Читать книгу Freunde, Feinde, Parteifreunde - Christian Toepffer - Страница 5
1. Träume
ОглавлениеZusammen mit einigen anderen Ordonnanzen hält er sich mühsam wach. Endlich entsteht Unruhe, das Essen soll aufgetragen werden. Seine Mutter bringt eine Schüssel voller Ravioli aus der Osteria. Er nimmt sie ihr ab und trägt sie in den Speisesaal. Hitler, Bormann, Speer und einige andere kommen herein. Den ersten Teller füllt er reichlich bis zum Rand und bringt ihn zu Hitler. Der fängt gleich an zu essen, ohne auf die anderen zu warten. Hitler lädt sich seinen Löffel zu voll, eine Ravioli fällt zurück auf den Teller. Hitler schiebt den Löffel in den Mund, wobei etwas Sauce an seinem Schnauzer hängen bleibt. Dann kaut er schnell, schmatzt dabei hörbar und schluckt schließlich. Die vorher müden Augen leuchten auf, er nimmt seine Serviette, wischt den Saucenfleck vom Bart und ruft: „Verführerisch! Bormann, holen Sie die Köchin herein!“ Bormann schiebt die Mutter, seine Hand auf ihrem Po, in den Speisesaal, sie bleiben vor Hitler stehen. „Meine Figur! Sie dürfen nicht vergessen, dass der Führer nicht essen kann, was er möchte.“ „Mein Führer!“ bellt Bormann, „Sie können ihr gratulieren, sie hat sich gerade mit unserem Scharführer Peter Wegner verlobt.“
Das kann nicht wahr sein, er kann sich doch nicht mit seiner eigenen Mutter verloben. Peter Wegner schreckt aus einem unruhigen Schlaf auf. Selber erlebt hatte er das alles nicht, aber in dieser oder ganz ähnlichen Rollen am Hof des Führers hatte er sich in seinen Träumen – oder waren es Albträume? schon öfter gesehen. Vermutlich, wenn er sich bedroht fühlte, und besonders dann, wenn er das Gefühl hatte, irgendwelche Heckenschützen könnten irgendetwas gegen ihn im Schilde führen.
Der Wecker hat noch nicht geklingelt, er fällt zurück in eine Art Halbschlaf. Der wird gestört durch einen empfindlichen Zahn, der eigentlich nur noch ein halber ist. Er hofft, dass die Schmerzen erträglich bleiben, vor dem Abend wird er es wohl kaum zu Annette in die Zahnklinik schaffen können. Er fühlt sich bei ihr gut aufgehoben, sie würde ihr Bestes für ihn tun. Falls sie verhindert sein sollte, gibt es ja noch ihre Assistentinnen, aber denen traut er weniger.
Als Annette einmal im Urlaub war, schalt ihn ihre Vertreterin, sein Gebiss sei sehr abgenutzt, ob er wohl oft mit den Zähnen knirsche? „Mir wurde gesagt, man müsse die Zähne zusammenbeißen, wenn man Probleme habe.“ „Aber Sie sind doch ganz oben angekommen, was für Probleme haben Sie denn?“ Die junge, sehr gut aussehende Dame erlaubte sich wohl, ein wenig vorlaut zu sein. Da noch ein anderer Patient wartete, entschied er sich, das als rhetorische Frage zu behandeln, die nicht beantwortet werden musste.
Soll er inzwischen ein Schmerzmittel nehmen? Etwas sträubt sich in ihm: Seit frühester Kindheit war ihm eingebläut worden, Schmerzen seien eine natürliche Abwehr eines gesunden Körpers gegen eine Krankheit oder eine Wunde. Natürlich war er auch dazu angehalten worden, sich die Zähne ordentlich zu putzen. Wenn er das nur früher gründlicher gemacht hätte, zumindest bei dem einen ist es nun möglicherweise zu spät. Annette fühlte sich damals herausgefordert, wollte den halben Zahn retten, was ihr auch gelang, allerdings Geduld und viele Sitzungen erfordert hatte. Er habe doch wohl eine elektrische Bürste? Gründlich damit auf und ab rütteln müsse er. Das Zahnfleisch blute? Zu der Entzündung werde eben reichlich Blut transportiert. Zur Desinfektion solle er oft mit Mundwasser spülen, eine dreiprozentige Lösung von Wasserstoffsuperoxid tue es eigentlich auch und sei billiger. Sollte das eine zarte Anspielung auf die von der Politik geforderte Kostendämpfung im Gesundheitswesen gewesen sein? Hauptsache sei, dass er Acht gebe, die Aussichten seien nicht schlecht, er scheine das Immunsystem eines Stiers zu haben. Das war lieb gesagt und auch sicher so gemeint. Sie hatte ihn dabei angelächelt, ihr eigenes Gebiss schien makellos. In ihrer Jugend war sie auch, aber nicht nur, wegen ihrer Zahnspange geneckt worden. Bei seinem letzten Termin, es war kurz nach seinem Geburtstag, hatte ihm Annette einen neuartigen Apparat geschenkt, der die Zähne mit Ultraschall putzte. Zu Hause hatte er vorsichtshalber nur erwähnt, dass Annette ihm den Apparat empfohlen habe, trotzdem hatte Silke ein wenig gezickt. „Die Zahnärzte schlafen zu lange, es wird mal Zeit, dass sie Innovationen zur Kenntnis nehmen, meinen Schmuck reinige ich schon seit langem mit Ultraschall. Aber irgendwie passt dieser Apparat so richtig zu deiner Zahnfee, die hatte ja schon auf der Schule so eine keimfreie Ausstrahlung. Angeblich hat sie sich nach jedem Kuss den Mund ausgespült. Aber das habe ich nie geglaubt, die hat wahrscheinlich überhaupt keiner geküsst .“
Wegner entscheidet sich erst einmal gegen ein Mittel. Das könnte ihn lähmen, seine Schlagfertigkeit herabsetzen, was er heute Morgen überhaupt nicht gebrauchen kann, denn er wird in der Frühstückssendung des Fernsehens interviewt werden. Da muss er hochkonzentriert, aufmerksam und umsichtig sein und dabei auch noch unarrogant entspannt, ein wenig witzig und, wie man jetzt sagt, authentisch wirken.
Auf dem Johanneum hatte Wegner Griechisch gehabt. Er erinnert sich, authentikos heißt so etwas wie echt, verbürgt, zuverlässig, glaubwürdig. Aber: Muss man so sein, oder werden einem solche Eigenschaften zugeschrieben? Um ganz sicher zu sein, hatte er neulich das Wort im Lexikon seiner Sekretärin nachgeschlagen: Da war die Rede von Rousseaus volonté générale, ein Politiker sei authentisch, wenn er den vertritt. Aber was wünscht das Wahlvolk außer Friede, Freude, Eierkuchen? Für zuverlässig wird man gehalten, echt muss man sein. Und wer bürgt für die Glaubwürdigkeit? Die Medien. Also, wie auch immer, er wird heute Morgen ein authentisches Bild von sich und seiner Politik entwerfen müssen.
Neben dem Rasierspiegel liegt noch ein großer Vorrat Doppelklingen, den die Haushälterin vor einiger Zeit auf seinen Wunsch hin gekauft hatte. Kurz darauf hatte er den Rasierer irgendwo liegen gelassen. Die Haushälterin behauptete, dieses Modell sei nicht mehr zu kriegen. Er rasierte sich einige Tage elektrisch, was ihn nicht befriedigte. Als sie gerade einmal nicht unter Termindruck waren, bat er seinen Fahrer, an einem Drogeriemarkt anzuhalten, er wollte sich selber darum kümmern. In der Tat gab es nur noch die Doppelklingen, aber keine Rasierer mehr dazu. Stattdessen gab es vermutlich teurere Apparate mit drei- oder gar fünffacher Klinge. Da war nichts zu machen, er fühlte sich abgezockt, aber es blieb nichts anderes übrig, als den Ärger hinunterzuschlucken. Er kaufte ein Modell Royal Magic und fragte sich, wie wohl solche Produktnamen entstehen. Beliefern die etwa die Royals?
Vor drei Jahren hatte er den Chef des früher hier regierenden Hauses kennen gelernt. Das Land wollte für einen Industriepark ein Grundstück von ihm, aber er wollte nicht verkaufen. Bei irgendeiner Festveranstaltung kam Wegner mit ihm ins Gespräch. Der Prinz berief sich auf ein ungeschriebenes, aber für die Familie verbindliches Gesetz, keine Immobilien zu veräußern. Es fiel Wegner nicht schwer, das zu verstehen. Seine Eltern hatten nach dem Krieg günstig Trümmergrundstücke kaufen können; das wurde die Grundlage der Geschäfte, die inzwischen seine Geschwister übernommen haben. Silkes Vermögen und seine eigenen Ersparnisse waren in Staatsanleihen angelegt, um irgendwelche Verdächtigungen wegen Vorteilsnahme oder Begünstigungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Der Ertrag nach Steuern lag inzwischen unter der Inflationsrate. Der Wunsch des Prinzen, mit Immobilien sein Familienvermögen zu erhalten, war nachvollziehbar.
Trotzdem musste man weiterkommen. Peter Wegner regte an, gemeinsam über einen Tausch nachzudenken. Es fand sich ein ehemaliger Truppenübungsplatz, der dem Prinzen gefallen sollte, weil er an Wälder grenzte, die ihm ohnehin schon gehörten. Die Einzelheiten regelten dann auf Seiten des Landes die zuständigen Ministerien. Es waren mehrere: Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft und Umwelt. Die Verhandlungen verliefen entsprechend zäh. Als der Vertrag schließlich fertig war, zeterte die Opposition. Die ganz Linken hätten den Prinzen am liebsten enteignet, in den Augen von Ökologen war der Truppenübungsplatz ein wertvolles Biotop, das am besten zu schützen sei, indem es nicht betreten werden dürfe. Andere empörten sich über die zu erwartenden sadistischen Jagdrituale des überlebten Feudaladels, dessen Besitzungen für die Erholung des Volkes geöffnet werden müssten. Da sich die Proteste gegenseitig neutralisierten, kam es schließlich doch noch zu einem Abschluss.
Vor einigen Wochen waren dann die Wegners zur Hochzeit einer Prinzentochter eingeladen worden. Nicht ganz Wegners Kreise, die Hocharistokratie, aber der Prinz fand einen skandinavischen Adligen füt ihn, mit dem er sich gut über das Rudern unterhalten konnte. Wegner fragte sich, ob ihm wohl einmal die Annahme dieser Einladung als Vorteilsnahme ausgelegt werden könnte. Wie wäre etwa Silkes Glück zu bewerten? Sie behauptete, sich blendend mit den Damen verstanden zu haben.
Um sich zu sammeln, geht er in sein Arbeitszimmer, legt eine CD ein und hört Händels B-Dur Harfenkonzert. Silke schläft noch in ihrem Zimmer, sie war wohl erst spät von der Versammlung einer Stiftung, die Geld für etwas Gutes sammelte, zurückgekommen. Er hat vergessen, um was es sich genau handelte und glaubt auch nicht, dass er das wissen und mit ihr darüber reden muss. Umso dankbarer ist er , dass sie ihm den Rücken freihält. Sie erledigt solche Pflichten sogar gerne und deswegen wohl auch gut.
Da er allein ist, kann er beim Frühstück einen Blick in die Lokalzeitung werfen, die für Silke abonniert worden ist. Selber liest er kaum Zeitungen, dafür hat er seine Presseleute. Er holt die Zeitung und geht in die Küche. Müsli und schwarzer Kaffee sind schon am Vortag von der Haushälterin vorbereitet worden. Die Schlagzeile wird von der Eintracht geliefert, der Traditionsverein steht vor dem Abstieg und damit nicht nur vor dem sportlichen Bankrott. Obwohl über Jahre hinweg für viele Millionen immer wieder neue Spieler eingekauft worden waren, bleibt die Eintracht in der unteren Hälfte der Tabelle hängen. Die Stadtsparkasse hatte sich für weitere Kredite das Stadion verpfänden lassen und als das nicht mehr reichte, sollte die Stadt einspringen. Die ist natürlich selber überschuldet, man hätte die Förderung des Breitensports weiter einschränken müssen. Die Sportvereine toben, während die Unterstützer der Eintracht auf die Gelder verweisen, die die Besucher von auswärts in der Stadt lassen und überhaupt sei es für das Ansehen einer Landeshauptstadt unerlässlich, einen Verein in der Bundesliga zu haben. Die Stadt hatte das zum Anlass genommen, den Schwarzen Peter weiter zu reichen und das Land in die Pflicht zu nehmen. Das hatte er abschmettern können, hatte doch die Eintracht im Land noch einen erfolgreicheren Rivalen, das Land musste unparteiisch bleiben und durfte nicht einen der beiden Vereine bevorzugen. Schließlich hatte die Stadt das Stadion der Eintracht für einen sehr freundschaftlichen Preis abgekauft; er mochte lieber nicht wissen, wie der zustande gekommen war. Nach Tilgung der Schulden war der Eintracht noch etwas übrig geblieben, und offensichtlich – in diesem Fall neigt er dazu, den Medien zu vertrauen – wieder vergeudet worden. Also würde da demnächst wieder etwas auf ihn zukommen.
Dann fällt ihm noch der Untertitel eines Artikels über die Landesbühne auf: Frau Wittrock gehöre zu den besten Regisseuren Deutschlands. Das klingt erfreulich, also kann er darauf verzichten, das näher zu lesen, inzwischen beginnt die Zeit zu drängen. Aber ist das korrekt formuliert, zu den besten Regisseuren? Als junger Referendar hatte er es bei einem Notar durchgesetzt, dass in Kaufverträgen einzelne Frauen auch so genannt wurden, also die Käuferin und nicht der Käufer. Inzwischen muss er sich in seinen Reden (und, um es ja nie falsch zu sagen, auch in seinen Gesprächen) zu Zungenbrechern wie Bürgerinnen und Bürger zwingen. Also hier: zu den besten Regisseurinnen? Kann als abwertende Ironie aufgefasst werden. Also doch: zu den besten Regisseurinnen und Regisseuren Deutschlands? Oder, nachdem aus den Studentinnen und Studenten Studierende geworden waren, zu den besten Regierenden, und das natürlich französisch weich ausgesprochen. Seine Laune bessert sich.
Zur vereinbarten Zeit fährt der Dienstwagen vor, sein Pressesprecher sitzt schon drin, er wirkt unruhig. „ Guten Morgen, Mike, was gibt es?“ „ Hast du denn noch nichts davon gehört? Seit einer Stunde wird der Verlag und die Redaktion des Brennpunkts auf Anordnung der Staatsanwaltschaft durchsucht. Angeblich dringender Verdacht auf finanzielle Unregelmäßigkeiten, Steuerhinterziehung, Schwarzgeld in der Schweiz, weißt du irgendwas davon? Wie und warum auch immer, es wird ein Erdbeben geben, die Medien werden toben, für die heutigen Zeitungen ist es natürlich zu spät, umso mehr wird sich das Fernsehen ins Zeug legen. Die Wüllner wird sich eine solche Steilvorlage nicht entgehen lassen, und mutige Journalistin im Antlitz der Macht spielen.“
Im Grunde seines Herzens hasst Peter Wegner Journalisten, aber das darf er natürlich nicht zeigen. Er bezweifelt auch manchmal, ob seine schauspielerischen Fähigkeiten ausreichten, einen für Politiker notwendigen unbefangenen Umgang mit den Medien wenigstens vorzutäuschen. Ohne Mike hätte er das nicht schaffen können. Privat duzen sie sich, in der Öffentlichkeit reden sie sich mit Herr Ministerpräsident bzw. Herr Richter an. Mike Richter ist ungewöhnlich breit gebildet. Er hatte zunächst Geschichte und Philosophie studiert und sich dann aus Bildungshunger noch mit Natur- und Wirtschaftswissenschaften beschäftigt. Nur in seltenen Fällen kann er Fragen nicht gleich beantworten, aber dann weiß er wenigstens, wo man weiter nachforschen muss. Dazu ist er klug, umsichtig, hört das Gras wachsen und kann sich gut in Andere einfühlen.
Für eine erfolgreiche Karriere in der Politik ist die Fähigkeit unerlässlich, auftretende Probleme richtig einzuordnen: Da gibt es welche, die sich von selber erledigen werden, wenn man sich zurückhält, keine unnötige Aufmerksamkeit erregt und die Dinge laufen lässt. „Nicht einmal ignorieren.“ In anderen Fällen muss sofort entschlossen gehandelt werden, um zu verhindern, dass ein noch operables Geschwür krebsartig zu wuchern beginnt. Wegner ist überzeugt, das ganz gut zu beherrschen, aber es kann nie schaden, sich von jemandem beraten zu lassen, dem man vertraut. Manchmal fragt er sich, warum Mike Richter seine Talente als Pressesprecher verschwendet, anstatt selber aktiv in die Politik zu gehen. Aber er ist wohl eher ein Betrachter als ein Macher, ihm fehlen die Ellenbogen. Deswegen hatte er sich auch als Chef des Feuilletons innerhalb der Redaktion des Tageblatts nicht durchsetzen können und hatte das Angebot angenommen, Wegners Pressesprecher zu werden. Weil er freundlich ist, traut man ihm nichts Böses zu und richtige Feinde hat er keine. Gerade das macht ihn wertvoll.
„Überraschungen am frühen Morgen, das fehlt noch. Aber ich weiß wirklich nichts von dieser Aktion gegen den Brennpunkt. Muss ich doch auch nicht, darf ich doch sogar nicht, die Justiz ist doch unabhängig.“ „Und wenn die Staatsanwaltschaft eine Weisung aus dem Justizministerium erhalten hat?“ „Nicht unwahrscheinlich, wenn es um heikle Angelegenheiten geht, die die Pressefreiheit berühren, könnte man sich zumindest um Rückversicherung bemüht haben. Bei mir aber jedenfalls nicht.“ „Du wirst also auf die Unabhängigkeit der Justiz verweisen, die ja auch sicher bald eine Erklärung abgeben wird.“ „Genau so, wir können nur hoffen, dass die wirklich etwas Belastendes beim Brennpunkt finden. Hast du irgendeine Ahnung um was es sich handeln könnte?“ „Schwarzgeld, Steuerbetrug, keine Ahnung, das ist doch eher was für Buchhalter. Ich hätte eher vermutet, dass es um etwas Journalistisches geht. Der Brennpunkt weiß fürchterlich viel, ich kann mir vorstellen, dass die in Behörden und sogar bei der Polizei schmieren.“ „Umgekehrt geht es doch leider auch, wenn eitle Staatsanwälte das Fernsehen zu Hausdurchsuchungen einladen.“
In dem vor einigen Tagen vereinbarten Interview soll es um das EWERK gehen, den größten Stromversorger im Land. Eigentümer sind seit langem zu etwa je einem Fünftel zwei Energiekonzerne, die Nordstrom und die Elektra, sowie das Land mit einer Sperrminorität von einem Viertel plus einer Aktie, der Rest, etwa ein Drittel, befindet sich in Streubesitz. Im Aufsichtsrat wird das Land von Peter Wegner als Ministerpräsident und von der Wirtschaftsministerin vertreten, für die Nordstrom und die Elektra treten als starke Männer deren Vorstandsvorsitzende Wiedemann und Plech auf. Die Besitzverhältnisse waren seit Jahrzehnten unverändert, der Gewinn und die Dividende stabil, was auch kaum anders sein kann, weil das EWERK im Land und in angrenzenden Gebieten trotz aller europäischen Regeln immer noch ein Monopol hat. Die Aktie war ein typisches Witwen- und Waisenpapier, bis sich seit einigen Wochen Auffälligkeiten zeigten. Gerade an schwachen Börsentagen waren EWERK- Aktien gesucht, was auf einen strategischen Käufer deutete. Die Nordstrom hatte sich sehr mutig nach Osten ausgedehnt und dabei beträchtliche Bankschulden aufgehäuft. Die Elektra könnte das ausnutzen, um die Mehrheit beim EWERK zu erwerben. Aber dann wären sie spätestens zu einer Mitteilung verpflichtet, sobald sie 30% des Aktienkapitals kontrollierten. Damit hätten sie ihre Absichten offengelegt und es würde für sie teuer werden. Irgendwann sickerte dann etwas durch: Es gibt möglicherweise eine Lücke im Gesetz, die es der Elektra ermöglicht, sich anzuschleichen. Sie erwarben keine Aktien oder Optionen auf den späteren Kauf von Aktien, sondern sie vereinbarten mit Banken ein Geschäft mit Barausgleich, das durch Aktien abgesichert wurde. Als sich das verbreitete, nährten wilde Spekulationen ein Kursfeuerwerk. Da gab es die Mitläufer, die auf steigende Kurse wetteten und die ganz Schlauen, die darauf setzten, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen und es irgendwann einen Kurssturz geben müsse.
Mike liest eine E-Mail, die er gerade erhalten hatte. „Ein Freund, Banker, bestätigt, dass sich Plech von der Elektra anschleicht. Die sichern sich alles, was sie von den freien Aktionären kriegen können. Wenn sie die Mehrheit haben oder sogar schon vorher, werden sie der Nordstrom ein Angebot machen, das die wegen ihrer Schulden kaum ablehnen werden können. Und dann stehst du allein da, kannst dich nur noch auf deine Sperrminorität stützen.“ „So hatten wir es ja auch schon vermutet.“
Der Wagen hält an einer roten Ampel, die den Verkehr an einer Baustelle regelt. In der Nähe steht eine überfüllte Abfalltonne umgeben von allerlei losem Müll. Immerhin haben die Leute ihren Abfall nicht einfach in die Gegend, sondern wenigstens in die Nähe der Mülltonne geworfen, ein kleiner Beitrag zur Ordnung. Peter Wegner erinnert sich an einen Vortrag, den er kürzlich auf einer akademischen Feier zur Eröffnung einer wissenschaftlichen Tagung gehört hatte. Es ging um Entropie; aus seiner Schulzeit hatte er eine dunkle Erinnerung an einen Zusammenhang mit dem Wirkungsgrad von Dampfmaschinen. Es gab einen Hauptsatz, nach dem man Wärme nicht vollständig in Arbeit umwandeln kann. Physik war nie seine Stärke gewesen, aber es handelte sich um einen Pflichttermin. Zu seiner Überraschung fesselte ihn der Vortrag. Entropie war ein Maß für Unordnung und sie konnte nie abnehmen. Denn unordentliche Zustände waren wahrscheinlicher als ordentliche. Das leuchtete ein. Aber galten solche physikalischen Gesetze auch für die belebte Natur? Auch der lagen physikalische Prozesse zugrunde, trotzdem gab es geordnete Strukturen, im Verlauf der Evolution hatten sich die Lebewesen differenziert.
Auf wessen Kosten waren die Vielfalt der lebendigen Natur entstanden, oder gab es gar eine göttliche, ordnende Hand, die dem Hauptsatz nicht unterworfen war? Oder hatten Philosophen wie Plato oder Spengler recht, wenn sie eine deterministische Entwicklung der Gesellschaft hin zur Dekadenz behaupteten? Peter Wegner neigte da eher zu Popper, der die Verantwortung des vernünftigen Individuums betonte. Den Spenglerschen Untergang des Abendlandes hatte er schon in der Oberprima nach den ersten Kapiteln nicht mehr weiter lesen können, der angestrengt bedeutungsschwere Stil sollte wohl eine Tiefe andeuten, die sich ihm nicht erschloss; er vermutete, dass der Autor vielleicht unter chronischer Verstopfung gelitten hatte.
Wegner hätte dem Redner gerne einige Fragen gestellt, aber es gab, wie bei Festveranstaltungen üblich, keine Diskussion nach dem Vortrag. Und er wusste, dass sein Wissen nur angelesen war, meist nur aus der Sekundärliteratur. Da konnte man sich nur zu leicht selber bloßstellen und machte sich zur Zielscheibe des Spotts der politischen Konkurrenten und, schlimmer noch, der besonders verletzenden Häme des Feuilletons. Zu einem privaten Gespräch mit dem Redner hatte er wegen seiner nächsten Verpflichtung keine Zeit mehr. Abgesehen von den unbeantworteten Fragen zur Weltanschauung nahm er aber doch eine praktische Anregung mit: Der Redner hatte vorgeschlagen, das Anwachsen der Entropie, d.h. also der Unordnung zu besteuern, weil dieser Anstieg lebensfeindlich sei. Das hätte Popper gefallen können, klang konstruktiv und rechtfertigte Ökosteuern.
Annette kümmert sich nicht nur um seine Zähne, sondern er kann mit ihr auch über solche eher naturwissenschaftliche Fragen reden. „Aus dem Hauptsatz folgt auch, dass, lose gesprochen, die Bäume nicht in den Himmel wachsen“, hatte sie gesagt. „ Also, wenn du einem Körper Energie zuführst, was passiert dann?“ „ Er wird wärmer.“ „Richtig, seine Temperatur steigt, und was dann?“ „Ich schätze, er kühlt durch Abgabe von Energie an seine Umgebung wieder ab.“ „Genau. Man kann das auch allgemein formulieren: Jeder äußere Zwang führt zu Vorgängen, die sich ihrer Ursache, nämlich diesem Zwang widersetzen.“ „Das kommt mir bekannt vor. Wenn wir, um die Leute weniger zu gängeln, die Bürokratie abbauen, gibt es bald irgendwelche Missbräuche, die dann wieder eine Regulierung erfordern. Im Grunde bewegt sich die Politik in genau diesem Spannungsfeld. Aber natürlich gibt es verschiedene Meinungen darüber, welche Zwänge wesentlich sind.“
So klug Annette ist und so selbstsicher sie erscheint, so sehr hat sie ihn durch ihre Ängste überrascht; Wegner erinnert sich plötzlich an ihren Alptraum von der unumkehrbaren Ausbreitung der Atome aus dem Zahngold der ermordeten Juden.
Zum Studio ist es nicht mehr weit, er darf sich nicht weiter ablenken, vor allem nicht mit quälenden Gedanken. In dem Interview mit der Wüllner muss er unangestrengt überlegen wirken, Ruhe ausstrahlen. Dabei beunruhigen ihn die Vorgänge auf dem Strommarkt. Er glaubt an die Marktwirtschaft, die Industrie beschafft sich ihr Kapital von den Anlegern und die bekommen dafür eine Dividende und steigende Kurse, wenn die Geschäfte gut laufen. Aber manchen ist das wohl zu langweilig, man provoziert Unruhe und hofft, daran zu verdienen. Wenn die Nordstrom von ihrer Ausdehnung nach Osten überzeugt gewesen wäre, hätte sie doch besser frisches Kapital am Markt aufgenommen, statt sich zu verschulden. Inzwischen spekulieren alle gegen alle, er muss versuchen, das Land herauszuhalten.