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Kapitel 4

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Visakhapatnam (Indien)


Die zwei Dutzend schwer bewaffneten Männer sahen aus, als wollten sie direkt in den Dritten Weltkrieg ziehen. Jeder von ihnen trug ein modernes, israelisches TAR-21-Sturmgewehr bei sich und war in einen schwarz-weiß gefleckten Schutzpanzer gekleidet. Die im modernen Bullpup-Design gefertigten Gewehre waren mit Leuchtpunktvisieren und neuartigen GK-47-Minigranatwerfern bestückt. Letztere waren Entwicklungen von Raffelson & Svenson. Gleiches galt für die Zweitwaffen der Männer, großkalibrige AP-771-Pistolen. Auch sie kamen von dem schwedischen Rüstungskonzern.

Während der Himmel über der westindischen Millionenstadt Visakhapatnam gerade einen infernalischen Regenschauer ablud, bestiegen die vierundzwanzig Kämpfer mit stoischen Mienen ihre Transportfahrzeuge. Einer nach dem anderen ließen sie sich auf den Ladeflächen der MAN-Lastwagen nieder. Kurz darauf setzten sich die Fahrzeuge in Bewegung. Sie bildeten den Begleitschutz für einen zweiachsigen, gepanzerten Lieferwagen, der starke Ähnlichkeit mit einem Geldtransporter hatte. Das Ziel des ungewöhnlichen Konvois war ein kleiner, nördlich der Stadt gelegener Zivilflughafen, auf dem in gut dreißig Minuten ein aus Amerika kommendes Frachtflugzeug landen sollte. Seine Ladung bestand aus hochmodernen, Millionen von Dollar teuren Steuerungsplatinen für Mikroprozessoren. Der Eigentümer der Platinen, die Firma R&S, hatte den Begleitschutz extra für diesen Transport angefordert. Die Männer auf den Ladeflächen der beiden LKWs gehörten der amerikanischen Sicherheitsfirma ´Total Security´ an. Das eigentlich auf die Bewachung von Firmen- und Privatgeländen spezialisierte Unternehmen war eine Tochterfirma der bekannten Firma ´Academi´, ehemals ´Blackwater Worldwide´. Total Security arbeitete schon sehr lange für R&S und sicherte nicht nur deren Einrichtungen, sondern auch des öfteren Waffenlieferungen in alle Welt ab. Dass die Truppe eine solche, im Gegensatz zu manch anderen Lieferungen eher harmlose Fracht begleiten sollte, war allerdings schon etwas außergewöhnlich. Doch die Firma stellte keine Fragen. Diskretion war überlebenswichtig in ihrem Metier. Und wenn das Geld stimmte, tat sie fast alles und nahm mitunter auch Aufgaben an, die man durchaus als Söldnertätigkeiten bezeichnen konnte.

Die Platinen waren für die R&S-Forschungsanlage im Patkai-Gebirge bestimmt. Die Existenz dieser Anlage unterstand höchster Geheimhaltung, und Total Security hatte eine strenge Sondervereinbarung zur Verschwiegenheit aufgebrummt bekommen, bevor man mit diesem Auftrag betraut worden war. Die Mitglieder der Truppe waren absolute Profis. Viele von ihnen waren hochdekorierte Irak-Veteranen der US-Army, denen der vergleichsweise niedrige Sold des Militärs nicht mehr genug gewesen war, und die jetzt ihr Geld in der Privatwirtschaft verdienten.

Im strömenden, monsunartigen Regen durchfuhren die drei Fahrzeuge das Tor des Hinterhofes, auf dem sie bis gerade gestanden hatten. Auf direktem Weg fuhren sie nun durch den heruntergekommen wirkenden, von schäbigen Fabrikgebäuden und Werftanlagen beherrschten Außenbezirk der Stadt in Richtung Schnellstraße. Zu dieser späten Stunde waren nur wenige andere Autos unterwegs. Der Konvoi kam daher zügig voran und würde in zwanzig Minuten den Flughafen erreichen.



***


Die zwei Piloten der amerikanischen C-27 J Spartan fluchten angesichts des miesen Wetters, durch das sie gerade flogen, nahezu ununterbrochen. Dicke schwarze Gewitterwolken verdunkelten den vom strömenden Regen durchzogenen Himmel, und in der Ferne zuckten grelle Blitze durch das schwarz-graue Firmament. Unentwegt rumpelte das Flugzeug auf und ab, und die Mägen der beiden Männer wurden arg durchgeschüttelt. Die zwei Turboprop-Propellertriebwerke unter den Tragflächen peitschten sich angestrengt durch die heftigen Sturmböen des nahen Unwetters. Fünfzehn Minuten noch, dann hatten sie es geschafft. Die Maschine befand sich bereits im Landeanflug auf den Flughafen von Visakhapatnam und sank daher stetig tiefer. Die mit Kurzstart- und Landeeigenschaften ausgestattete C-27 war ideal für den kleinen Flughafen. Größere Maschinen wie etwa die Lockheed C-130 Hercules oder gar eine Boeing 747 hätten keine Chance, hier zu landen. Warum es gerade dieser, eher unbedeutende und schwierig anzufliegende Flughafen sein musste, war den beiden Piloten allerdings schleierhaft. Schließlich war der nahe gelegene internationale Airport von Hyderabad viel besser beschaffen und zudem schneller erreichbar. Vor einer knappen Dreiviertelstunde hatte die C-27 ihn überflogen. Aber sei es drum, dachten sich die beiden Männer im Cockpit des Fliegers. Das Ziel war nahe. Bald schon würden sie ihre Ladung, eine Handvoll Paletten mit versiegelten Stahlbehältern, ihrem Empfänger übergeben und sich danach ordentlich besaufen können. Es gab wirklich nichts schlimmeres, als mit einer alten C-27 in einem solchen Unwetter fliegen zu müssen. Immer wieder spielten die Instrumente verrückt, und die Piloten mussten sich ganz auf ihr manuelles Flugkönnen verlassen. Sie würden daher heilfroh sein, wenn sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Ein zweites, seit wenigen Minuten der C-27 hinterher fliegendes Flugzeug hatte weniger Probleme mit dem immer schlechter werdenden Wetter. Als eines der modernsten Kampfflugzeuge der Welt war die Lockheed Martin F-117 Nighthawk nicht nur mit Tarnkappeneigenschaften, sondern auch mit einem überaus intelligenten und vor allem unempflindlichen Navigationssystem ausgestattet. Seine zugegebenermaßen recht hässliche Optik machte das Flugzeug für das Radar der C-27 und die Bodenradarsysteme der indischen Luftüberwachung unsichtbar, und die moderne Bordtechnik leitete den Jet sicher und ruhig durch jede vom Gewittertief erzeugte Turbulenz. Während die C-27 immer wieder hilflos wie ein Spielball auf und ab hüpfte und die beiden Piloten Blut und Wasser schwitzen, um die Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen, konnte sich der Pilot des Kampfjets voll und ganz auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Mit Hilfe eines speziellen Steuerungsdisplays im Visier seines Helmes konnte er die Nighthawk präzise und sicher hinter der Transportmaschine halten. Zwischen den beiden Flugzeugen blieb ein Abstand von nur knapp einhundert Metern.

„GHOST, hier Indiabird“, sprach der Pilot in sein Headset, „beginne mit Operation ´Diebische Elster´!“

„Indiabird, hier GHOST. Verstanden. Grünes Licht für ´Diebische Elster´!“

Der Pilot der F-117 betätigte einen Schalter am Amaturenbrett vor sich. Das Licht im Cockpit wechselte zu einem blassen Grün. Alle anderen Positionslichter des Kampfjets hatte er bereits vorher abgeschaltet. Ein kleiner Computermonitor an der Decke über dem Piloten erwachte zum Leben, und eine Reihe endloser Zahlenfolgen flimmerte auf. Es vergingen einige Sekunden, dann erklang ein Piepton.

SRRRRRRRRR

Wie von Geisterhand gesteuert, öffnete sich plötzlich die große, zweigeteilte Laderampe am Heck der vorausfliegenden C-27. Der obere Teil klappte sich nach innen an die Decke des Laderaums, während der andere Teil sich nach unten absenkte. Durch den Regen hindurch konnte man erkennen, dass der Laderaum nicht einmal halb gefüllt war. Lediglich ein paar Paletten befanden sich in seinem vorderen Bereich. Der hintere, nahe der Rampe liegende Bereich war leer.

„CAT, hier Indiabird. Der Tresor wurde geknackt. Abschuss in zehn Sekunden!“

„CAT verstanden!“

Während die zwei Piloten der C-27 gerade völlig verdutzt auf ihre Instrumententafel starrten und das Öffnen der Laderampe zunächst für einen der vielen Anzeigefehler hielten, erhöhte die F-117 kurzzeitig den Schub und näherte sich bis auf fünfzig Meter an die nach wie vor heftig schwankende Propellermaschine an.

„Abschuss in sechs Sekunden!

Fünf!

Vier!

Drei!

Zwei!

Eins!

Abschuss!“

Der Copilot der C-27 hatte seinen Sicherheitsgurt gelöst und sich nach hinten in den Laderaum begeben, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Er traute seinen Augen nicht, als er die große Rampe tatsächlich offen vor sich sah. Regen peitschte wild in den Laderaum hinein. Der Mann aber blieb wie angewurzelt stehen und starrte nach draußen. Im verwaschenen Schleier des Gewitterhimmels war die Silhouette eines merkwürdig kantigen, bedrohlich wirkenden und noch dazu völlig unbeleuchteten Flugzeuges zu erkennen. Es flog dicht hinter der C-27 her. Eine gefühlte Ewigkeit lang stand der Copilot staunend da. Nur langsam löste sich seine Starre. Als er bereits völlig durchnässt war, tat er endlich ein paar Schritte zur Seite. Dort in der Wand des Flugzeugs war eine Funkstation sowie das Steuerpult für die Rampe angebracht. Er musste Meldung an den im Cockpit sicherlich vor Nervosität platzenden Piloten machen. Im selben Moment jedoch erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Im schwarzen, wild tosenden Regenvorhang hinter der C-27 waren plötzlich zwei hell aufleuchtende Umrisse zu erkennen. Gleichzeitig ertönte ein lang anhaltendes Zischen.

Aus dem Bombenschacht der F-117 Nighthawk lösten sich zwei Gegenstände. Wie Steine fielen sie in den sturmgepeitschten Himmel herab. Eine halbe Sekunde später zündeten zwei Doppelpulsmotorentriebwerke. Das erste gehörte zu einem raketenförmigen Geschoss, welches nun mit atemberaubender Geschwindigkeit direkt auf den gähnenden Schlund des offen stehenden C-27-Laderaums zu raste und dabei eine, vom Sturm schnell zerwehte Rauchspur hinter sich her zog.

ZOOOOSSHHH

Das zweite Triebwerk war am Heck einer aus der F-117 herausfallenden PSB angebracht. Diese beschleunigte schlagartig und nahm den selben Kurs wie die vorauseilende Rakete.

ZOOOOSSHHH

Die Stabilisationsflügel an der Seite der gut zweieinhalb Meter langen Kapsel hielten sie auf Kurs. Das Triebwerk am Heck sorgte für genügend Schub, um die PSB binnen kürzester Zeit an ihr Ziel zu bringen. So schnell wie die vorausjagende Rakete war die PSB allerdings nicht. Kurz bevor die Rakete in das Innere des Laderaums der C-27 flog, explodierte sie. Anstatt jedoch eine Zerstörung zu verursachen, schnellten unzählige, in alle Richtung auseinanderfliegende Seile daraus hervor.

KLANGG, KLANGG, KLANGG

Die Stahlspitzen an den Seitlenden bohrten sich in die Wände, die Decke und den Boden des Laderaums. Der völlig perplexe Copilot hatte sich gerade noch mit einem beherzten Sprung zur Seite vor den Einschlägen retten können. Ehe er sich überhaupt bewusst wurde, was gerade um ihn herum geschah, spannte sich auch schon ein engmaschiges Auffangnetz quer durch den Raum und teilte ihn in zwei Hälften.

SPIRRRRRRR

Nun rauschte die PSB heran. Sie flog geradewegs in das aufgespannte Netz hinein, wurde von diesem jäh abgebremst und polterte zu Boden.

Eine Sekunde später öffnete sich der Deckel der vollkommen schwarz lackierten, in ihrem stromlinienförmigen Design einem Haikopf ähnelnden Stahlkapsel, und eine Person stieg aus. Ängstlich wich der an der Seitenwand kauernde und total perplexe Copilot der C-27 zurück. Vor ihm stand eine, in eine eng anliegende, komplett schwarze Kampfmontur gekleidete Frau. Ihr Gesicht war von einer ebenfalls schwarzen Sturmhaube bedeckt.

„Was zum ...?“

Entsetzt richtete der Copilot sich auf. Die Angst trieb ihn hoch. Das den Laderaum durchteilende Netz jedoch versperrte ihm den Fluchtweg in Richtung Cockpit. Panisch begann er, daran zu rütteln und zu zerren. Keine Chance! Ohne jede Ausweichmöglichkeit drückte er sich in die harten, gummiartigen Maschen und sah sich um. Die Frau marschierte zielstrebig auf ihn zu. Auf ihrem Rücken trug sie ein Ninjaschwert in einer Kunststoffscheide, und an ihrer Seite hing eine Pistole. Diese zog sie nun.

„Nein, bitte...“, stammelte ihr Gegenüber, drehte sich zu ihr um und setzte zu einem Fluchtversuch nach vorne an. Blitzschnell wirbelte die Frau einmal um die eigene Achse und rammte ihren ausgestreckten Fuß in die Brust des heranpreschenden Copiloten. Der Tritt traf genau auf den Solarplexus und presste dem Mann schlagartig die Luft aus den Lungen. Er flog zurück und ging zu Boden. Die Frau blieb stehen und richtete ihre Waffe auf ihn. Panisch nach Luft japsend und von Schmerzen gelähmt, starrte der Pilot sie mit flehenden Augen an.

FLUPP

Ein kleiner, nur fingernagelgroßer Pfeil bohrte sich in den Hals des Copiloten. Er schrie kurz auf, dann aber setzte bereits die Wirkung des Betäubungsgeschosses ein, und er sackte bewusstlos in sich zusammen.

Die Frau steckte die Pistole weg und zog ihr Schwert. Mit ein paar gekonnten Hieben schlug sie ein Loch in das gespannte Auffangnetz und schritt hindurch. Dann ging sie zur Steuerungskonsole der Laderampe und betätigte den mit ´Close´ beschrifteten Knopf. Während sich die Rampe am Heck des Flugzeuges nun langsam wieder schloss, sprach die Frau in ihr Kehlkopfmikrofon.

„Indiabird, hier CAT ! Ich bin drin. Ein Pilot ist außer Gefecht. Werd´ mich jetzt dem zweiten Mann an Bord vorstellen!“

Die Antwort kam prompt.

„CAT, hier Indiabird. Verstanden!“


***


CIA-Hauptquartier, Langley (USA)


Ernest Morrison war früh aus dem Bett gefallen. Auch drei spätabendliche Scotch hatten ihm die wohlbenötigte Nachtruhe nicht sichern können. Unruhig hatte er sich neben seiner Frau hin und her gewälzt und immer wieder über den üblen Tag nachgedacht, den er hinter sich hatte. Nach der gestrigen Sitzung im Weißen Haus war er schnurstracks zurück nach Langley gefahren und hatte sich in sein Büro eingeschlossen, um in Ruhe die zurückliegenden Ereignisse analysieren und seine Berichte schreiben zu können. Dabei war er zu der simplen Erkenntnis gelangt, dass er und die CIA schlicht und einfach keine Ahnung hatten, was vor sich ging. Das Wissen, das sie bis jetzt erlangen konnten, beschränkte sich im Grunde auf folgende Dinge:

Allem Anschein nach führte die der ganzen Welt seit Jahrzehnten Rätsel aufgebende, unbekannte Organisation zurzeit verschiedene Operationen gegen einen noch näher zu bestimmenden Ring von Waffenhändlern und Terroristen aus. Im Zentrum des Ganzen schien der schwedische Konzern Raffelson & Svenson zu stehen, denn alle angegriffenen Ziele hatten auf irgendeine Art und Weise mit der Firma zu tun gehabt. Und irgendwie waren auch die Pakistani in die ganze Angelegenheit verwickelt, das wurde ebenfalls zunehmend deutlich. Ihre Verbindungen zur Al-Quaida und zu R&S waren zwar noch nicht ganz klar, aber die Tatsache, dass das in China versenkte U-Boot und seine atomare Fracht gen Pakistan unterwegs gewesen waren, und dass auch die zwei toten Waffenschieber in Turin Kontakte sowohl zu R&S, als auch nach Pakistan gehabt hatten, ließen diese Vermutung zu. Gleiches galt für den in London erschossenen Russen. Und auch die Entführung von Hafsa Al-Gharamh sprach dafür: Die unbekannte Organisation wusste von ihren Verbindungen zu den Pakistani und quetschte sie nun wahrscheinlich aus. Aber warum das alles? Was war das Ziel des Ganzen? Wollte man dem illegalen Waffenhandel, den R&S betrieb, das Handwerk legen? Alle getöteten oder entführten Personen hatten Dreck am Stecken. Sie arbeiteten mit R&S zusammen und handelten direkt oder indirekt mit deren Waffen. Und ihre Handelspartner waren Terroristen. Selbst der in Afghanistan ermordete deutsche Bundeswehrgeneral war nicht koscher gewesen. Die Ermittlungen des BND und der CIA hatten ihm eindeutige schwarze Waffengeschäfte mit sehr zwielichtigen Personen nachweisen können. Und immer wieder war der Name R&S aufgetaucht. Anscheinend hatte der General für den Konzern gearbeitet und ihm so manchen schmutzigen Deal ermöglicht.


Was die unbekannte Organisation tat, war im Grunde genommen das, was allen offiziellen Geheimdiensten und Polizeiapparaten nicht gelang. Eigentlich standen sie also auf derselben Seite. Nichts desto trotz mussten die Unbekannten natürlich endlich identifiziert und gestoppt werden. Wer konnte schon sagen, was sie als nächstes anrichten würden und ob nicht irgendwann auch die amerikanische Regierung oder einer ihrer Verbündeten in ihr Visier geraten würden.

Die Auswertung der Satellitenbilder aus dem chinesichen Meer hatte ergeben, dass der unbekannte B2-Bomber nach der Operation gegen das U-Boot wieder gen Westen geflogen war. Irgendwo über dem Nahen Osten hatte man ihn dann allerdings verloren. Urplötzlich war das Flugzeug nicht mehr zu sehen gewesen. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Die Chinesen hatten unterdessen genau so auf den Vorfall reagiert, wie Morrison es erwartet hatte. Nachdem der Untergang des U-Bootes in der internationalen Presse bekannt geworden war – ein solcher Zwischenfall konnte auch von den Chinesen nicht völlig verheimlicht werden - wurde er als ein tragisches Unglück abgetan, dessen Ursache man zurzeit noch untersuche. Ein Fremdverschulden sei jedoch genauso wie eine Gefährdung der Umwelt sicher auszuschließen.

Auch die Satellitenaufnahmen von Algerien waren nicht weiter hilfreich. Sie hatten gezeigt, wie ein bewaffneter Mann in ein zweistöckiges Haus im Zentrum von Algier verschwunden und später mit einer vermummten Person im Schlepptau wieder herausgekommen war. In einem vor dem Haus wartenden Jeep waren die beiden dann davon gefahren. Wo sie dann abgeblieben sind, war im Trubel des Stadtverkehrs allerdings untergegangen.

Man konnte also getrost sagen, dass Ernest Morrison nach wie vor mit heruntergelassenen Hosen dastand. Bis heute Mittag musste er unbedingt etwas mehr präsentieren können, sonst waren seine Tage als Leiter der CIA vermutlich gezählt. Für 12:00 Uhr war das nächste Meeting im Weißen Haus angesetzt. Nicht viel Zeit, besonders wenn man quasi noch nichts Brauchbares in der Hand hatte.

Eine von Morrisons Sekretärinnen kam herein und brachte ihm einen Schnellhefter mit den neuesten Nachrichten. Während er die Seiten durchblätterte, nippte er an seinem Kaffee, den er heute zur Abwechslung einmal schwarz trank. Viel hatte er allerdings nicht davon, denn das, was er da las, ließ ihn wie in Zeitlupe die Kaffeetasse absetzen und mit offenem Mund über dem Bericht verharren. Jetzt auch noch ein F-117-Bomber? Ein Scherz, oder? Aber vor seinen Augen stand es schwarz auf weiß: Kaperung einer amerikanischen Transportmaschine vom Typ C-27 J Spartan durch ein als F-117 identifiziertes Kampfflugzeug. Das ganze heute am frühen Morgen über dem indischen Festland. Beide Flugzeuge anschließend verschwunden. Ladung und Ziel der C-27: Elektrische Komponenten für Fernlenkwaffen im neu gegründeten Luftwaffenstützpunkt der US-Air Force bei Kalkutta. Absender der Lieferung: Ja, wer hätte das gedacht, Raffelson & Svenson!

So unglaublich niederschmetternd diese Nachricht für Morrison auch war, denn sie belegte immerhin erneut die Unfähigkeit seines Geheimdienstes, so war sie doch gleichzeitig auch ein Aufhänger der ersten Analysen, die er dem Präsidenten am Mittag vorstellen wollte: Es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass definitiv alle von der unbekannten Organisation durchgeführten Aktionen etwas mit dem schwedischen Waffenkonzern R&S zu tun hatten. Und auch wenn man noch nichts Genaues sagen konnte und Morrison dafür sicherlich einen erneuten Rüffel von John Ramsey kassieren würde, so bedeutete diese Erkenntnis in jedem Fall einen aussichtsreichen Startpunkt für die weiteren Ermittlungen. Man musste R&S unbedingt genauer unter die Lupe nehmen. Außerdem konnte er die unfassbare Professionalität der unbekannten Organisation durchaus als Entschuldigung gebrauchen. Wer einen B2- und einen F-117-Bomber in seinem Besitz hatte und solche, technisch hochpräzisen und exakt geplanten Operationen durchführen konnte, dem war mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden nun mal nicht so schnell beizukommen. Das musste auch der Präsident akzeptieren.

Ernest Morrison schöpfte neue Hoffnung. Etwas Zeit hatte er noch. Er musste sie nutzen, um die Nachforschungen in Richtung R&S in Gang zu setzen. Vielleicht tauchten bis heute mittag ja doch noch brauchbare Details auf. Es war noch nicht zu spät.


***


Islamabad (Pakistan)


Lorenzo Malina hasste Pakistan. Seine Geschäfte führten ihn sehr oft hierher, und jedesmal, wenn er hier war, verabscheute er das Land mehr. Die karge Vegetation, die die sandige Mondlandschaft durchzog, widerte ihn an, und das unerträglich heiße Klima ließ ihn permanent schwitzen und stinken. Anscheinend ging es den Pakistani selber nicht viel besser, denn Malina meinte einen immerwährenden Schweißgeruch in der Luft zu vernehmen, ganz egal, ob drinnen oder draußen. Dazu gesellte sich angesichts des unüberschaubaren Gemisches ethnischer Gruppen in Pakistan ein ständiges Gefühl der Unsicherheit, das sich am besten als eine Mischung aus rassenbegründetem Minderwertigkeitsgefühl und religiöser Stigmatisierung beschreiben ließ. Und mit so etwas konnte Lorenzo Malina gar nicht gut umgehen.

Nichts desto trotz kam Malina um diese Reise nach Pakistan nicht umhin. Sein Kunde verlangte nach ihm, und Malina kam nicht mit leeren Händen. Nach dem Desaster mit der Raketenlieferung hatte es der Italiener tatsächlich geschafft, den chinesischen Lieferanten zu einer zweiten Lieferung zu bewegen. Und das zu einem unschlagbar fairen Preis. Malina brauchte lediglich noch die Zustimmung der Pakistani. Er bezweifelte zwar, dass diese ohne weitere Zugeständnisse und Vergünstigungen auf den Deal eingehen würden, aber sein Angebot war wenigstens ein Anfang.


Wie ein Kamikaze auf der Suche nach dem geeigneten Ort seines Todes raste der Taxifahrer durch die staubigen Straßen der pakistanischen Hauptstadt und hupte dem rostigen Auto vom Typ Mercedes Benz 200 E dabei förmlich die Seele aus der Karosserie. Malina wurde auf der aufgeschlitzten und speckigen Rückbank hin und her geschleudert. Seine Aktentasche flog von einer Seite auf die andere, während er sich krampfhaft an dem Griff über der Tür festzuhalten versuchte und den Fahrer unentwegt wütend anbrüllte. Dieser aber schien ganz offensichtlich Spaß daran zu haben, seinen Fahrgast durchzuschütteln und legte sich richtig ins Zeug. Die Übelkeit erregende Musik, die dabei fröhlich aus dem Autoradio dudelte, gab Malina den Rest. Und so nutzte er einen der wenigen, den Fahrer sichtlich verärgernden Stopps an einer vielbefahrenen Kreuzung, um sich seinen wahnsinnigen Chauffeur einmal ausführlich vorzuknöpfen. Zornig beugte er sich nach vorne zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, um seine Standpauke zu starten. Weit kam er allerdings nicht. Malina fiel noch auf, dass das Gesicht des Fahrers im Gegensatz zu seiner zerfransten Kleidung äußerst unarabisch wirkte. Ja, genauer gesagt, hatte der Mann ein eher amerikanisches Profil. Mehr Eindrücke gewann der Italiener allerdings nicht. Stattdessen donnerte ihm ohne Vorwarnung eine Faust auf die verschwitzte Nase, und es wurde schlagartig dunkel um ihn.


***


Sierra Nevada (USA)


Operation ´Diebische Elster´ war ein voller Erfolg gewesen. Das von Raffelson & Svenson nach Indien geschickte und mit elektronischen Steuerungen beladene Transportflugzeug war von CAT gekapert und an einen sicheren Ort gebracht worden. Dazu hatte sie einen der beiden Piloten außer Gefecht gesetzt, und den anderen dann gezwungen, den Kurs gen Visakhapatnam zu verlassen. Der Pilot hatte keinerlei Widerstand geleistet. Ihm war es ziemlich egal gewesen, wohin er seine Maschine flog. Er hatte nur aus dem kräftigen Unwetter herausgewollt, das gerade über Indien hinweg gezogen war.

GHOST war gespannt, wie R&S jetzt reagieren würde. Wenn es nicht schon vorher so war, wusste der Konzern spätestens jetzt, dass ihm gerade jemand gehörig in die Suppe spuckte. Und dabei stand SHADOW erst am Anfang der Arbeit. Die größte Aktion gegen R&S stand noch bevor: Die Erstürmung und Zerstörung der geheimen Forschungsanlage in Indien. Dass das Labor tatsächlich existierte und R&S dort verbotenerweise an Projekt ´Ares´ arbeitete, war mittlerweile bestätigt worden. Hafsa Al-Gharamh hatte endlich geredet. Die Agentin des französischen Geheimdienstes hatte BEAR´s Folter letzten Endes nicht mehr standgehalten und ihre Tarnung fallengelassen. Damit war eine Rückkehr in ihren Undercover-Einsatz bei den algerischen Terroristen natürlich unmöglich geworden, aber das war der Französin egal gewesen. Sie hatte BEAR ihre wahre Identität verraten und die Zusammenarbeit der DGSE mit Raffelson & Svenson zugegeben. Auch die Verbindungen des Waffenkonzerns zu den pakistanischen Terroristen waren von ihr bestätigt worden. Die letzten Puzzleteile waren somit gefunden worden.


Nun konnte SHADOW sich voll und ganz auf den entscheidenden Schlag in Indien vorbereiten. SHARK und WOLF erkundeten bereits das Einsatzgebiet im Patkai-Gebirge. Bald würden sie in ein unter falschem Namen angemietetes Quartier nach Kalkutta reisen, um die anstehende Operation von dort aus genau zu planen. Unterstützung erhielten sie von SNAKE und EAGLE, die in Kürze aus Afghanistan und Pakistan zurückkehren würden. EAGLE hatte die pakistanische Terrorgruppe observiert, die im Kontakt zur Al-Quaida stand und für die die chinesischen Nuklearraketen bestimmt gewesen war. Die Gruppe hatte sich als relativ klein, aber durchaus gut organisiert und anscheinend mit nicht unerheblichen Geldmengen ausgestattet erwiesen. SHADOW hatte sich in das Computernetz der Gruppe hacken können, nachdem ihre Identität von EAGLE festgestellt worden war. Die Durchleuchtung ihrer Konten hatte regelmäßige Finanzkontakte zu Raffelson & Svenson ergeben. Christopher O´Connell kooperierte also ganz direkt mit Terroristen! Einer der Mittelsmänner bei diesen Geschäften war der Italiener Lorenzo Malina. EAGLE hatte ihn in Pakistan abgefangen und nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Viel Überredungskunst hatte er allerdings nicht benötigt, um Malina zum Reden zu bewegen. Der Italiener hatte alles ausgepackt. Er hatte für R&S mehrere legale und auch illegale Waffendeals organisiert und für die Logistik gesorgt. Sein letzter Deal, einer von der illegalen Sorte, war allerdings gehörig schief gelaufen und hatte mit einem U-Boot am Grund des südchinesischen Meeres geendet. Malina steckte daher in ziemlich großen Schwierigkeiten und war nach Pakistan gereist, um einen neuen Vertrag mit den Terroristen zu schließen. Daraus würde jedoch wohl nichts mehr werden.

BEAR hatte unterdessen die im Gegensatz zu Malina weitaus härtere Nuss namens Hafsa Al-Gharamh medizinisch versorgt und auf ein Schiff gen Genua verfrachtet. Die Frau war in Algerien nicht mehr sicher. Wenn die Al-Quaida ihre wahre Identität und ihren Verrat herausfinden sollte, wäre sie bestimmt nicht mehr lange am leben. Ihre Rückkehr nach Europa war daher unumgänglich. BEAR selber befand sich nun ebenso wie CAT und MONKEY auf dem Weg nach Indien. Das für den Einsatz notwendige Equipment war ebenfalls schon auf dem Weg dorthin, und GHOST selber würde in Kürze hinterherfliegen. Für diese Operation musste und wollte er direkt vor Ort sein. Schließlich barg der Einsatz ein nicht unerhebliches Maß an Brisanz. Auch wenn Raffelson & Svenson keine Staatsregierung oder eine andere politische Macht darstellte, so war der Konzern doch immerhin der mächtigste und erfolgreichste Waffenproduzent der Welt. Seine Lobby in den europäischen und der amerikanischen Regierung war stark. Der kommende Schlag gegen die Firma musste Erfolg haben. Nur dann konnte man die Machenschaften von R&S glaubwürdig belegen und Christopher O´Connell ein für allemal den Gar aus machen. Sollte die Operation scheitern, würde sie womöglich genau das Gegenteil bewirken: R&S´s Einfluss würde stärker denn je sein und dem Konzern eine einzigartige Stellung auf dem Markt der Waffenindustrie verschaffen. Sein Ruf nach Schutz und nach mehr Spielraum im Wettbewerb gegen die Konkurrenz würde Gehör finden und O´Connell die Freiheiten verschaffen, die er für seine verbotenen Forschungen brauchte. Während die ganze Welt auf der Suche nach den Drahtziehern des unbegründeten Angriffes auf die Firma sein würde, hätte er die Möglichkeit, seine unlauteren Geschäfte unbehelligt fortzuführen. Kein Mensch würde mehr ein wachsames Auge auf R&S haben. Stattdessen würden endlich alle den Verschwörungsrufen und Hetzkampagnen gegen die Konkurrenz glauben, die Christopher O´Connell bereits seit Jahren immer wieder an die Öffentlichkeit brachte, um von seinen eigenen Lügen und Verbrechen abzulenken.

GHOST wusste nur allzu gut, welchen Einfluss und welche Macht R&S und besonders O´Connell hatte. Der Schotte war mittlerweile seit über zehn Jahren im Vorstand des Konzerns und seit viereinhalb Jahren sogar dessen Vorsitzender. Angesichts der Wechselfreudigkeit bezüglich der Führungspositionen in dieser Branche war das eine verdammt lange Zeit. Bereits kurz nach seinem Aufstieg in die Führungsriege von Raffelson & Svenson hatte Christopher O´Connell mit einigen zunächst wahnwitzig klingenden Aussagen für Aufruhr gesorgt. Was zunächst nach verbalen Schnellschüssen und Verfehlungen geklungen hatte, war im Laufe der Jahre jedoch immer mehr auf Gehör gestoßen und hatte O´Connell den Ruf eines zwar vorlauten, aber gleichzeitig weitsichtigen, mitunter sogar visionären Geschäftsmannes eingebracht. Nicht nur bezüglich des Erfolges seiner Firma, auch in militärpolitischer Hinsicht hatte er sich zu einem hochintelligenten, überaus gebildeten und gefragten Analytiker entwickelt. So war es auch nicht weiter verwunderlich gewesen, dass der Schotte zum persönlichen Berater des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des zweiten Irak-Krieges bestellt worden war. Es war nie ein Geheimnis gewesen, dass die Waffenindustrie immer schon einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Regierungen ausgeübt hatte, wenn es um die Frage ging, ob und vor allem warum man jemand anderem den Krieg erklären sollte. Schließlich bedeutete Krieg das große Geschäft für die Branche, und der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt, wenn es eines Auslösers bedurfte. O´Connell entpuppte sich diesbezüglich als wahrer Meister. Sein Anteil an dem zugegebenermaßen genial einfachen Plan, Saddam Hussein ein fiktives Arsenal an Massenvernichtungswaffen in die Schuhe zu schieben, um gegen ihn in den Krieg ziehen zu können, war angeblich überaus groß gewesen. GHOST war selber im Irak gewesen. Als General Francis Clayton hatte er dort die sogenannten ´Covert Ops´, die verdeckten Operationen der Delta-Forces, und ganz direkt auch die Erstürmung von Saddam´s Präsidentenpalast geleitet. Dabei hatte er auch Ray Cooper und Lennox Devreaux kennengelernt. Beide hatte er später unter den Decknamen EAGLE und SNAKE für die „Gesellschaft der Schatten“ rekrutieren können.

Die führenden Wirtschaftsbosse der UN-Staaten hatten den Krieg gegen den Irak geradezu gefordert. Angesichts der knapper werdenden Rohstoff-Recourcen, der sich ankündigenden Handelskrisen und des bedrohlichen Erstarkens der ostasiatischen Kopisten-Staaten hatten sie eine größere Kontrolle und eine Absicherung der arabischen Erdölvorkommen für den zweifelsohne kommenden Wirtschaftskrieg verlangt. Den westlichen Regierungen war diese Forderung nur recht gewesen. Auch sie wollten vorbereitet sein, wenn die Krise kommen und der Rohstoffkampf beginnen würde. Zusätzlich hatte sie allerdings noch ein zweiter Gedanke beflügelt: Die Anschläge des 11. Septembers 2001 auf die Tower des World Trade Centers in New York hatten einen tief sitzenden und gleichzeitig wachrüttelnden Schock in den Köpfen der Politiker verursacht. Die Erkenntnis daraus war einfach gewesen: Die Araber sind böse! Seit Jahrhunderten schon stellten sie und der Islam die Quelle der meisten kriegerischen Auseinandersetzungen auf der ganzen Welt dar. Seien es Israel und der Libanon, Iran und Irak, Afganistan und Pakistan. Die großen Kriege der Vergangenheit waren zu häufig von den radikalen Gedanken des Arabertums genährt worden. Die Araber waren also das große Übel. Und ihre Anzahl wuchs und wuchs. Nach und nach infiltrierten sie die westliche Welt durch Einwandertum und versteckte Islamisierungsversuche. Gleichzeitig bekamen sie mehr Macht, mehr Technik, mehr Wissenschaft, mehr Waffen. Natürlich traute es sich niemand zu sagen, aber im Grunde war der Tenor eindeutig: Bekämpft den Islam! Hussein, der arme Teufel, hatte die Voodoopuppe spielen müssen, in die man die Nadeln sticht, um das Böse, das sie verkörpert, zu vernichten. Natürlich war Hussein ein Menschenfeind und Sadist gewesen. Damit hatte er allerdings nicht alleine gestanden. Menschen wie ihn gab es überall auf der Welt, in allen Kulturen, Religionen und ethnischen Gruppen. Wollte man sie alle einfangen oder liquidieren, so blieben nicht viele übrig, die diese Aufgabe überhaupt erledigen konnten. Hussein jedenfalls hatten sie erwischt und ein Exempel an ihm statuiert. Der Kampf gegen den Islam aber ging weiter. Menschen wie Christopher O´Connell lieferten den kriegswilligen Regierungen die passenden Gründe dafür und verdienten sich selber eine goldene Nase daran. Für SHADOW hieß es nun, diese Nase zu stutzen.


***


New York City (USA)


Während draußen ein angenehm milder Tag für so etwas wie eine verspätete Sommerstimmung sorgte, und die Menschen zu Tausenden fröhlich durch die Einkaufsstraßen und Cafés am Times Square schlenderten, herrschte im Tagungsraum des R&S-Vorstandes im 61. Stockwerk des Chrysler-Buildings eine eiskalte Begräbnisatmosphäre. Zusammengesunken und zerknittert saß Christopher O´Connell in seinem Ledersessel und litt Qualen. Er fühlte sich nackt. Die Blicke der anderen sieben Vorstandsmitglieder, die zusammen mit ihm an dem runden Tisch saßen, durchbohrten ihn förmlich. Die Fragen, die während der letzten Dreiviertelstunde auf ihn eingeprasselt waren, bescherten dem Schotten eiskalte Schweißschauer. Selten war er so in Erklärungsnot gewesen wie heute. Und dabei konnte er für die Misere, die seine Firma gerade erlebte, nicht einmal etwas. Zumindest war er sich keiner Schuld bewusst. Dass er tief in der Klemme saß, das stand allerdings fest. Vor gut einer Stunde hatten er und seine Kollegen von der Entführung der für das Forschungslabor in Indien gedachten Fracht erfahren. Nun stand endgültig fest, dass es jemand direkt auf R&S abgesehen hatte, und dass dieser jemand aller Wahrscheinlichkeit nach auch von Projekt ´Ares´ Kenntnis hatte. Damit ergab sich ein mehr als ernsthaftes Problem. Vor allem für O´Connell persönlich. Dummerweise hatte er es nämlich seinerzeit versäumt, den Vorstand sowie den Aufsichtsrat des Konzerns über den genauen Inhalt von ´Ares´ zu informieren. Und auch die Tatsache, dass das Projekt in Indien stationiert war, hatte er verschwiegen. Offiziell diente der Bunkerkomplex im Patkai-Gebirge nur als Lagerstandort. Eine Lieferung hochmoderner High-Tech-Steuerungsplatinen für neueste Prozessoren in dieses Lager erschien den Damen und Herren vom Vorstand daher doch ein wenig merkwürdig.

Christopher O´Connell brauchte eine Erklärung. Und dazu auch noch eine verdammt gute! Angestrengt versuchte er zu überlegen, während die Blicke auf ihm lasteten und Antworten forderten. Ok, was war die beste Verteidigung? Richtig, der Angriff! Sollten sie doch ruhig von Projekt ´Ares´ erfahren! Er musste ihnen ja nicht jede Kleinigkeit erzählen, aber was sollte die Firma denn ohne ´Ares´ machen? Mit der Herstellung herkömmlicher, alt bekannter Waffen konnte man nun mal kein Geld mehr verdienen! Das musste der Vorstand einsehen. Und früher oder später würden die gesetzlichen Bestimmungen gelockert, wenn nicht sogar gestrichen werden, die die Forschungen an ´Ares´ zurzeit noch verboten. Und überhaupt, ohne ihn und seinen Pioniergeist wäre die Firma doch schon längst im großen Einerlei des Waffenmarktes versunken. Erfolg in dieser Branche verlangte nach Risikobereitschaft. Ganz gleich, wie man moralisch oder politisch darüber dachte, wer nichts wagte, der war dem Untergang geweiht. Und Weicheier konnte man als Waffenhersteller nun mal nicht gebrauchen. Ob sie es wollten oder nicht, seine Kollegen mussten akzeptieren, dass das Wagnis, das ´Ares´ mit sich brachte, absolut erforderlich war. Außerdem winkte ihnen allen ein saftiger Gewinn, wenn das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden sollte. Und dazu musste alles getan werden, was nötig war.

O´Connell hatte die Forschungsanlage in Indien angesichts der jüngsten Ereignisse zusätzlich absichern lassen. Die Männer der Sicherheitsfirma Total Security, die die Platinenlieferung zum Labor hätten begleiten sollen, waren auch ohne die Fracht dorthin geschickt worden, um die Wachmannschaften vor Ort zu verstärken. Des Weiteren hatte er noch einmal mit dem DGSE-Mann Francois Durant telefoniert. Dieser hatte zu O´Connell´s Überraschung seine Mithilfe bei der Schadensbegrenzung zugesagt. Der französische Geheimdienst arbeitete fieberhaft daran, die für die Überfälle in Deutschland verantwortlichen Täter und ihre brisante Beute zu finden. Dabei setzte man offenbar auf eine vor wenigen Stunden erst wieder aufgetauchte Agentin, die undercover in Algerien gearbeitet hatte und bis vor kurzem verschwunden gewesen war. Angeblich konnte sie Hinweise über die Identität derjenigen liefern, mit denen es R&S zu tun hatte. Wenn dem so war, bestand vielleicht Hoffnung, den- oder diejenigen schneller zu finden als gedacht. Möglicherweise handelte es sich ja ganz einfach um zwar gewiefte, dennoch aber leicht zufrieden zu stellende Erpresser, die ihre Aktionen sofort einstellen würden, wenn man ihnen genug Geld gab. Dann wäre das Problem schnell gelöst. Irgendwie aber hatte O´Connell das Gefühl, dass dieser Gedanke zu einfach war. Hätte sich ein Erpresser nicht schon gemeldet, um seine Forderungen zu stellen? Und welcher Erpresser führte Aktionen wie die in Indien oder China aus? Wer hatte überhaupt die technische Ausrüstung dazu? Die Art und Weise, wie R&S angegriffen worden war, ließ eher die Vermutung zu, dass der Gegner weit mehr wollte als nur Geld, und dass er weitaus besser ausgerüstet und kampferprobter war, als es ein normaler Erpresser je sein könnte.

Das mulmige Gefühl im Bauch des R&S-Chefs saß tief, und es brannte sich wie ein zu schnell heruntergekippter Whiskey in seine Eingeweide. Die Probleme waren noch lange nicht gelöst, das fühlte er.


***


Kalkutta (Indien)


Der Einsatz würde kompliziert werden. GHOST hatte der bevorstehenden Operation den treffenden Namen ´Nussknacker´ gegeben. Dieser passte gut, denn der Bunker, in den die SHADOW-Kämpfer eindringen mussten, schien sich in der Tat als ziemlich harte Nuss zu erweisen. Als Anführer der Operation hatte er Michael Barber, alias WOLF bestimmt.

Der R&S-Bunker bestand hauptsächlich aus einer senkrecht in den Berg gebohrten Röhre, die im oberen Teil bis auf eine Tiefe von etwa zwanzig Meter mit Stahlbeton ausgekleidet war, um dem Bauwerk eine Art Fundament im Fundament zu verschaffen. Der Berg war nämlich in Bewegung. Im Laufe der Jahrtausende hatte er sich bereits mehrere Meter seitwärts bewegt, was zum Einen an der ständigen Verschiebung der Kontinentalplatten lag, zum Anderen tatsächlich durch den im Gebirge allgegenwärtigen Wind hervorgerufen wurde. Wie die Wanderdünen in der Wüste wurden auch die Berge vom Wind vorwärts bewegt. Zwar legte ein Berg wie dieser kaum mehr als vielleicht zehn Meter in Zehntausend Jahren zurück, aber immerhin. Unterhalb des Stahlbetons bestanden die Wände des Bunkers aus reinem Stahl. Somit hatte die Röhre ein Fundament, um sich mit dem Berg mit zu bewegen, besaß aber gleichzeitig genug Elastizität, um sich in ihrer Bewegung nicht zu verspannen.

Ray Cooper, genannt EAGLE, betrachtete ungläubig die beiden Zeichnungen, die WOLF vom Operationsgebiet angefertigt hatte. Eine der Zeichnungen zeigte die Lage des Bunkers und es daran grenzenden Bergsees inmitten der schneebedeckten Gipfel des Patkai, während die andere das Terrain rund um die alte Ruine direkt über der geheimen Anlage abbildete.

„Und wie sollen wir da rein kommen?“, fragte EAGLE nach einer Weile und blickte dabei ungläubig in die Runde. „Laut dem Ultraschallscan, den SHARK gemacht hat, bestehen die Bunkerwände doch aus mindestens fünfzehn Zoll dickem Stahl. Und drum herum ist noch der Felsen. Da wollt ihr durch?“

„Die Wand ist aus Stahlbeton! Jedenfalls auf den ersten zwanzig Metern Tiefe.“, bestätigte WOLF. „Darunter besteht sie aus reinem Chrom-Nickel-Stahl. Sechzehn komma fünf Zoll dick! Der Felsen ist aber in der Tat das größte Problem. Von der Seite kommen wir da nicht durch. Wohl aber von oben. Die oberste Decke des Bunkers liegt etwa zehn Meter unter der Erde. Über dem Deckel befindet sich eine Felsschicht. Die ist aber bedeutend dünner und auch in sich weicher, als der Felsen rund um die Bunkerwand. Ich schätze sie auf etwa zwei Meter Dicke. Darüber befindet sich gefrorenes Erdreich. Ich denke daher, dass wir am besten von oben in den Bunker einsteigen!“

„Oh man, das wird trotzdem haarig! Zwei Meter Felsen plus die Stahlbetonwand!“

„SNAKE hat spezielle Semtex-Schneidladungen vorbereitet“, erklärte SHARK. „Damit wird´s gehen! Ich werde gleichzeitig vom See aus einsteigen. Ich habe einen Turbinentunnel entdeckt, der vermutlich zur Stromversorgung des Bunkers im sechsten Stockwerk gehört. Von da aus kann ich vielleicht rein. Wenn ihr es also nicht von oben schafft, müsst ihr warten, bis ich euch die Tür von innen aus aufmache!“ Die SHADOW-Kämpferin grinste EAGLE gut gelaunt an.

„Na dann ist ja alles klar“, raunte dieser noch etwas skeptisch.

„Viel wichtiger als das Äußere ist das Innere des Bunkers“, meinte WOLF und holte eine weitere Zeichnung hervor, die er vor den Augen der anderen auseinander faltete. Sie zeigte in einer Schnittdarstellung den Aufbau des Bunkers selber und war als offizielle Bauzeichnung der US-Army abgestempelt.

„Man, wo hast du denn das alte Ding ausgegraben?“, wunderte sich EAGLE.

„Hat GHOST besorgt. War aber sicher nicht einfach zu bekommen. Der Bunker wurde schließlich nie offiziell als Army-Bunker geführt.“

„Ist die Zeichnung denn überhaupt noch aktuell?“, fragte SNAKE. „Ich meine, 1964 ist ´ne ganze Weile her. Und R&S hat doch sicher kräftig umgebaut!“

SHARK nickte zustimmend. „Wie es heute genau im Bunker aussieht, wissen wir tatsächlich nicht. Die Grundstruktur des Baus hat sich aber bestimmt nicht geändert. Die Treppen- und Aufzugsschächte sind dieselben wie früher und die grobe Raumaufteilung wird auch noch stimmen! R&S hat im untersten Stockwerk allerdings einen Kernreaktor nachrüsten lassen. Er versorgt die ganze Anlage mit Energie.“

„Oh, schön!“, kommentierte SNAKE. „Dann brechen wir also auch noch in eine Atomanlage ein! Wenn uns da mal nicht zu heiß unter´m Arsch wird!“

Der Bunker maß in der Tiefe gut fünfzig Meter und erstreckte sich über insgesamt zehn Stockwerke. Der Durchmesser der stählernen Röhre betrug achtundvierzig Meter. Von den einzelnen, kreisrunden Ebenen gingen in 90°-Abständen vier horizontal verlaufende Korridore ab, die in einen äußeren Rundgang mündeten, der einen Durchmesser von knapp neunzig Metern und eine Breite von vier Metern hatte. Insgesamt kam der Bunker somit auf eine Nutzfläche von über fünfundzwanzigtausend Quadratmeter. In der Vertikalen waren die Ebenen durch eine sich in der Mitte der Röhre befindende kleinere Röhre verbunden. Diese beherbergte einen großen Lastenaufzug, einen Personenaufzug und ein Treppenhaus. Der Lastenaufzug konnte direkt bis an die Oberfläche fahren, wo er durch ein ausgeklügeltes, hydraulisches System umgedreht und getarnt werden konnte. Die Unterseite der Aufzugsplattform sah einem gras- und moosbewachsenen Felsplateau täuschend ähnlich und konnte nur bei näherem Hinsehen vom übrigen Aussehen der Bergoberfläche unterschieden werden. Zur Sicherheit hatte man noch eine Felsschicht und eine Hausruine mit einem Zaun darum herum auf das künstliche Plateau gepackt. Niemend, der sich zufällig nach hier oben ins Patkai verirrte, würde auf die Idee kommen, der Untergrund wäre nicht echt. Das Treppenhaus des Bunkers konnte durch eine ebenfalls gut versteckte, und elektronisch gesicherte Luke im Felsboden unweit der Ruine erreicht werden. Der Personenaufzug dagegen reichte nicht bis an die Erdoberfläche, sondern nur bis ins oberste Stockwerk. Alles in allem glich der Bunker einem riesigen, zylinderförmigen Tresor, der im kalten Felsboden des Patkai versenkt worden war.

In der Anlage arbeiteten nach SHADOW-Schätzungen etwa einhundertfünfzig Personen. Die meisten davon waren Wissenschaftler beziehungsweise Techniker. Dazu kam das Wachpersonal, welches in Sachen Ausstattung und Ausbildung ohne Übertreibung als kleine Privatarmee bezeichnet werden konnte und zudem noch Unterstützung durch eine schwer bewaffnete Einheit der Sicherheitsfirma Total Security erhalten hatte

„War jemand von uns schon mal in der Anlage?“, fragte Lennox Devreaux, Codename SNAKE, in die Runde und erntete allgemeines Kopfschütteln.

„Na, großartig!“, fluchte Devreaux und biss sich nachdenklich auf die Lippen.

In der Tat beruhte Operation ´Nussknacker´ stark auf Vermutungen und Theorie, was für SHADOW-Verhältnisse ungewöhnlich war. Das Innere des Bunkers konnte nur erahnt werden. Ebenso die Qualität des Wachpersonals und der Fortschritt der Forschungen, die Raffelson & Svenson in SB-033 betrieb. Fakten waren rar. Nichts desto trotz war eine Infiltration des Bunkers unumgänglich, wenn man den unlauteren und gefährlichen Machenschaften von Raffelson & Svenson ein schnelles Ende setzten wollte.

„Das sind ´ne ganze Menge Stockwerke!“, stellte SNAKE mit einem Blick auf WOLF´s Karte nüchtern fest.

EAGLE klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Nur etwas mehr als in Saddam´s Präsidentenpalast! Ein Kinderspiel also!“

Die beiden SHADOW-Kämpfer hatten sich während ihres Irak-Einsatzes kennengelernt und zusammen an der Erstürmung des Diktator-Wohnsitzes teilgenommen. Der Einsatz hatte entgegen den damaligen Pressemeldungen hohe Verluste gefordert, und Ray Cooper, alias EAGLE, wäre um ein Haar ebenfalls dabei ums Leben gekommen. Lennox Devreaux hatte ihn gerettet, indem er einem gegnerischen Soldaten in allerletzter Sekunde eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Seither waren er und Ray dicke Freunde.

„Ach Jungs, euren Optimismus möchte ich haben!“ SHARK strich sich das blonde, lange Haar nach hinten, um es zu einem Pferdeschwanz zu binden. Mit einem amüsierten Kopfschütteln schaute sie die beiden Angesprochenen dabei an. Diese erwiderten das Lächeln. Auch SHARK kannten sie schon länger. Claire Mouraine war vor ihrer SHADOW-Rekrutierung in der militärischen Aufklärung für den französischen Geheimdienst tätig gewesen und hatte auch bei den Vorbereitungen für den Einsatz der Allierten im Irak mitgewirkt. Sie sprach allerdings sehr ungerne über dieses Thema, da die allgemein bekannte Lüge von Saddam´s Massenvernichtungswaffen auch von der DGSE mitgetragen worden war und Claire nach dem Krieg zur Quittierung des Dienstes bewegt hatte. Nie wieder wollte sie aus niederen, dreist erfundenen Gründen für irgendjemanden in den Krieg ziehen. Als sie dann von GHOST kontaktiert worden war, hatte sie nicht lange überlegen müssen. Ohne zu Zögern hatte sie ihrem alten Leben den Rücken zugekehrt und sich SHADOW angeschlossen. Mit ihren gerade einmal achtundzwanzig Jahren war sie eines der jüngsten Mitglieder. Den Respekt ihrer Kameraden hatte sie sich aber bereits nach kurzer Zeit verdient. Claire war ein Adrenalinjunkie sondergleichen und immer für waghalsige Missionen zu haben. Die Zerstörung des chinesischen U-Bootes war im Vergleich zu manch anderer Aktion, die sie schon durchgeführt hatte, noch relativ harmlos gewesen. An Einsatz- und Risikobereitschaft mangelte es der Französin also keineswegs.

„Optimismus hin oder her!“ raunte WOLF. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich für meinen Teil muss erst mal was Vernünftiges essen. Ich hab´ Hunger!“ Mit diesen Worten faltete er seine Zeichnungen wieder zusammen und zog seine Jacke über.

Auch den anderen knurrte der Magen. Immerhin saßen sie bereits seit Stunden zusammen, um die Einsatzpläne zu besprechen.

„Ich begleite dich“, meinte EAGLE und griff ebenfalls zu seiner Jacke.

Gemeinsam verließen die beiden Männer die Wohnung, um etwas zu Essen für die Gruppe aufzutreiben.


Die vier Mitglieder der „Gesellschaft der Schatten“ hatten ihr Quartier in einer unscheinbaren Siedlung der Außenbezirke Kalkuttas eingerichtet. Hier, in den Armutsvierteln der Millionenstadt konnten sie in aller Ruhe arbeiten, ohne von allzu neugierigen Menschen gestört zu werden. Hier kümmerte man sich nicht um andere, sondern nur um sich selbst. WOLF hatte unter falscher Identität eine geräumige, wenn auch recht heruntergekommene Wohnung angemietet, in der genug Platz für die vier und einige, sich noch auf der Anreise befindende Kameraden vorhanden war.

SHARK und WOLF hatten die Pionier-Einheit für Operation „Nussknacker“ gebildet. Sie waren bis gestern im Patkai-Gebirge gewesen, um die Infiltration des Bunkers vor Ort zu planen und die Gegend möglichst präzise zu erkunden. Sie hatten das Areal untersucht, erste Karten erstellt und mögliche Taktiken erarbeitet. Auch die Ankunft des Total Security-Teams hatten sie beobachtet. Anscheinend wähnte R&S das geheime Labor bereits in Gefahr und verstärkte die Sicherheitsmaßnahmen. Kurz nach ihrer Rückkehr nach Kalkutta waren SNAKE und EAGLE eingetroffen, um SHARK und WOLF bei der Ausarbeitung der Einsatzschemata und genauer Planungen zur Hand zu gehen. Jetzt warteten sie gemeinsam auf weitere Unterstützung, um in die letzte Vorbereitungsphase eintreten zu können. GHOST selber hatte sein Kommen ebenfalls zugesagt. Er würde die Missionsdaten und –pläne noch einmal überprüfen und dann absegnen. Einer der Räume in der Wohnung war zur Kommunikationszentrale umfunktioniert worden und platzte inzwischen nahezu vor Computerkonsolen und Monitoren. Von hier aus würde er die SHADOW-Kämpfer während ihres Einsatzes leiten und unterstützen.

Alle Zeichen standen auf Sturm, und das Wetter würde die passende Kulisse dazu liefern. Ein starker Südwestwind war angekündigt worden. Er würde die Ausläufer eines Gewittertiefs in das Einsatzgebiet bringen, welches sich zurzeit südlich des Gebirges befand, um Energie zu tanken. Kräftige Hagel- und sogar Schneestürme warteten darauf, über dem Patkai entladen zu werden. Zudem kündigten die Wetterkarten eisig kalte Temperaturen an. Die SHADOW-Kämpfer würden sich in dicke, wetterfeste Kleidung und schwere Bergstiefel packen müssen, um überhaupt unter diesen Bedingungen operieren zu können. Erschwerte Bedingungen also sowohl über, als auch unter der Erde.


***


CIA-Hauptquartier, Langley (USA)


Auf dem Schreibtisch des CIA-Direktors stapelten sich die Akten. Morrison selber sowie eine Handvoll seiner engsten Mitarbeiter wühlten sich seit Stunden durch die Papiere und suchten nach brauchbaren Informationen zu Raffelson & Svenson und zu den Angriffen auf die Waffenfirma. Jetzt, da sie etwas besser wussten, wo sie suchen mussten, wurden sie auch prompt fündig. So, wie es aussah, war die über Indien verschwundene Transportmaschine nicht die einzige von R&S beauftragte Lieferung in diese Region gewesen. Der Konzern hatte im Laufe der letzten Jahre mehrere Transporte von verschiedenen Technikkomponenten nach Indien geschickt. Empfänger waren jedes Mal die dort ansässigen US-Militärstützpunkte gewesen. Bei einer routinemäßigen Überprüfung der R&S-Handelsbilanzen mit der Army wären diese Lieferungen sicher nicht weiter ins Auge gefallen. Wenn man sich den Inhalt der Lieferungen jedoch genauer ansah und gleichzeitig wusste, welche Arten von Armeestützpunkten in Indien vorhanden waren, kamen einem so manche Dinge durchaus sonderbar vor. Viele der Lieferungen beinhalteten beispielsweise hochmoderne Elektronikteile für Waffensteuerungen und Antriebssysteme, die bei den in Indien ansässigen Army-Einheiten überhaupt nicht verwendet wurden. Auch ganze Waffensysteme waren verschickt worden, und die Adressaten waren allesamt militärische Einrichtungen der US-Army. Entsprechende Bestellungen seitens der Army waren allerdings nicht aufzufinden. Hinzu kam die Tatsache, dass all diese angeblich mit der Army getätigten Geschäfte über eine deutsche Versicherungsgesellschaft abgesichert worden waren, welche bei anderen Geschäften dieser Art, beispielsweise R&S-Lieferungen an Army-Einrichtungen im amerikanischen Inland, nicht involviert gewesen war. Der Name dieser Versicherung: M&T in Hamburg!

Die Vermutung lag nahe, dass Raffelson & Svenson mit ihren Lieferungen nach Indien nicht das amerikanische Militär bediente, sondern entweder den Schwarzmarkt oder sich selber. Für einen Schwarzmarkthandel wiederum war der von R&S betriebene Aufwand aber zu hoch. Es gab andere Mittel und Wege, seine Waffen an nicht authorisierte Käufer loszuwerden. Dazu musste man nicht über Indien gehen, sondern konnte beispielsweise aus den südamerikanischen Ländern oder den europäischen Ostblockstaaten heraus arbeiten. Warum also ausgerechnet Indien?


Ein Satellit des Lacrosse II - Projektes der NRO war vor wenigen Wochen bei einem routinemäßigen Scan der US-Army-Stützpunkte auf etwas sehr Interessantes gestoßen. In regelmäßigen Abständen kontrollierten die Satelliten nicht nur aktive Einrichtungen der Amerikaner im Ausland, sondern leisteten sich auch den Luxus, ehemalige, stillgelegte Objekte zu überfliegen und zu fotografieren. Dazu gehörten auch ehemalige Versorgungsbunker aus der Zeit des Vietnamkrieges und des Kalten Krieges. Damals hatten die USA in nahezu allen Teilen der Welt Nachschubeinrichtungen gegründet, um im Fall der Fälle eine schnelle Versorgung der Streitkräfte vor Ort zu gewährleisten. Der Bunker SB-033 im Patkai-Gebirge in Indien war eine dieser Einrichtungen gewesen. Nach dem Ende des Vietnamkrieges war er mehr oder weniger zu einem Müllplatz verkommen, in dem die Army allerlei nicht mehr zu gebrauchende Dinge verstaut hatte, der aber sonst nicht weiter genutzt worden war. Dann irgendwann war R&S gekommen und hatte den Bunker für einen lachhaften Preis gekauft. Morrison hatte davon bisher nichts gewusst, die Army verkaufte schließlich ständig nicht mehr benötigtes Material und überflüssige Immobilien. Der Bunker in Indien stellte allerdings eine Besonderheit dar. Schließlich lag er mitten in einem der unzugänglichsten Gebirge der Welt. Kein Mensch brauchte eine Einrichtung wie diese an so einem Ort. Schon der Bau des Bunkers 1964 war eine völlig hirnrissige Idee gewesen, und die Army hatte schnell gemerkt, dass sie bezüglich seiner Nutzbarkeit ziemlich daneben gelegen hatte und SB-033 im Grunde nichts weiter als reine Geldverschwendung gewesen war. Warum kaufte also eine Firma wie R&S eine solche Anlage? Ein Blick in die Personaldaten des Konzerns verriet dem CIA-Direktor, dass Raffelson & Svenson den Bunker nicht nur gekauft hatte, sondern offenbar auch einige der bestbezahlten Mitarbeiter im Laufe der letzten Jahre nach Indien versetzt worden waren. Damit war klar, dass SB-033 nicht länger als Lagerort diente, sondern allem Anschein nach für Forschungen genutzt wurde. Forschungen, die besonders geheim sein mussten, denn warum sonst sollte man sie in den rauhen Berge Nordindiens durchführen?

Der zufällige Scan des Areals durch den NRO-Satelliten hatte tatsächlich Aktivitäten an und in SB-033 gezeigt. Der Bunker war aufgrund der Tiefe, in der er lag, äußerst schwierig zu orten gewesen. Zwar waren die neuesten Spionage-Satelliten der USA dank einer ausgefeilten Infrarot-Technik inzwischen in der Lage, über einhundert Meter tief in die Erde hineinzuschauen, aber das Erdreich des Patkai-Gebirges bestand größtenteils aus solidem Fels, durch den selbst die stärkste Linse nicht hindurchsehen konnte. Dennoch hatte der Satellit den in knapp zehn Metern Tiefe liegenden und sich über fünfzig Meter nach unten ausdehnenden Bunker gefunden. Die Fotos davon lagen vor Ernest Morrison auf dem Schreibtisch. Als verschwommener, rötlich leuchtender Kreis war der Bau inmitten des kalten Gebirgsblaus darauf aber nur zu erahnen. Deutlicher zu sehen waren dagegen die zwei vor einer unscheinbaren Ruine stehenden Autos, die sich mit ihren durch die Anfahrt heißgelaufenen Motoren klar vom blauen Hintergrund abhoben. In jedem der Wagen waren drei Personen zu erkennen. Zwei von ihnen rauchten eine Zigarette. Anscheinend warteten sie auf irgendetwas. Morrison ergriff das zweite Foto des Satellitenüberfluges. Es war nicht wie das erste mit einer IR-Linse, sondern mit einer ultrahoch auflösenden Normalbildkamera aufgenommen worden und zeigte eine leicht pixelige Vergrößerung der beiden Autos. Es handelte sich um große Limousinen der Marke Peugeot. Ihre Auspuffe rauchten in der kalten Gebirgsluft. Die Motoren liefen also noch. Ein weiteres Foto zeigte Nahaufnahmen der eindeutig den französischen Regierungsbehörden zuzuordnenden Nummernschilder. Die CIA hatte den französischen Geheimdienst DGSE als Halter der Fahrzeuge im Verdacht.


Morrison ergriff einen Aktenordner, der neben seinem Schreibtisch stand. Er enthielt Computerausdrucke der Unterlagen, die bei dem Überfall auf die Sparkasse in Berlin gestohlen worden waren. Glücklicherweise betrieb die Bank ein redundantes Speichersystem, sodass man die gestohlenen Daten hatte reproduzieren können. Auch hier war die CIA auf allerlei Interessantes gestoßen. Ein Großteil der Unterlagen behandelte nämlich Bankgeschäfte mit Raffelson & Svenson. Morrison´s Experten waren die Akten im Detail durchgegangen und hatten dabei eigentlich keine Unregelmäßigkeiten oder Rechtsbrüche feststellen können. Eine Sache aber war den Kollegen dann doch aufgefallen. In einer Handvoll der besagten Papiere wurde indirekt die DGSE erwähnt. Morrison selber kannte genügend Decknamen für den Geheimdienst und einige davon fanden sich auch in den Bankakten wieder. Anscheinend waren die Franzosen irgendwie in die Geschäfte und Projekte von R&S involviert. Eines der am häufigsten genannten Projekte trug den mysteriösen Titel ´Ares´. Die Auswertung der Unterlagen der M&T-Versicherung hatte zudem Übereinstimmungen mit den in den Bankdokumenten verzeichneten R&S-Geschäften ergeben. Und auch hier waren an verschiedenen Stellen Kosenamen für den französischen Geheimdienst gefunden worden. Alles sprach für eine illegale Zusammenarbeit zwischen R&S, der M&T-Versicherung, der Berliner Sparkasse und der DGSE.

Müde und ratlos schaute Morrison auf seine Armbanduhr. Es war Zeit, nach Washington aufzubrechen, um den Präsidenten über die neuesten Erkenntnisse zu informieren. Mühsam schluckte der CIA-Direktor den Kloß in seinem Hals herunter. Dann erhob er sich und griff zu seinem Jacket.

„Susan?“

Morrison´s Sekretärin steckte fragend den Kopf zur Tür herein.

„Stellen Sie mir eine Akte mit allen R&S-Lieferungen nach Indien zusammen. Ich will eine Auflistung aller verschickten Güter mit genauen Bezeichnungen, Verwendungszweck und Lieferdatum. Des Weiteren brauche ich alles, was Sie über ein R&S-Projekt namens ´Ares´ finden können! Schicken Sie mir alles auf mein Notebook!“

Die Sekretärin nickte eifrig.

„Und Susan? Ich glaube, Sie mögen mich als ihren Chef, oder?“

Das Nicken wurde noch eifriger.

„Nun, wenn Sie mich morgen auch noch hier sitzen sehen wollen, sollten sie verdammt schnell arbeiten!“


***


Die Gesellschaft der Schatten

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