Читать книгу Nachrichten aus der säkularen Welt / Credimus - Christian Thielscher - Страница 5
Ich glaube
Оглавлениеnicht, daß ich der erste war, der die Leiche gesehen hatte. An der Parkbank mußten vorher schon eine Menge Leute vorbeigekommen sein, der Weg ist gerade morgens ziemlich bevölkert. Ich war auf dem Weg zum Büro, so gegen halb acht, und da sah ich ihn, wie er so zusammengesunken auf der Bank hockte, mit seinem Joggingdreß, auf dem Kopf hatte er noch seinen Kopfhörer. Ich dachte erst, daß er schlafen würde, aber irgendwie paßte das doch nicht so recht, also sprach ich ihn an, und als er nicht antwortete, dachte ich mir, daß er wohl zusammengebrochen war.
Ich faßte seine Hand, die noch warm war, aber er zeigte keine Reaktion. Ich denke, er war so um die Fünfzig. Ich überlegte, daß ich jetzt mit Erster Hilfe anfangen müßte, mir fielen ein paar Versatzstücke aus der Führerscheinprüfung ein, aber die Vorstellung, mit der Atemspende bei einem zu beginnen, der möglicherweise schon längst tot war, behagte mir nicht. Er war auch ziemlich verschwitzt. Ich entschied, daß ich ihm mit meinen Maßnahmen möglicherweise mehr schaden als nützen würde und ließ es bleiben. Statt dessen rannte ich zu einer Telefonzelle und rief den Notarzt. Danach ging ich wieder zurück.
Auf dem Kopf hatte er, wie gesagt, noch seinen Walkman. Ich glaube, es gibt da so einen Terminus technicus für diese Kopfhörer, »offen« oder so, man konnte die Musik ganz gut hören, wenn man vor ihm stand. Es war die Titelmelodie aus diesem Boxerfilm, mit viel Kawumm, und dann singt ein Chor: »gonna fly, now«. Mir fiel sofort die »Anbetung des Kindes« von Stephan Lochner ein.
Diese Tafelmalerei der Gotik, Tempera auf Holz: diese sanften und zarten Gesichter, die stilisierte Jugend, der dünne Hals mit der langen Nackenlinie, die warmen und kostbaren Farben, diese holdselige Anmut und harmonische Ruhe der Madonna. Ich meine, die Künstler hatten sich ja etwas dabei gedacht, was sie da malten, es ging um Erbauung, um Mystik, der Betrachter sollte in eine religiöse Stimmung kommen. Ich hatte immer schon das Gefühl gehabt, daß da irgendwas nicht stimmt. Es kann nicht richtig sein, wenn ein reicher Bürger sich ein Bild bestellt und bekommt, vor dem er dann so richtig kontemplativ sein kann, weil der Maler das so geschickt vorausberechnet hat. Heiligenbilder hatte es ja vorher auch schon gegeben, und neu war nur die Technik. Vorher, im Mittelalter, da sah man den Figuren noch an, was sie einem sagen wollten. Hintenherum, das war eine Erfindung der Gotik.
Es war schon merkwürdig, wie ich dieses Lied hörte. »Gonna fly, now«, diese typische Joggermusik, die ja auch ziemlich gut berechnet ist mit den schmetternden Trompeten und den hohen Frauenstimmen: Los, leg' noch was zu, und dann fliegst du!, man kann sich dem kaum entziehen. Und als ich vor ihm stand, da wußte ich nicht, ob diese Stimmen seine Seele begleiteten, die gerade in den Himmel sprang, oder ob es ein zynischer Abgesang auf einen Jogger war, der sich selbst überschätzt hatte. Ich dachte an Stephan Lochner, wie er in seiner Werkstatt arbeitete, und seinen Lehrling anmeckerte, weil er schon wieder nicht genug Rot in die Farbe für Marias Haare gemischt hatte: rot, rot ist die Farbe, von der den Betern schwummerig wird, wann begreifst du das endlich?!
Der Notarzt kam, fragte mich, ob ich den Mann kenne, und wie lange er schon so da säße. Dann faßte er ihm kurz an den Hals, leuchtete ihm ins Auge, murmelte etwas zu dem Sanitäter, sie schoben den Mann in den Rettungswagen und fuhren nach etwa fünf Minuten ohne Blaulicht ab. Ich ging ins Büro, und ich dachte etwas von frühem Mittelalter, von der Wiederentdeckung des Menschen in der Renaissance und von Lüge.