestimmten Menschen zuzuordnen und sie nur in seinen Händen funktionsfähig zu machen. Das französische Félin-System vereinte elektronische Sensorik für die Feinderkennung mit der Waffensteuerung. Zudem unterstützte es durch GPS-Technik und ein neuartiges Kommunikationssystems die taktische Führung militärischer Kommandoteams. R&S aber wollte weitergehen. Psychologische Studien belegten schon sehr lange, dass die Effizienz eines bewaffneten Menschen beim Erfassen und Treffen seiner Ziele vielmehr von gedanklich-emotionalen Faktoren abhing, als von rein körperlichen oder technischen. Daher wurde ein neues Forschungsprojekt gestartet, welches die Zusammenhänge zwischen den Gedanken und der geistigen Verfassung eines Menschen und seiner Fähigkeit, eine Waffe zu bedienen, untersuchen sollte. Eine Mensch-Maschine-Verbindung sollte geschaffen werden, die einen Soldaten oder Polizisten ganz einfach per Kabel- oder Funkverbindung an seine Waffe anschließen und damit eine Art gedankliche Waffensteuerung ermöglichen würde. Das man für diese Art der Waffenforschung nicht ganz legale Wege einschlagen musste, war R&S natürlich von Beginn an klar gewesen. Schließlich liefen die Forschungen auf die immer sehr vorsichtig zu behandelden Bereiche der Genetik und der Neurologie hinaus. Forschungen in dieser Richtung waren ansich zwar noch nicht schlimm, sie allerdings mit der Waffentechnik zu vereinen, konnte sicher dem ein oder anderen Politiker, Menschenrechtler und Ethiker gehörige Kopfschmerzen bereiten.

In dem Wissen, eine offizielle Genehmigung für ihr Projekt niemals erreichen zu können, hatte R&S daher den Weg der geheimen, illegalen Forschung eingeschlagen. Man konnte jedoch darüber streiten, wie geheim das Projekt ´Ares´ letzlich wirklich war und ob nicht irgendein Außenstehender zumindest in Teilen doch davon Wind bekam. Denn erstens erforderte diese Art der Forschung ein beträchtliches finanzielles Fundament, und zweitens erschien es höchst unlogisch, illegale Forschungen zu betreiben und die Ergebnisse aufgrund dieser Illegalität womöglich niemals veröffentlichen zu können. Daher war klar gewesen, dass sich R&S für Projekt ´Ares´ einen Partner an Bord holen musste, der sowohl die nötigen Geldmittel zur Finanzierung bereit stellte, als auch im Falle eines erfolgreichen Abschlusses der Forschungen die Macht besaß, die Ergebnisse auch zur Anwendung zu bringen.

Diesen Partner hatte O´Connell schlussendlich in dem französischen Geheimdienst DGSE gefunden. Die Franzosen hatten durch gerade durch ´Félin´ bereits einige Erfahrung zum Thema Mensch-Waffe-Verbindung sammeln können und äußerten großes Interesse an O´Connell´s Vorhaben. Die Amerikaner hingegen werkelten bereits seit Jahren unter der Führung der DARPA am sogenannten ´Future Force Warrior´ und seinen unzähligen Nachfolgeprogrammen, kamen dabei allerdings überhaupt nicht voran, verzettelten sich in Diskussionen um das richtige Tarnmuster für die Uniformen und trieben die Forschungen generell in eine Richtung, die O´Connell´s Denken entgegenstand. Die DARPA schied damit als Kooperationspartner für ´Ares´ aus. Überdies hatte O´Connell von vornherein einen europäischen Partner bevorzugt. Die Amerikaner waren in Sachen Militärtechnologie zu voreingenommen und selbstherrlich. Sie rissen gierig und skrupellos alles an sich, was private Wirtschaftsunternehmen auf diesem Sektor hervorbrachten und assimilierten entweder die Technik, oder am liebsten gleich das ganze Unternehmen. Mit einem solchen Egoismus hätte sich ein Egoist wie Christopher O´Connell nur sehr schwer arrangieren können.

Die DGSE hatte sich als zuverlässiger Unterstützer erwiesen. Regelmäßige und durchaus üppige Finanzspritzen hatten R&S ein schnelles Vorantreiben der ´Ares´- Forschung ermöglicht. Bislang hatte es keinerlei Probleme gegeben. Bislang!


Christopher O´Connell blickte seinem Gegenüber tief in die Augen. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, aber dennoch schwitzte der Vorstandsvorsitzende wie schon lange nicht mehr. Sein Gesprächspartner war leider genau die Art von Mensch, die ihm gefährlich werden konnte. Nein, der Mann war kein wohlbelaibter, Zigarre rauchender Mafiaboss oder der Geldeintreiber irgendeines dubiosen Bürgen, der messerwetzend auf eine Schuldenrückzahlung wartete. Francois Durant war vielmehr der Inbegriff eines arroganten und viel zu hoch bezahlten Bürohengstes und Sesselfurzers. Und noch dazu Franzose! Nicht, dass O´ Connell generell etwas gegen Franzosen hatte, nein! Wohl aber gegen spezielle Franzosen, wie Durant einer war. Die DGSE hatte doch tatsächlich seinen besten Mann geschickt. Einerseits gut, da es O´Connell seine Wichtigkeit bestätigte, andererseits verdammt unangenehm. Die Pannen des heutigen Tages, die das Projekt ´Ares´ in erhebliche Gefahr brachten, waren natürlich auch Frankreich nicht verborgen geblieben. Und man war entsprechend besorgt. Durant äußerte diese Besorgnis auf seine ganz spezielle, den kleinen, drahtigen Mann so unberechenbar machende Weise: Er schwieg! Sein zerknittertes Gesicht zeigte keine Regung, und sein von schmalen, aschefarbenen Lippen umrandeter Mund blieb geschlossen. Keine Mimik, keine Gestik, die seine Gedanken preisgeben könnte. O´Connell wurde zunehmend nervös. Ein Gefühl, dass er sonst kaum kannte, drohte ihn zu überwältigen.

„Projekt ´Ares´ ist nicht in Gefahr, das versichere ich Ihnen!“, log er und versuchte dabei, ruhig zu bleiben. Er hatte schon so oft die Unwahrheit gesagt und damit dicke Geschäfte gemacht, aber die Nervosität klang in seiner Stimme mit, und er wusste, dass der Franzose ihm nicht glauben würde. Immer noch schwieg Durant. Hinter seiner hohen Stirn liefen gerade sicher alle möglichen Leitungen heiß, aber er ließ sich nichts anmerken. Ein Profi sondergleichen!

„Ich werde die Sicherheitsmaßnahmen im Forschungszentrum noch einmal verstärken lassen“, versprach O´Connell. „Die heutigen Ereignisse werden sicher schnell aufgeklärt werden. Wir haben alles unter Kontrolle!“

Es war zum verrückt werden. Dieser lästige kleine Franzose blickte den Vorstandvorsitzenden regungslos an, als warte er nur darauf, dass O´Connell vor ihm auf die Knie fallen und zu heulen anfangen würde. Und innerlich tat dieser gerade genau das.

„Monsieur Durant, bitte richten Sie Ihrer Behörde aus, dass es überhaupt keinen Anlass gibt, sich jetzt zurückzuziehen. ´Ares´ wird planmäßig weiterlaufen. Selbst wenn jemand etwas davon weiß, kann er uns nichts anhaben. Die verschwundenen Dokumente sind völlig nutzlos, wenn man nicht direkten Zugang zum Projekt hat. Lassen Sie uns unsere Linie beibehalten. Dann können wir uns in kurzer Zeit schon mit einer absoluten Weltneuheit an die Öffentlichkeit begeben und den Lohn für unsere Arbeit und Ihr Vertrauen einfahren.“

O´Connell trank einen Schluck Wasser. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Seine Hände waren klatschnass, und sein Herz raste. Jetzt half nur noch Beten. Nicht nur das ehrgeizigste und gewagteste Waffenprojekt aller Zeiten drohte in diesem Moment zu scheitern. Nein, auch seine Karriere und seine persönliche Existenz standen auf dem Spiel. Sein Schicksal lag in den Händen dieses verdammten Franzosen. Wie würde er sich entscheiden?

Francois Durant faltete die Hände. Seine Augen verengten sich einen Augenblick. Dann sprach er.

„In vier Wochen, Mr. O´ Connell, wollen wir den ersten Prototypen sehen. Sie sorgen dafür, dass es keine weiteren Komplikationen gibt. Sollten uns noch einmal auch nur die geringsten Zweifel an der Sicherheit des Projektes kommen, ziehen wir uns ohne weitere Worte zurück und werfen Sie der Öffentlichkeit zum Fraß vor. Haben Sie das verstanden?“

Der schwere Akzent des Franzosen klang lächerlich und furchteinflößend zugleich. O´Connell nickte nur. Ihm war klar, dass die DGSE alle Fäden in der Hand hatte und ihn wie eine Marionette tanzen lassen konnte, wenn sie wollte. Niemand würde ihm glauben, wenn er den französischen Geheimdienst der Mittäterschaft bezichtigte, selbst wenn es genügend Beweise in Form verschiedener Dokumente und Protokolle dafür gab. Doch die Franzosen hatten sich zu sehr abgesichert, das war O´Connell klar. Er war ganz alleine, wenn es hart auf hart kommen sollte. Traurig, aber wahr, dieser Scheißkerl hatte ihn am Sack, und sein Griff verstärkte sich gerade ungemein und äußerst schmerzhaft.

„Wir beobachten Sie, Mr. O´Connell“, sprach Durant weiter. Sein Ton war ruhig und sachlich. „Sehen Sie zu, dass ´Ares´ geheim bleibt. Halten Sie sich an den Zeitplan und an Ihre Anweisungen!“

Durant erhob sich, leerte sein Glas Wasser und drehte sich um. Dann nahm er seinen schwarzen Aktenkoffer vom Tisch und verließ ohne weitere Umschweife das Zimmer. O´Connell sah ihm nach. Als die Tür zufiel, atmete er hörbar auf. Sein teures Seidenhemd klebte an seinem Oberkörper, und sein Schritt fühlte sich an, als hätte er sich gerade in die Hose gepisst. Ein unangenehmer Geruch nach Schweiß ging von ihm aus. Langsam stand er auf, schlurfte zum Sideboard an der Wand, griff zu einer dort stehenden Scotchflasche und schenkte sich ein großes Glas voll ein. Freuen konnte er sich nicht. Das gerade eben war nicht etwa ein Sieg gewesen, nur eine Galgenfrist. Die Schlinge baumelte immer noch über ihm, und es würde ein verdammt gefährlicher Weg werden, den er nun gehen musste. O´Connell trank den Whiskey in einem Zug leer, rieb sich die müden Augen und packte seine Sachen zusammen. Dann verließ auch er das Zimmer in dem unscheinbaren, kleinen Industriegebäude am Rand der Stadt. Er war froh, dass Durant auf einen Treffpunkt außerhalb der City bestanden hatte. So konnte ihn wenigstens niemand in diesem desolaten Zustand beobachten.

Draußen stand sein Wagen. Die Sonne brannte fürchterlich. Die Luft war schwül und vom Smog der Stadt genährt. O´Connell hatte Kopfschmerzen. Am liebsten wäre er direkt nach Hause gefahren und ins Bett gegangen. Der R&S-Chef hatte dringend Schlaf nachzuholen. Ein Gedanke an seinen Terminkalender aber verriet ihm, dass das Bett noch einige Stunden warten musste. Außerdem hatte er noch eine Sache zu erledigen, die keinerlei Aufschub mehr duldete. Projekt ´Ares´ musste um jeden Preis geschützt werden. Die Unterredung mit Francois Durant gerade eben hatte ihm deutlich gemacht, wie groß die Gefahr war, dass irgendjemand die Forschungen stören oder gar zunichte machen könnte. Und ein Scheitern des Projektes würde ihn den Kopf kosten. Daher war es unumgänglich, weitere Kräfte zu mobilisieren, um ´Ares´ abzusichern. Und O´Connell wusste auch schon, an wen er sich wenden würde.


***


Algier (Algerien)


In der algerischen Hauptstadt stach die afrikanische Nachmittagssonne erbarmungslos auf die dicht bevölkerten Straßen nieder und ließ die von stinkenden Abgasen geschwängerte Luft heiß flirren. Während an den langen, weißen Sandstränden am Rand der Stadt unbeschwerte Badefreuden herrschten und tausende von Einheimischen und Touristen die erfrischende Kühle des Mittelmeeres suchten, verlor sich die Stadt in ihren Geschäfts- und Tourismusvierteln im Chaos der alltäglichen Basare und Märkte. Begleitet vom Gehupe und Gedröhne der Automassen, die sich mühsam durch die Straßen wälzten, schwitzten die Händler und ihre Kunden in der süßlich-muffigen Luft zwischen den unzähligen Ständen geradezu um die Wette.

Über fünf Jahrzehnte nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges gegen die Franzosen war das Land nach wie vor weit entfernt von geordneten Verhältnissen, sowohl politisch, als auch gesellschaftlich. Verschiedene islamistische Strömungen sorgten immer wieder für Unruhen. Regelmäßig kam es zu politischen Auseinandersetzungen mit der offiziellen Regierung in Form des Parlamentes und des Präsidenten sowie mit dem inoffiziell regierenden Militär. Auch wenn niemand es zugeben wollte, wurde Algerien trotz seiner vom Volk gewählten Regierung im Hintergrund von einer größtenteils aus Militärs bestehenden Mafia regiert. Verschlimmert wurde dieses politische Chaos durch regelmäßige Attentate der radikalen ´Al-Quaida des Islamischen Maghreb´, entweder auf Regierungsmitglieder oder auf oppositionelle muslimische Persönlichkeiten, die den ultra-islamistischen Kurs der Terrororganisation nicht unterstützen wollten. Algerien befand sich also im Grunde in einem permanenten Bürgerkriegszustand, den auch die teils sehr guten Kontakte und Wirtschaftsbeziehungen nach Europa nicht bändigen konnten. Sogar die Franzosen waren wieder im Land, und diesmal nicht, um Krieg zu führen, sondern um genau das Gegenteil zu erreichen. Bislang waren Erfolge in dieser Hinsicht zwar sehr rar gesät, aber immerhin waren aus einstigen Todfeinden inzwischen Verbündete im Kampf gegen Gewaltherrschaft und Korruption geworden. Was das anging, hatte sich die Lage also durchaus gebessert.


Die Französin allerdings, die sich in diesem Augenblick auf einen Stuhl gefesselt in einer leer stehenden Fabrikhalle am Südrand von Algier befand, war von einer guten Lage noch weiter entfernt als der algerische Befriedungsprozess. Bibbernd vor Kälte saß sie da, die nackten Füße krümmten sich über der um den Stuhl verteilten Wasserpfütze. Nur mit einem durchnässten Slip und BH bekleidet, starrte sie den Mann, der ihr gegenüber stand, mit weit aufgerissenen Augen an. Die zwei durch die Sturmhaube auf die Frau herabschauenden Augen spiegelten Zorn wider. Bedrohlich hatte der Mann sich vor ihr aufgebaut. In seiner Hand hielt er ein aufgeschnittenes Kabel. Es führte zu einem hinter ihm stehenden Generator, der ruppig vor sich hin röhrte und das panische Keuchen der Frau übertönte.

Sie wusste, was kommen würde, und schüttelte flehend den Kopf. Die nassen Haare klebten in ihrem angstverzerrten Gesicht. Die Kälte hatte ihre Lippen bereits blau gefärbt. Der schwere, nasse Lappen in ihrem Mund nahm ihr den Atem, und sie sog die Luft in schnellen Zügen durch die Nase ein. Sie drohte, zu hyperventilieren. Der in einen Tarnanzug gekleidete Mann brüllte sie an. Auf arabisch. Sie schüttelte den Kopf und grunzte unverständliche Worte durch ihren Knebel. Tränen liefen ihre Wangen hinab.

Er drehte sich um, weg von ihr. Innerlich kämpfte er mit sich selbst. Das, was er da gerade tat, war das absolut Niederträchtigste überhaupt. Er hasste es. Die Motivation für den Job, den er ausübte, war eine ganz andere. Er wollte helfen, die Bösen zu bestrafen und den Frieden durchzusetzen. Er wünschte sich, die Frau würde endlich reden. Auch sie war eine von den Guten, das wusste er. Aber er wusste auch, dass sie ihre Tarnung so leicht nicht fallen lassen würde. Einen Moment lang überlegte er, ihr seine wahre Identität zu verraten. Vielleicht war all das hier nicht nötig. Vielleicht würde sie dann kooperieren. Aber seine Anweisungen lauteten anders. Und SHADOW musste geheim bleiben, um jeden Preis. Auch um diesen hier.

Als die Frau sah, dass der Mann sich wieder zu ihr umdrehte, wurde ihr endgültig klar, dass er es tun würde. Mit entschlossenem Schritt kam er auf sie zu, das Kabel drohend erhoben. Wieder Worte auf arabisch. Sie sollte endlich reden. Aber sie konnte nicht. Der Mann dort war wahrscheinlich ein CIA-Ermittler. Der amerikanische Geheimdienst beobachtete sie schon seit langem. Sie hatte ihre Häscher längst bemerkt, auch wenn ihre Entführung heute Morgen völlig überraschend gekommen war. Die Frau wusste, dass die Amerikaner ihre wahre Identität nicht kannten. Ihre Tarnung war zu gut. Und sie musste sie wahren, sonst wäre es um sie geschehen. Vielleicht war der Mann aber auch ein feindlich gesonnener Terrorist. Ein echter Terrorist, kein Undercover-Agent, wie sie selber. Wer auch immer er war, er durfte nichts erfahren. Ihm zu verraten, was sie wusste, würde ungeahnte Folgen haben. Ihre Deckung musste um jeden Preis bestehen bleiben. Komme, was wolle, sie musste durchhalten.

Noch einmal hielt der Mann inne und schaute sie mit ernsten Augen an. Letzte Chance, sagten sie. Aber die Frau blieb stumm. Ihr Körper war taub und herrenlos. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Die Kälte hatte ihn lahm gelegt. Sie schien auch ihren Verstand einzuschläfern. Mit einem verschommenen Tunnelblick starrte sie vor sich hin. Ihre Panik hatte sich etwas gelegt und war einer Art Gleichgültigkeit gewichen. Was jetzt kommen würde, war unausweichlich. Sie hoffte, sie würde diese Prüfung bestehen.


Der Mann bückte sich vor ihr nieder. Dann stieß er das aufgeschnittene Ende des Kabels in die Wasserpfütze.

ZZZZKKKRRRRRRR

Funken stoben hoch, und ein statisches Knistern setzte ein. Ehe die Frau ihre kraftlosen Beine anheben konnte, wurde sie von den Stromschlägen erfasst. Ihr ganzer Körper zog sich binnen einer Millisekunde wie eine Feder zusammen und schnellte wieder auseinander. Sie jaulte auf. Der Knebel in ihrem Mund dämpfte die Schreie. Der Schmerz stieg ihr bis in die Haarspitzen. Ihre Augen rollten zurück, und ihr Mund zuckte wild. Immer und immer wieder bäumte sich der schlanke Körper auf, zuckte hin und her und krümmte sich zusammen.

Dann endlich hörte es auf. Einige Sekunden noch zitterte der Körper weiter, dann erschlaffte er. Der Mann stand auf. Der Anblick der Frau vor ihm bereitete ihm Übelkeit. Speichel rann ihr über die Lippen und sie zitterte wie Espenlaub. In solchen Augenblicken hasste er seinen Job und sich selbst. Seinen Ekel unterdrückend, trat er von ihr weg. Er sagte etwas zu ihr und hoffte inständig, sie würde nun endlich aufgeben und mit ihm reden. Mit rot unterlaufenen, tränenverschleierten Augen und stoßweise durch den Knebel keuchend schaute sie ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf.


***


London (England)


Auf der Visitenkarte stand in schnörkeliger Schönschrift ´Lorenzo Malina – Import & Export´. Der Mann, der mit missmutigem Gesicht im Fond des silbernen Jaguar X351 saß und zu dem die Visitenkarte gehörte, sah aus wie ein typischer Klischee-Italiener. Gekleidet war er in eine feine, schwarze Stoffhose und ein strahlend weißes Seidenhemd mit weit aufgeknöpftem Ausschnitt. Eine goldene Halskette zierte den braun gebrannten, akurat rasierten Hals. Der süße Duft seines Eau de Toilettes lag in der Luft und vermischte sich mit dem Rauch des sündhaft teuren Zigarillos in seinem Mund. Der Mann neben ihm, der Malina als Erkennungszeichen die Visitenkarte überreicht hatte, war weniger auffällig angezogen. Dunkelblaue Jeans, braune Leinenjacke. Müdigkeit beherrschte sein faltiges, wettergegerbtes Gesicht.

Der Wagen, in dem die beiden saßen, parkte in einer Nebenstraße nahe des berühmten 30 St. Mary Axe – Towers, wegen seines Äußeren auch abfällig ´Gurke´ genannt. Der gleichermaßen imposante wie hässliche Wolkenkratzer war im Besitz eines deutschen Immobilienkonzerns und beherbergte unter anderem die Büros eines großen schweizerischen Versicherungsunternehmens. Das ganz und gar nicht in die ansonsten eher konservative Landschaft der City of London passende Gebäude warf einen langen Schatten in die Straße, in der Malina´s Fahrer den Jaguar abgestellt hatte. Hier kamen nur sehr wenige Passanten vorbei. Ein idealer Platz, um sich in Ruhe unterhalten zu können, gleichzeitig aber nicht auffällig weit außerhalb der Stadt zu sein.

Der Finanzbezirk der City of London war Lorenzo Malina´s Welt. Hier tätigte er tagtäglich seine umfangreichen Geschäfte. Sein Name war bekannt unter den Finanzhaien der Stadt, galt er doch als überaus risikofreudiger, aber gerissener Geschäftsmann. Malina handelte im Grunde genommen mit allem, was man gut zu Geld machen konnte: Autos, Antiquitäten, Kunstgegenstände etc. Am liebsten aber handelte er mit Waffen. Ganz offiziell, das verstand sich angesichts seines makelosen Rufes von selbst. Absolut sauber war seine Vita dann allerdings doch nicht. Zwar hatte er es immer geschafft, die unlauteren, neben den offiziellen Geschäften laufenden Deals gut zu verstecken und in der Welt, in der er arbeitete, geheim zu halten. Einige Menschen wussten dann aber doch von seinen Tätigkeiten außerhalb des Lichts der Legalität. So auch der Mann, der neben ihm saß. Nicht dass Malina das störte. Nein, dieser arabische Trottel war selber kein unbeschriebenes Blatt, und Malina konnte ihn jederzeit auffliegen lassen. Der Araber wusste das und verhielt sich dementsprechend zurückhaltend.

„Ich war heute morgen in einem Café in Ihrer Stadt, Mr. Malina“, sagte er in gebrochenem Englisch, das seine Herkunft nicht verleugnen konnte. „Ich wollte einen Tee trinken. Aber er wurde mir ungenießbar gemacht. Ich mag Tee, wissen Sie. Ich bin Araber. Alle Araber mögen Tee. Aber heute morgen habe ich Cappuccino bestellen müssen!“

„Was haben Sie gegen Cappuccino?“, fragte Malina gereizt.

„Ich mag ihn einfach nicht!“

„Sie sollten sich an ihn gewöhnen!“

„Warum?“

„Weil der Tee so schnell nicht wieder schmecken wird. China hat den Preis erhöht!“

„Das ist ein Problem!“

„Die können sich´s halt leisten.“

„Aber ich nicht!“

Schweigen setzte ein. Malina überlegte. Sein Gesprächspartner ebenfalls. Die gescheiterte Raketenlieferung an die Pakistani bereitete beiden Kopfschmerzen. Die chinesischen JL-2-Raketen mit Nuklearsprengkopf lagen nun irgendwo am Grund des Ozeans und waren nicht einen einzigen Cent mehr wert. Der Araber war der Kontaktmann zu den Pakistani und hatte Malina mit der Bestellung der Raketen beauftragt. Dies hatte er über einen von Malina bestellten Mittelsmann getan, denn der Italiener zog es vor, sich bei seinen illegalen Geschäften niemals persönlich zu zeigen. Heute aber musste er eine Ausnahme machen. Der Deal war geplatzt, und der Mittelsmann hatte den Araber direkt an Malina verwiesen. Eigentlich war die Raketenlieferung ein normaler Auftrag gewesen. Etwas groß und nicht alltäglich vielleicht, aber von der Organisation her kein Problem. Sicher, das Risiko war größer gewesen, als bei anderen, kleineren Deals. Aber der chinesische Schwarzmarkt war riesig und die Möglichkeiten unendlich. Das irgendeine Spezialeinheit – Malina vermutete die Amerikaner dahinter – in einer waghalsigen Aktion gleich das ganze verdammte U-Boot versenken würde, damit hatte er nun wirklich nicht rechnen können. Als Entschuldigung konnte das jedoch kaum gelten. Sein Auftraggeber war ziemlich sauer. Auch wenn der Araber einen ganz gefassten und unaufgeregten Eindruck machte, wusste Malina genau, dass die Terroristen, für die er arbeitete, nur wenig Geduld und Verständnis hatten. Wenn sie es für nötig hielten, würden sie ihn jederzeit ohne Skrupel und Probleme aus dem Weg schaffen können. Vorsichtshalber hatte Malina sich bereits ein neues Angebot von den Chinesen geholt. Aber das würde den Pakistani nicht gefallen. Soviel würden sie niemals zahlen können. Ihre Organisation war klein. Sie waren zwar nicht mittellos, aber halt auch keine finanzstarke Großmacht. Das Geld, das sie für die Raketen hatten springen lassen, war bereits ein enormer Aufwand für sie gewesen. Malina´s Wissen nach hatten sie sich den Kauf sogar von dem Waffenkonzern Raffelson & Svenson mitfinanzieren lassen. Natürlich nicht direkt, sondern über eine Unzahl von falschen Konten und Scheinfirmen. Das klang vielleicht für einen Laien unglaubwürdig, aber Malina wußte, dass den Waffenkonzernen der Welt schon lange kein Geld mehr zu dreckig war, um das große Geschäft des Krieges zu unterstützen. Dabei spielte es auch keine Rolle, wer der Käufer einer Waffe war und um was für eine Art von Waffe es sich dabei handelte. Wichtig war einzig und allein, die Waffen in der Welt zu verteilen, sodass das muntere Gemetzel seinen Lauf nehmen konnte und die Geschäfte angekurbelt wurden. Sollte Malina sein Wissen preisgeben? Wahrscheinlich würde es den Araber nicht einmal überraschen, was Malina wusste. Der Italiener war schließlich ein Waffenhändler von internationaler Größe. Informationen waren in diesem Geschäft überlebenswichtig.

„Können Sie ihren Freund noch einmal zum Tee einladen?“, fragte Malina vorsichtig.

Der Araber schaute ihn leicht verwirrt an. „Von welchem Freund reden sie?“

„Von dem Schotten.“

Einen Moment lang Stille.

„Kennen Sie ihn?“

„Ich habe von ihm gehört.“

„Er hat gerade einige Probleme. Private Probleme, verstehen Sie? Ich glaube nicht, dass er Lust auf noch einen Tee mit mir hat.“

Malina nickte. Auf diesem Weg würde es also nicht gehen. Tja, es war wohl an ihm, eine Lösung zu finden. Sein Kunde hatte schließlich für eine Lieferung bezahlt, die nicht angekommen ist. Dem Verkäufer konnte er die Schuld dafür nicht aufbrummen. Als logistischer Partner war Malina für die Lieferung verantwortlich gewesen. Er hatte das Risiko zu tragen. Aber Lorenzo Malina hätte nicht so lange in seinem Geschäft durchgehalten, wenn er mit Risiken nicht umzugehen wüsste.

„Also gut, dann fürchte ich, müssen Sie noch etwas länger mit Cappuccino Vorlieb nehmen. Ich lade sie in den kommenden Tagen einmal zu einem ein, einverstanden?“

„Einverstanden!“ Der Araber stimmte zu. „Aber ich hoffe, er ist wirklich gut, ihr Cappuccino. Ansonsten muss ich mich nämlich nach einem ganz anderen Getränk umsehen.“

Der Mann stieg ohne weitere Worte aus dem Auto aus und entfernte sich mit raschem Schritt. Malina klopfte an die Scheibe zwischen sich und seinem Fahrer. Der Motor wurde angelassen, und der Wagen setzte sich in Bewegung.


***


Sierra Nevada (USA)


Die Zeit drängte. GHOST hatte sich in sein Büro zurückgezogen und grübelte über die weitere Vorgehensweise im Fall ´Raffelson & Svenson´ nach. Die Anzeichen verdichteten sich, dass der Waffenkonzern ein ehemaliges, unterirdisches Lager der US-Army im Patkai-Gebirge im Nordosten von Indien reaktiviert hatte und dort an seinem streng geheimen Projekt ´Ares´ werkelte. Wie weit die Firma damit inzwischen gekommen war, wusste GHOST nicht, aber er kannte den Inhalt und vor allem das Ziel des Projektes. Es verstieß gegen alle möglichen Forschungsvorschriften und ethischen Gesetze.

R&S hatte schon des Öfteren mit Forschungen und Studien im Bereich der so genannten ´Mensch-Maschine-Symbiose´ für Schlagzeilen gesorgt und kleinere Projekte zu diesem Thema durchgeführt. Und immer wieder war die Firma dabei mit Ethikkommissionen und Menschenrechtlern aneinander geraten. Als dann irgendwann der Name ´Ares´ gefallen war, und diverse Gerüchte ihre Runde gemacht hatten – irgendetwas drang immer nach außen, egal wie geheim man etwas hielt - hatte man bei SHADOW die Augen und Ohren geschärft und R&S noch näher observiert. Das Projekt schien in der Tat ein zentrales Forschungsanliegen der Firma zu sein, denn eine Menge Geld war dafür abgestellt worden. Zudem hatte R&S es geschafft, renomierte Forscherpersönlichkeiten von der Konkurrenz oder Forschungsinstituten abzuwerben und bei sich einzustellen. Viele von ihnen waren nun seit Jahren schon wie vom Erdboden verschwunden. Auch häuften sich die Lieferungen von teils hoch komplizierten und völlig neuartigen Technikkomponenten nach Indien, angeblich zu den dort ansässigen US-Army-Stützpunkten. Das alles warf eine Menge an Fragen und Ungereimtheiten auf, die SHADOW schlussendlich zu der Vermutung geführt hatten, dass R&S das Projekt ´Ares´ in Indien durchführte.

Noch waren allerdings nicht alle Beweise dafür eingesammelt. Die wichtigste Informantin war Hafsa Al-Gharamh, eine Algerierin, die für den französischen Geheimdienst arbeitete und seit einigen Jahren verdeckt die Terrororganisation ´Al-Quaida des Islamischen Maghreb´ infiltrierte. Die Al-Quaida arbeitete eng mit einer pakistanischen Terrorzelle zusammen, die in letzter Zeit durch mehrere Sprengstoffanschläge in Pakistan und Afghanistan auf sich aufmerksam gemacht hatte. SHADOW vermutete, dass diese Gruppe auch der Adressat der Atomraketen-Lieferung gewesen war, die SHARK im chinesischen Meer hatte stoppen können. Die Lieferung war von einem italienischen Waffenschieber organisiert worden, der oft für Raffelson & Svenson arbeitete. Und auch in diesem Fall schien R&S an dem Deal beteiligt gewesen zu sein. Hafsa Al-Gharamh war also in zweifacher Hinsicht wichtig: Sie hatte Kontakte zu den Pakistani, und sie wusste womöglich etwas über Projekt ´Ares´. Bislang aber schwieg sie beharrlich. GHOST hatte gerade eben noch mit BEAR über eine abhörsichere Leitung telefoniert. Der SHADOW-Kämpfer war seit Stunden dabei, die Agentin auszuquetschen. Um seine falsche Identität als westlicher Agent vor Hafsa zu wahren, musste er dabei auch auf Methoden der Folter zurückgreifen. Aber selbst unter Gewaltanwendung blieb die Frau hart. Sehr zum Leidwesen von BEAR, der sein Handwerk zwar sehr gut verstand, aber ganz und gar nicht mochte. Eine Frau zu foltern gehörte sicher zum Abartigsten, was ein Mann tun konnte. Wenn es sich dann auch noch um eine eigentlich Verbündete handelte, die nur unter falschem Vorwand leiden musste, war das selbst für einen erfahrenen Kämpfer wie BEAR ein nur schwer ertragbares Unterfangen. Normalerweise gehörte die Folter nicht zum Repertoire von SHADOW. Die ´Gesellschaft der Schatten´ hatte von jeher versucht, unnötige Gewalt zu vermeiden und in ihrem Handeln sauber zu bleiben. Aber einen sauberen Krieg gab es nicht, das wusste nicht nur Genral a. D. Francis Clayton. Die Hoffnung, einen bewaffneten Kampf auf menschenwürdige Art und Weise zu führen, war eine naive, törichte Illusion und ein Widerspruch in sich. Ein bewaffneter Kampf konnte niemals menschenwürdig sein. Denoch hatte SHADOW immer versucht, die Möglichkeit der Folter aus ihren Aktionen auszuschließen. In den allermeisten Fällen war man immer darum herum gekommen und hatte andere Wege gefunden, um an die benötigten Informationen zu gelangen. Dieses Mal jedoch nicht. Wie es aussah, gab es keine andere Möglichkeit, an die Informationen von Hafsa heranzukommen, so leid es GHOST auch tat.

Noch waren die Zusammenhänge nicht ganz klar, aber die Nachforschungen und nicht zuletzt die in Deutschland erbeuteten Versicherungs- und Bankpapiere hatten ergeben, dass bei der Finanzierung der Waffenprojekte von R&S anscheinend der französische Geheimdienst DGSE eine wichtige Rolle spielte. In mehreren der in der Berliner Bank gefundenen Dokumente waren klare Hinweise darauf gefunden worden. Natürlich war der Name des Geheimdienstes nie konkret gefallen, dafür aber andere Bezeichnungen, hinter denen sich eindeutig die DGSE verbarg. GHOST hatte seine Informationsquellen bei der Army und der CIA anzapfen müssen, um das heraus zu bekommen. Am Ende aber stand die Gewissheit, dass es sich bei den erwähnten Namen um nichts anderes handelte, als um Pseudonyme für die ´Direction Générale de la Sécurité Extérieure´. Das gleichzeitig auch noch der Name des Waffenprojektes ´Ares´ gefallen war, gab GHOST die Gewissheit, dass die Franzosen mit R&S gemeinsame Sache machten. Und das wiederum nährte die Hoffnung, dass auch Hafsa Al-Gharamh etwas darüber wusste.

Das Geschehen in der Berliner Sparkasse war eine typische SHADOW-Aktion gewesen. Täuschung und Verwirrung waren mächtige Waffen. Zu keinem Zeitpunkt der Operation waren irgendwelche Terroristen in der Bankfiliale gewesen. Einzig und allein MONKEY war für das Chaos, das die GSG9-Männer vorgefunden hatten, verantwortlich. Er war noch vor der Öffnung um 08:00 Uhr in die Bank eingedrungen und hatte die Angestellten außer Gefecht gesetzt. Dann hatte er in aller Ruhe die benötigten Unterlagen zusammengesucht. Die Forderung nach dem Selbstmord des Bankdirektors und die plötzlich ausbrechende Schießerei im Inneren des Gebäudes waren geschickte Ablenkungsmanöver gewesen, um Zeit für die Suche zu gewinnen und am Ende unbemerkt durch die Kanalisation unter der Bank wieder verschwinden zu können. Und während die deutsche Polizei nun fieberhaft nach irgendwelchen ominösen Geiselnehmern fahndete, hatte SHADOW das bekommen, was man brauchte. Selbst die gefesselten Angestellten würden nichts über den wahren Täter der Aktion verraten können. MONKEY war mit allerlei Getöse in die Bank eingedrungen. Mit Hilfe ferngesteuerter und mit Platzpatronen geladener Schussanlagen sowie ein paar Nebelwerfern hatte er die Angestellten so sehr verwirrt, dass sie glauben mussten, eine ganze Fußballmannschaft würde gerade über sie herfallen. In Windeseile hatte MONKEY die Leute zusammengetrieben und in einen Abstellraum gesperrt. Sie würden der Polizei daher mit Sicherheit keine brauchbaren Informationen liefern können.

Jetzt galt es, die Verbindung zwischen Raffelson & Svenson und der DGSE zu untersuchen. Hafsa´s Wissen würde dabei sehr wichtig sein. Mit ihrer Hilfe hoffte GHOST, nicht nur die verbrecherischen Machenschaften des Waffenkonzerns, sondern auch die Existenz des Projektes ´Ares´ und die des geheimen Bunkers in Indien belegen zu können.


Zwei andere SHADOW-Kämpfer waren unterdessen bereits auf dem Weg nach Indien, um den dort vermuteten Standort der R&S-Forschungsanlage zu inspizieren. SHARK und WOLF sollten einen möglichen Angriff vorbereiten und die Lage auskundschaften. Das Labor lag laut einiger Satellitenaufnahmen der amerikanischen NRO tief in den Gebirgszügen des Patkai und war daher nur äußerst schwer zugänglich. Dass die USA die Region per Satellit überhaupt hatten fotografieren lassen, ließ GHOST vermuten, dass auch der amerikanische Geheimdienst ein Auge auf R&S hatte. Inwieweit er auch gegen den Konzern aktiv werden würde, oder ob der Satellitenüberflug nur reine Routine gewesen war, blieb noch abzuwarten.

Den Informationen von GHOST zufolge hatte die CIA bislang noch keine brauchbaren Ermittlungserkenntnisse bezüglich der heutigen Ereignisse gewinnen können. Langley tappte also nach wie vor im Dunkeln, und das war gut so. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis Licht in das Dunkel kommen und die Verbindung der SHADOW-Aktionen zu R&S klar werden würde. Aber das machte nichts. Solange nichts über SHADOW selber bekannt wurde, sollten die Amerikaner ruhig weiter suchen.

SHADOW würde inzwischen schon sehr viel weiter sein. Vor wenigen Minuten erst hatte man ein Telefonat des in London tätigen Waffenschiebers Lorenzo Malina abgefangen. Der Italiener war eine Schlüsselfigur in den Ermittlungen der ´Gesellschaft der Schatten´. Die Liquidierung des russischen Mafiabosses Juri Patwilenko in der vergangenen Nacht war die Folge langwieriger Observierungen Malinas und seiner Geschäftspartner. Patwilenko hatte mit Malinas Hilfe mehrere, millionenschwere Waffendeals getätigt. Er belieferte sowohl die afghanischen Taliban, als auch die afrikanischen Warlords im Kongo und in Namibia. Gleichzeitig finanzierte er mit dem dadurch erwirtschafteten Geld Kinderhändlerringe und allerlei Drogengeschäfte in Europa und Russland. Kurzum, Patwilenko war einer der ganz Dreckigen dieser Welt und seine Liquidierung daher kein Verlust gewesen.

Gleiches konnte man auch von Lorenzo Malina sagen. Die Welt wäre sicher keinesweg ärmer ohne ihn. Allerdings war er im Moment noch zu wertvoll für SHADOW. Einer seiner Kunden schien nämlich im engen Kontakt zu Raffelson & Svenson zu stehen. Wer dieser Kunde genau war, wusste man noch nicht. Wahrscheinlich aber handelte es sich um dieselbe pakistanische Gruppierung, für die die von Malina organisierten Atomraketen bestimmt gewesen waren und die im Kontakt zu Hafsa Al-Gharamh stand. Um mehr über diese Gruppe zu erfahren, hatte SHADOW dieser Gruppe eine fingierte Botschaft zukommen lassen, in der einer ihrer Geschäftspartner, der ebenfalls unter SHADOW-Observierung stehende deutsche Waffenhändler Norbert Fischer, einen anstehenden Waffendeal aufkündigt und die Terroristen des Verrats beschuldigt. Wie zu erwarten gewesen war, hatten diese promt reagiert, und Fischer auf offener Straße in Turin hingerichtet. EAGLE hatte die Aktion live mit angesehen. Der SHADOW-Kämpfer hatte daraufhin die Order erhalten, dem Mörder zu folgen, und somit vielleicht näher an dessen Organisation zu kommen. Dieser Plan war geglückt. EAGLE musste zwar eingreifen und einen von Fischers Kumpanen, den Russen Oleg Markov, töten, der drauf und dran gewesen war, den Pakistani zu erschießen. Schlussendlich aber war dieser unbehelligt zurück in seine Heimat geflogen und hatte sich dort in einem Terrorcamp mit seinen Mitstreitern getroffen. EAGLE observierte die Männer nun. So, wie es aussah, standen sie tatsächlich in Kontakt zu R&S.

Das gerade mitgehörte Telefonat von Lorenzo Malina hatte diesen Verdacht ebenfalls erhärtet. Aufgeregt hatte der Italiener ein hitziges Gespräch mit einer unbekannten Person in China geführt. Malina hatte ein Problem. Die SHADOW-Aktion gegen das U-Boot hatte ihn gehörig ins Schwitzen gebracht. Jetzt suchte er verzweifelt nach einer Lösung. Schließlich hatte er einen unzufriedenen Kunden, der immer noch auf seine Raketen wartete. Malina hatte sich in seinem Gespräch dermaßen erregt, dass er die allerwichtigste Regel seiner Branche vergessen oder übergangen hatte: Keine Namen zu nennen! Ganz eindeutig hatte er stattdessen die schwedische Firma R&S erwähnt. Wie man es also auch drehte, alle Fäden liefen bei der Waffenfirma zusammen. Wenn man ihr nun kräftig in die Suppe spuckte, würden so manch andere Probleme daher vielleicht direkt mit erschlagen werden.

Eine von R&S aus den USA gen Asien versendete Teilelieferung, vermutliches Ziel Indien, befand sich zurzeit im Visier von SHADOW und würde, wenn sich die Vermutung bestätigen sollte, daher zum nächsten Ziel der Organisation werden.


***


Patkai-Gebirge (Indien)


Ein scharfer Nordostwind wehte das ewige Eis des nahen Himalaya in die zerklüfteten Höhen des Patkai. Eine sternenklare Nacht lag über dem fast viertausend Meter hoch ansteigenden Bergmassiv. Sie würde erst in gut neun Stunden dem Licht des neuen Tages weichen. Jetzt regierte der Mond und warf sein Licht auf die vom Sturm aufgewühlte Oberfläche eines riesigen Sees. Eingerahmt wurde er von steil aufragenden, eisig glitzernden Berghängen, von denen dichte Schneewolken herab auf das schwarze, eisig breiige Wasser getrieben wurden. Ein schmaler Bergpass, gerade breit genug für ein Auto, schlängelte sich entlang des Sees dessen Nordostufer entgegen. Er endete mitten auf einem großen Eisplateau, genau vor einem unscheinbaren, ruinenartigen Gebäude aus grauem Beton. Der in dieser einsamen Gegend fremd anmutende Klotz schien schon lange verlassen zu sein, denn die raue Natur des Patkai hatte sich seiner bemächtigt und tiefe, eisgefüllte Risse in die Wände gezogen. Das einstöckige Gebäude wurde von einem ebenfalls zerfallenen, mannshohen Holzzaun umgeben, der nur zu der Seite offen war, in die der Bergpass mündete.


Im dichten Schneetreiben war der Lichtkegel des Fahrzeugs, das sich mühevoll den Pass hinauf auf das Eisplateau zu bewegte, kaum zu erkennen. Das Heulen des gequälten Motors wurde vom Tosen des Eissturms übertönt. Die Umrisse des Fahrzeuges deuteten auf einen Pritschenwagen älteren Baujahres hin. Zwei Personen waren in der Fahrerkabine auszumachen. Das Glimmen einer Zigarette schien durch die Frontscheibe. Dicke Abgaswolken aus dem Auspuff schleudernd, schleppte sich der Wagen vorwärts. Der Sturm drückte erbarmungslos gegen die von einem Planenaufbau verdeckte Ladefläche und ließ das Fahrzeug gefährlich hin und her schaukeln. Schließlich aber war das Ende des Weges erreicht und der Wagen blieb vor der Betonruine stehen. Es verging eine Weile, ohne dass sich etwas rührte. Dann aber passierte etwas Unglaubliches:

Ein tiefdröhnendes Donnern setzte ein. Rund um das alte Gemäuer, das im Scheinwerferlicht des Pritschenwagens gespenstisch leuchtete, wurde ein seltsam künstlich erscheinender Riss im felsigen Boden sichtbar. Mehrere, auf den ersten Blick nicht erkennbare, an dem Holzzaun angebrachte Blinklichter begannen rot aufzublitzen. Während das Fahrzeug mit laufendem Motor geduldig wartete, hob sich der komplette Untergrund, auf dem die Ruine stand, plötzlich über einen halben Meter in die Höhe. Die kreisrunde Plattform verharrte kurz und kippte dann nach hinten weg, sodass sich die Unterseite zu den beiden Männern im Pritschenwagen drehte. Jetzt war zu erkennen, dass es sich um eine künstliche, aus Metall bestehende Ebene handelte, auf deren Oberseite eine täuschend echt wirkende Felsdecke sowie die Betonruine errichtet worden waren. Diese drehte sich nun, fest auf der Ebene verankert, vom wartenden Fahrzeug weg. Die Plattform vollführte eine halbe Umdrehung, so dass sich ihre stählerne Unterseite nach oben kehrte, während die Ruine nach unten zeigte. Dann senkte sie sich herab und fügte sich nahtlos wieder in den Boden ein. Dort, wo eben noch die Ruine gestanden hatte, befand sich nun eine glänzende, gut fünfzehn Meter im Durchmesser große Fläche. Rote, den Rand markierende Blinklichter leuchteten grell in die schneeverwehte Nacht hinein. Sie ersetzten die Lichter im Holzzaun, der mit samt der Ruine im felsigen Boden verschwunden war.

Nun gab der Fahrer des Pritschenwagens wieder Gas und lenkte das Fahrzeug rumpelnd auf die Plattform. Darauf angekommen, stellte er den Motor endlich ab. Kurz darauf setzte sich das stählerne Rund in Bewegung und versank mitsamt des Lasters in die Tiefe.


Der ehemalige Versorgungsbunker mit der schlichten Bezeichnung SB-033 war ein geheimes, bezüglich seiner Existenz nie bestätigtes Ausrüstungslager der US-Army im Vietnamkrieg gewesen. Der 1964 in einer Hauruckaktion in die eisigen Felsen des Patkai gebohrte Komplex erstreckte sich über mehrere unterirdische Ebenen und hatte die Größe von knapp fünf Footballfeldern. Er war errichtet worden, um im damals bevorstehenden Krieg gegen die Vietnamesen eine schnelle, gleichzeitig aber geheime Versorgung der Armee mit Waffen und Gerätschaften zu gewährleisten. Leider hatten sich die USA mit der Erbauung des Bunkers selber keinen Gefallen getan. Zu schwer zugänglich und für eine schnelle Versorgung der Truppen logistisch nicht ausgereift, verkümmerte der massige Bau schnell zu einem Geisterort.

Dann aber kam Raffelson & Svenson. Wie auch immer der Konzern der Regierung den Bunker abgeluchst hatte, SB-033 wurde wiederbelebt und zu einem hochmodernen Forschungslabor umgerüstet. Hier arbeitete man nun an Projekt ´Ares´. Fernab jeglicher Zivilisation und vermeintlich unbeobachtet von Konkurrenz und Politik, sollte hier der Traum der intelligenten, kriegführenden Mensch-Maschine Realität werden. Zu diesem Zweck hatte R&S alle möglichen, teils sehr namhafte Forscherpersönlichkeiten unter hohem Kostenaufwand nach Indien einfliegen und quasi in den Bunker sperren lassen. Unter strengsten Geheimhaltungsvorschriften arbeiteten die Frauen und Männer hier in fast allen Bereichen der modernen Wissenschaft. Unter ihnen waren neben Psychologen, Neurologen, Chemikern und Biologen auch Genetiker, Mechatroniker und Informatiker. Sie alle arbeiteten an der Erforschung der Verbindungsmöglichkeit des menschlichen Geistes mit der Maschine, genauer gesagt mit der Waffe. Unmengen von Geldern und die allerneuesten Techniken wurden in das zwar illegale, aber erfolgsversprechende Projekt gepumpt. Und mit der Illegalität würde man schon fertig werden, wenn erst einmal brauchbare, geldwerte Ergebnisse vorlagen. Die DGSE war schließlich mit im Boot. Ihre Unterstützung bedeutete nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine rechtliche Absicherung. Wenn nämlich erst einmal ein bedeutender Geheimdienst involviert war, dann war auch seine Regierung dabei. Und die wiederum würde die Rechtmäßigkeit eines zugegebenermaßen moralisch fragwürdigen Projektes wie ´Ares´ wohl irgendwie durchsetzen, wenn der Geldhahn erst einmal geöffnet worden war und sie alle reich beregnete.

Christopher O´Connell war sich des Risikos, welches er mit ´Ares´ einging, durchaus bewusst. Doch die Branche der Waffenforschung erforderte nun einmal solche Einsatzbereitschaft und Risikofreudigkeit. Mit herkömmlichen Schusswaffen konnte man heutzutage kaum noch Geld machen. Jede Regierung und jedes Militär der Welt verlangte nach Innovationen. Echte Vorsprünge in der Waffentechnik wurden gefordert. Und diese waren durch bloße Veränderungen in der Schuss- oder Munitionstechnik unmöglich zu realisieren. Neue Waffen und Waffenträger waren da schon um einiges vielversprechender. ´Ares´, dessen war sich O´Connell sicher, würde R&S eine über viele Jahre gesicherte Vormachtstellung im Waffenmarkt bescheren. Und das war allemal das Risiko wert.


***


Die Gesellschaft der Schatten

Подняться наверх