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Wie geht es weiter?
Der Jude und das Jenseits

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»Wenn einer einen Fuß amputiert bekommt, dann begraben wir zunächst gleich den Fuß. Und erst Jahre später den Rest des Körpers.«

Das klingt nach einem Ausschnitt aus einem Krimi von Simon Beckett oder Stieg Larsson, es ist aber Teil der jüdischen Begräbnisordnung.

Ich sitze im Verwaltungsgebäude des jüdischen Friedhofs beim Tor 4 des Wiener Zentralfriedhofs, Simmeringer Hauptstraße 244. Mir gegenüber, an seinem Schreibtisch, Chaim Tetruashvili, der Friedhofsleiter, ein frommer jüdischer Mann um die vierzig mit Bart und Kippa am Kopf. Ich höre gebannt seinen Schilderungen über jüdische Begräbnisse und das Leben nach dem Tod. »Männer müssen unbedingt eine Kopfbedeckung tragen«, steht mit weißer Schrift auf einer blauen Tafel am Eingangstor des Friedhofs. Da kann heute nichts falsch gemacht werden, ohne Haube frieren einem sowieso die Ohren ab. Ich weiß nicht, ob die Formulierung »saukalter Jännertag« koscher ist, aber anders kann ich es nicht ausdrücken.

Ich stelle Chaim Tetruashvili im Schutz des warmen Zimmers alle Fragen, die mir auf der Zunge liegen. »Stimmt es, dass Juden innerhalb von nur zwei Tagen beerdigt werden müssen?«

»Nein, wenn möglich wird das viel früher erledigt. Das Ziel ist, die Beerdigung so schnell wie möglich durchzuführen. Ein bis drei Stunden nach dem Tod. Am besten wäre es sogar, wenn jemand weiß, dass er stirbt, und sich gleich neben das Grab legt«, sagt Tetruashvili mit einem Schmunzeln. »Der Seele tut es einfach nicht gut, wenn die Beerdigung dauert. Daher dürfen Tote auch auf keinen Fall alleine sein, es muss immer jemand Totenwache halten.«

Dass es dafür im Judentum spezielle Regeln gibt, muss mir mittlerweile nicht mehr extra erzählt werden. Die Organisation eines jüdischen Begräbnisses übernimmt in Österreich nicht ein Bestattungsunternehmen, sondern die Israelitische Kultusgemeinde. Im sogenannten Tahara-Raum wird der Leichnam gewaschen. Tahara ist das Wort für Waschung. Danach kommt der oder die Tote in ein schlichtes Totengewand aus weißem Leinen. Der Sarg ist ein anspruchsloser Holzsarg, er soll auf keinen Fall prunkvoll ausfallen. Auch dadurch wird dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass vor Gott alle Toten gleich sind.

Wie das Begräbnis selbst abläuft, hat mir davor schon Jiri Schreiber, der hier am jüdischen Friedhof seit 1970 Steinmetz ist, in seiner Werkstatt erklärt. Es ist im Grunde dem christlichen Begräbnis sehr ähnlich, es gibt allerdings keine große Anzahl von Grabrednern. In der Aufbahrungshalle spricht lediglich ein Rabbi oder ein Oberkantor über das Leben des Verstorbenen. Danach begleitet die Trauergemeinde den Toten zu seinem Grab. Hier wird nicht wie im Christentum nur ein kleines Schäuflein Erde von den Angehörigen auf den Sarg geworfen, nein, das Grab wird von der Trauergemeinde gleich komplett zugeschüttet. Zu einer zweiten Zeremonie kommt es meistens ein knappes Jahr später, bei der Enthüllung des Grabsteins, sagt mir der Steinmetz. Die beiden hebräischen Zeichen für »Hier ruht« müssen dabei auf dem Grabstein sein. In vielen Fällen wird auch der Name des Verstorbenen auf Hebräisch in Stein gemeißelt. Auf meine Nachfrage, ob seine Arbeiter denn Hebräisch können müssen, lächelt der ältere Herr mit weißem Bart und sagt: »Nein, dafür gibt es zum Glück Schablonen.«

Die Frage des Begräbnisses wäre also geklärt, nun stelle ich aber Chaim Tetruashvili die entscheidenden Fragen jeder Religion: »Wie geht es nach dem Tod weiter? Wie sieht das Jenseits aus?« Der sympathische Friedhofsleiter gibt mir zu meiner Überraschung zunächst die einzig richtige Antwort auf solche Fragen: »Ich kann es nicht genau sagen, ich war ja noch nie dort.« Nach einem kurzen Lachen von uns beiden fährt er fort: »Der Tote kommt danach vor Gott, dort wird ihm das Leben noch einmal wie in einem Film vorgeführt. Nichts wird ausgelassen, weil Gott alles sieht und mitbekommt. Und nach diesem Film gibt es ein Gericht. Dort wird über gute und böse Taten geurteilt.«

Auf meine Nachfrage, ob es einen genauen Strafenkatalog gibt, wie zum Beispiel: ein Seitensprung bedeutet ein Jahr Hölle, bekomme ich zunächst ein Kopfschütteln als Antwort: »Wir wissen nicht genau, für welche Taten es welche Strafen gibt. Aber wir versuchen, hier auf Erden eben so gut wie möglich zu leben. Jeder hat seine schlechten Seiten, selbst ein Rabbi, und dafür müssen wir im Jenseits büßen. Aber wir glauben auch fest daran, dass schlussendlich jeder erlöst wird.«

»Und wie sieht es mit der Wiederauferstehung der Toten aus? Wann passiert die?«, frage ich. »Wenn der Messias kommt«, antwortet Chaim. »Allerdings ist es eine schwierige Frage, was mit denen passiert, die zu diesem Zeitpunkt leben. Dürfen die einfach so weiterleben, ohne vor ein Gericht zu kommen?«

Eines ist allerdings für die gläubigen Juden klar: Wenn der Messias kommt, dann wird er das wohl im gelobten Land Israel tun. Auch aus diesem Grund veranlassen viele, dass sie nach ihrem Tod nach Israel überstellt werden. Es gibt auch den Brauch, dem Toten einen kleinen Sack mit Erde aus Israel beizugeben.

Auf jeden Fall ist es gut, wenn der Tote im Falle einer Wiederauferstehung alle seine Knochen zusammen hat. Davon handelt auch die Geschichte der Amputation zu Beginn dieses Kapitels. »Es sind auch keine Tattoos erlaubt, da wir Juden unseren Körper nicht verletzen dürfen.«

»Daher gibt es auch kein Krematorium bei Ihnen, oder?«, frage ich weiter. Der Friedhofsleiter nickt und antwortet: »Das ist strengstens verboten bei uns.« Der Steinmetz, der mit mir ins Verwaltungsgebäude gekommen ist, schaut erstaunt aus seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe raus. Er dachte, das Verbot der Einäscherung hat mit dem so traurigen Kapitel unserer Geschichte und den Verbrennungen der Juden während der Naziherrschaft zu tun. Aber unter dem Aspekt der Wiederauferstehung bekommen diese unbeschreiblichen Gräueltaten noch eine weitere tragische Seite.

Ich bedanke mich bei Chaim Tetruashvili für das Gespräch, ich bin nun wieder ein Stück schlauer geworden. Für mich geht es zurück, raus in die Kälte, aber die Sätze und Ausführungen lassen mich so schnell nicht los. Sie begleiten mich beim anschließenden Sparziergang durch den jüdischen Friedhof mindestens ebenso wie die eisige Kälte. Letztendlich geht es am Ende immer um einen selbst. Könnte ich mit so einem Jenseits leben? Der Glaube daran fällt mir ehrlicherweise nicht leicht. Wenn ich die ganze Zeit nachdenken muss, ob das, was ich gerade tue, gut oder schlecht ist und welche Auswirkungen es im Jenseits auf mich haben könnte, dann stehe ich gedanklich sozusagen schon mit einem Bein im Grab. Manchmal passiert das im Judentum ja wortwörtlich.

Oh mein Gott!

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